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Humanembryologische Schnittseriensammlungen um 1900 am Beispiel der Marburger Gasser-Strahl’schen Sammlung

von Caroline Maria Stiel (Autor:in)
©2023 Dissertation 264 Seiten

Zusammenfassung

Bei der Gasser-Strahl’schen Sammlung handelt es sich um eine humanembryologische Schnittseriensammlung, die um 1900 am Marburger Anatomischen Institut angelegt wurde. Angesichts ihres beeindruckenden Umfangs sowie der hohen Qualität der Präparate stellt die Sammlung ein einzigartiges Dokument humanembryologischer Forschungsmethoden des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts dar. Der vorliegende Band geht der Frage nach, weshalb Schnittseriensammlungen zu zentralen Forschungsobjekten von Embryologen wurden. Die Autorin zeigt zudem anhand von Archivmaterial und mit der Marburger Sammlung in Zusammenhang stehenden Publikationen, woher die Marburger Präparate stammten, wie sie verarbeitet wurden und welcher embryologische Erkenntnisgewinn sich aus ihnen bis ins 21. Jahrhundert hinein ergibt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 1.1 Aufbau der Arbeit
  • 1.2 Stand der Forschung
  • 1.3 Material und Methoden
  • 2 Sammlungen humanembryologischer Schnittserien
  • 2.1 Schnittserien als Forschungsobjekte der Humanembryologie im 19. und frühen 20. Jahrhundert
  • 2.1.1 Zellen- und Keimblatttheorie als Modelle für den Feinbau von Embryonen
  • 2.1.2 Mikroskopisch-embryologische Techniken
  • 2.2 Beschaffung von Forschungsmaterial
  • 2.2.1 Differenzierung zwischen physiologischer und pathologischer Entwicklung
  • 2.2.2 Gewalt und Krankheit als „Quellen“ embryologischer Präparate
  • 2.3 Alters- und Größenbestimmung von Embryonen
  • 2.3.1 Versuche der Altersbestimmung einer Schwangerschaft im 19. Jahrhundert
  • 2.3.2 Einordnung neuer Präparate nach Größe und Form
  • 2.4 Normierung der menschlichen Entwicklung
  • 2.4.1 Krauses Embryo
  • 2.4.2 Expertise als Voraussetzung für embryologische Arbeiten
  • 2.4.3 Uneinheitliches vergleichbar machen
  • 2.4.4 Die Normentafel der menschlichen Entwicklung von Keibel und Elze
  • 3 Entstehung der Gasser-Strahl’schen Sammlung
  • 3.1 Zeitliche Einordnung der Sammlungsarbeiten
  • 3.1.1 Chronologie der Sammlungstätigkeit
  • 3.2 Gassers Netzwerk
  • 3.2.1 Verbindungen der Einsendenden nach Marburg
  • 3.2.1.1 Ärzte als Multiplikatoren
  • 3.2.1.2 Netzwerkbildung zur Embryonen-Akquise im Vergleich
  • 3.2.2 Professionen der Einsendenden
  • 3.2.3 Motive der Einsendenden
  • 3.2.3.1 Motive zum Embryonenversand im Vergleich
  • 3.3 Vom Embryo zur Schnittserie
  • 3.3.1 Akquise embryonaler Präparate
  • 3.3.1.1 Aborte
  • 3.3.1.2 Sektionen
  • 3.3.1.3 Operationen
  • 3.3.1.4 Akquise embryonaler Präparate im Vergleich
  • 3.3.2 Vorbehandlung
  • 3.3.2.1 Vorbehandlung embryologischer Präparate im Vergleich
  • 3.3.3 Verarbeitung
  • 3.3.3.1 Fixierung, Einbettung und Färbung
  • 3.3.3.2 An der Verarbeitung beteiligte Personen
  • 3.3.3.3 Bezeichnung der Schnittserien
  • 3.3.3.4 Anfertigung und Bezeichnung humanembryologischer Schnittserien im Vergleich
  • 3.4 Anfertigung bildlicher Darstellungen menschlicher Embryonen
  • 3.4.1 Entwicklungsreihen
  • 3.4.2 Zeichnungen
  • 3.4.3 Fotographien
  • 3.4.3.1 Umfang der humanembryologischen Fotographien in Marburg
  • 3.4.3.2 Mikrofotographien des Embryos „Esch I“
  • 3.4.3.3 Aufbewahrung der Fotographien in der Marburger Sammlung
  • 3.5 Anfertigung dreidimensionaler Rekonstruktionen
  • 4 Rezeptionsgeschichte der Gasser-Strahl’schen Sammlung
  • 4.1 Embryonen der Sammlung als Grundlage wissenschaftlicher Publikationen
  • 4.1.1 Embryologische Forschung am Marburger Anatomischen Institut von 1887 bis 1922
  • 4.1.1.1 Humanembryologische versus vergleichend-embryologische Forschung
  • 4.1.1.2 Gassers und Strahls humanembryologische Forschung
  • 4.1.1.3 Humanembryologische Fragestellungen
  • 4.1.1.4 Varianten und Pathologien
  • 4.1.1.5 Betrachtung der physiologischen Entwicklung von Strukturen über die Zeit
  • 4.1.1.6 Beschreibung eines ganzen Embryos
  • 4.1.1.7 Kommentare der Autoren zu den Präparaten der Gasser-Strahl’schen Sammlung
  • 4.1.2 Embryonen der Sammlung als Leihgaben
  • 4.1.2.1 Nutzung von Schnittserien der Sammlung am Gießener Institut für Anatomie
  • 4.1.2.2 Embryonen der Sammlung in der Normentafel von Keibel und Elze
  • 4.1.2.3 Embryonen der Sammlung im Atlas zur Entwicklungsgeschichte des menschlichen Auges von Bach und Seefelder
  • 4.1.2.4 Schnittserien der Sammlung als Leihgaben nach 1920
  • 4.1.3 Forschung an Präparaten der Sammlung von 1999 bis 2007
  • 4.1.3.1 Nachuntersuchung des Embryos „Esch I“
  • 4.1.3.2 Untersuchungen zur Entwicklung neuroendokriner Zellen verschiedener Organe
  • 4.1.4 Identifizierung der genutzten Serien
  • 4.2 Heutiger Zustand der Sammlung
  • 4.3 Schlussbetrachtung
  • 5 Zusammenfassung
  • 6 Englische Zusammenfassung (Summary)

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1 Einleitung

Der Beginn des 19. Jahrhunderts markiert die einsetzende Emanzipation einer Reihe sogenannter „Hilfswissenschaften“, die in ihrer Ausübung eng mit der Medizin verbunden waren. Nachdem 1817 in Marburg ein eigenständiges zoologisches Institut gegründet worden war, erlangten auch die Physik sowie die Chemie 1841 und die Botanik 1861 durch einen Fakultätswechsel ihre vollständige Unabhängigkeit von der Medizin.1 Die Embryologie, die zuvor noch als Teilgebiet von Anatomie, Physiologie und Geburtshilfe gelehrt wurde und dem Zoologen Francis Maitland Balfour (1851–1882) zufolge Gestalt und Lebensprozesse eines Individuums vom „Augenblick seines ins Lebentreten“2 bis zur „Erreichung des ausgewachsenen Zustandes“3 betrachtet, entwickelte sich Mitte des 19. Jahrhunderts zur eigenen Wissenschaft mit gesonderten Vorlesungen. Ab den 1840er Jahren entstanden praxisorientierte Mikroskopierkurse für Mediziner, die unter anderem embryologisches Material behandelten,4 und in den 1880er Jahren erschien mit Wilhelm His‘ (1831–1904) Anatomie menschlicher Embryonen eine umfassende Definition menschlicher Entwicklungsstadien. Basierend auf humanembryologischen Schnittserien ausgewählter ←9 | 10→Präparate „produzierte“ His menschliche Entwicklung.5 Sein Werk beeinflusste die embryologische Forschungsweise der folgenden Jahrzehnte maßgeblich.

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Gasser-Strahl’schen Sammlung, einer humanembryologischen Schnittseriensammlung, die ursprünglich aus mehr als 10.000 Objektträgern mit Schnitten von 147 menschlichen Embryonen und Feten bestand. Angefertigt wurden die Schnittserien von 1887 bis 1923 am Marburger Anatomischen Institut unter Leitung des Anatomen Emil Gasser (1847–1919) und Mitarbeit des Anatomen Hans Strahl (1857–1920). Ziel der vorliegenden Arbeit ist, die Geschichte der Sammlung und ihre Bedeutung als Fundus humanembryologischer Präparate zu erfassen. Hierzu werden die Entstehung und Nutzung humanembryologischer Schnittserien als Forschungsobjekte um 1900 untersucht und mikroskopisch-embryologische Techniken aus dieser Zeit beleuchtet. Vor diesem wissenschaftshistorischen Hintergrund erfolgt eine Aufarbeitung der Provenienz der Gasser-Strahl’schen Sammlung in Hinblick auf Akquise, Verarbeitung und Nutzung der Marburger Präparate.6 Ergänzend werden diese Aspekte bei anderen humanembryologischen Schnittseriensammlungen, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert entstanden, betrachtet.

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1.1 Aufbau der Arbeit

Zunächst wird in Kapitel 2 eine Betrachtung von Schnittserien als Forschungsobjekte der Embryologie im 19. Jahrhundert vorangestellt. Besondere Berücksichtigung erfahren hier Antriebe und Voraussetzungen für die mikroskopische Untersuchung von Embryonen: Zellen- und Keimblatttheorie sowie im 19. Jahrhundert (weiter-)entwickelte mikroskopisch-embryologische Techniken. Darüber hinaus erfolgt am Beispiel von His‘ embryologischer Forschung die Charakterisierung von Herausforderungen, denen bei der Zusammenstellung einer humanembryologischen Schnittseriensammlung begegnet werden musste. In erster Linie waren dies die Akquise möglichst gut erhaltener sowie mutmaßlich physiologisch entwickelter menschlicher Embryonen für die Forschung, die Bestimmung des Alters sowie der Größe der Präparate und die Etablierung eines Standards für die Verarbeitung humanembryologischer Präparate. In Kapitel 3 werden Herkunft, Verarbeitung und Nutzung der Präparate in Marburg dargestellt sowie in diese Tätigkeiten involvierte Personen identifiziert und ihre Rollen im Netzwerk zur Zusammenstellung der Gasser-Strahl’schen Sammlung festgestellt. Ferner geht dieses Kapitel auf die Anfertigung bildlicher Darstellungen sowie plastischer Rekonstruktionen ein, die in Marburg zur Dokumentation und Reproduktion der Embryonen dienten.

Kapitel 4 umfasst eine Untersuchung der Publikationen, die auf Embryonen und Feten der Sammlung basieren. Entsprechend werden Fragestellungen und Kommentare bezüglich der Qualität der verwendeten Präparate analysiert. Neben Veröffentlichungen aus den Jahren 1887 bis 1922 sind hier vor allem Publikationen der Jahre 1999 bis 2007 von Bedeutung, die den Wert von humanembryologischen Sammlungspräparaten in der modernen Forschung aufzeigen. Abschließend ist eine Beschreibung inklusive exemplarischer Fotographien des heutigen makroskopischen und mikroskopischen Zustands der Sammlung angefügt.

1.2 Stand der Forschung

Zur Geschichte der Embryologie im 19. Jahrhundert arbeitete Thomas Schmuck, der unter anderem die Rollen der deutschbaltischen Embryologen Karl Ernst von Baer (1792–1876) und Christian Heinrich Pander (1794–1865) für die moderne Embryologie verdeutlichte.7 Sowohl bei Schmuck als auch bei ←11 | 12→Janina Wellmann8 wurde der Konflikt zwischen den Anhängern der Präformation und denen der Epigenese als eine die Embryologie des 18. Jahrhunderts dominierende Debatte charakterisiert, die durch den Einfluss des Vitalismus auf das vorherrschende mechanistische Weltbild der Epigenese den Vorzug gab und deren Ende den Weg zur modernen Embryologie ebnete. Wellmann stellte darüber hinaus die These auf, dass Rhythmus als strukturgebendes Prinzip nicht nur in Kunst und Musik wiederzufinden ist, sondern ab etwa 1800 in naturwissenschaftlichen Theorien und Begrifflichkeiten auftaucht. Vor diesem Hintergrund erklärte sie das Aufkommen von Entwicklungsreihen im 19. Jahrhundert – Reihen von Abbildungen menschlicher Embryonen, die der Entwicklungsstufe nach geordnet wurden und so die Illusion von Bewegung beziehungsweise Entwicklung erzeugen – als die bis heute selbstverständlichste Form, Embryonalentwicklung bildlich darzustellen.

Die Praktiken der Humanembryologie im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert bearbeitete der Wissenschaftshistoriker Nick Hopwood vor allem am Beispiel des Anatomen und Embryologen Wilhelm His. Hopwood ging hierbei besonders auf His‘ Praktiken zur Sammlung humanembryologischer Präparate und die Rekonstruktion angefertigter Schnittserien ein sowie auf die von His forcierte Etablierung von Normen für die menschliche Entwicklung.9

Lynn Morgan veröffentlichte eine Monographie zur Entstehung und Nachwirkung der humanembryologischen Sammlung der Carnegie Institution of Washington, die His‘ Schüler Franklin Paine Mall (1862–1917) zu Beginn des 20. Jahrhunderts initiierte und die die Basis zur Erarbeitung der bis heute ←12 | 13→genutzten Carnegie-Stadien zur Beschreibung von Entwicklungszuständen menschlicher Embryonen bildete.10

Im Rahmen eines Provenienzforschungsprojektes untersuchte Michael Markert für die Humanembryologische Dokumentationssammlung Blechschmidt in Göttingen Herkunft und Verarbeitung der 430 Schnittserien menschlicher Embryonen und Feten, die der Anatom Erich Blechschmidt (1904–1992) Mitte des 20. Jahrhunderts anfertigen ließ. Hierbei ging er insbesondere auf die Herstellung und Nachwirkung der 61 auf den Schnittserien basierenden und in Göttingen angefertigten Kunstharzmodelle ein.11

Details

Seiten
264
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631895382
ISBN (ePUB)
9783631895399
ISBN (MOBI)
9783631895405
ISBN (Hardcover)
9783631893081
DOI
10.3726/b20501
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (April)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 264 S., 18 farb. Abb., 22 s/w Abb., 3 Tab.

Biographische Angaben

Caroline Maria Stiel (Autor:in)

Caroline Stiel studierte an der Philipps-Universität Marburg Humanmedizin und approbierte 2022. Nach dem Studium begann sie ihre Assistenzärztinnentätigkeit an der Universitätsmedizin in Göttingen.

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Titel: Humanembryologische Schnittseriensammlungen um 1900 am Beispiel der Marburger Gasser-Strahl’schen Sammlung