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Individuelle sprachliche Variation in WhatsApp-Chats

Stil, Akkommodation und Real-Time-Change

von Samuel Felder (Autor:in)
©2023 Dissertation 460 Seiten

Zusammenfassung

Diese Studie soll dazu beitragen, den Sprachgebrauch einzelner Individuen als relevanten Forschungsgegenstand für die Linguistik auszuweisen. Durch die Analyse dialektaler Daten aus einem umfangreichen Korpus von WhatsApp-Textnachrichten werden neue Erkenntnisse zur intraindividuellen sprachlichen Variation gewonnen. Im Fokus stehen drei Themenbereiche, die innerhalb der soziolinguistischen Forschung von großer Relevanz sind: stilistische Variation, Akkommodation und Real-Time-Change. Die individuenzentrierten Fallanalysen zeigen, wie Variationsmuster dazu dienen, soziale Bedeutungen in die Interaktion einzubringen, wie sich Personen, die miteinander kommunizieren, in ihrem Sprachgebrauch aneinander angleichen und wie sich individuelle sprachliche Muster im Laufe der Zeit verändern.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 2 Theoretischer Hintergrund und Forschungsstand
  • 3 Fragestellung, Daten und Methoden
  • 4 Sprachliche Variablen
  • 5 Intraindividuelle Variation im Zusammenspiel mit kontextuellen Faktoren
  • 6 Akkommodation und Variation im zeitlichen Verlauf
  • 7 Schlussteil
  • 8 Dank
  • 9 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

[W]‌hen we come to the analysis of style, we see individuals interacting within their own space, time, and relational contexts. We can of course seek to generalize about “what most people stylistically do,” and the results are informative and important. But this exercise is reductionist in that it rules out any possible interpretation of the local intra- and inter-personal processes which are style’s domain. (Coupland 2001: 191f., Hervorh. im Original)

Explanations for global patterns lie in the relations among the myriad local practices that add up to produce them. How is gender or class constructed in a particular place at a particular time? How do these combine to create the global pattern – and what of those who do not conform to this pattern? (Eckert 2010: 164f.)

Innerhalb der Linguistik wurde dem Sprachgebrauch einzelner Individuen während langer Zeit nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren Forschungsprogramme vorherrschend, deren Fokus auf generalisierbaren und quantitativ messbaren Sprachmustern lag (vgl. Johnstone 1996: 185 f.). Der individuelle Einzelfall galt entweder als nebensächlich oder sogar als ein Störfaktor, dessen Einfluss auf die Forschungsergebnisse soweit wie möglich minimiert werden sollte. Dies trifft insbesondere auch auf die variationsorientierte Soziolinguistik in der Folge William Labovs (z. B. 1966, 1972) zu, die sich während einiger Jahrzehnte primär auf quantitativ-korrelative Variationsanalysen konzentrierte, anhand derer Zusammenhänge zwischen sozialen (z. B. Geschlecht, Alter, soziale Schicht) oder situativen Einflussfaktoren (z. B. Formalitätsgrad der Gesprächssituation) und der Verwendung sprachlicher Varianten ermittelt werden sollten (vgl. Coupland 2011: 139 f.; Eckert 2012: 88–91; Johnstone 2000: 414). Forschungsarbeiten, die sich detailliert der sprachlichen Variation einzelner Individuen widmeten, blieben die Ausnahme (z. B. Bürkli 1999; Coupland 1984; Johnstone 1996; Lausberg 1993; Macha 1991).

Spätestens seit Beginn des neuen Jahrtausends finden sich in der Linguistik jedoch vermehrt Forschungsansätze, die der individuellen Sprachverwendung eine zentrale Stellung einräumen. Im Zuge der sogenannten “third wave of variation studies” (Eckert 2012: 93; vgl. Kap. 2.1 und Kap. 2.2.3) und unter Bezug auf Konzepte wie Repertoire und Superdiversität (vgl. Kap. 2.2.2) scheint sich bei vielen Forschenden mehr und mehr die Überzeugung durchzusetzen, dass fixe sprachliche Kategorien und verallgemeinernde Aussagen zum Zusammenhang zwischen Sprachgebrauchsmustern und äußeren Einflussfaktoren der sprachlichen Wirklichkeit zu wenig gerecht werden. Um besser verstehen zu können, wie Variationsmuster in alltäglichen Interaktionssituationen ihre Wirkung entfalten, müssen die kommunizierenden Individuen in die Überlegungen einbezogen werden. Denn jedes Individuum verfügt über ein je eigenes Repertoire an sprachlichen Ressourcen, die situationsadäquat eingesetzt werden und deren Bedeutung und Funktion durch die persönliche Kommunikationshistorie mitbestimmt wird (vgl. Bailey 2012: 504; Blommaert/Backus 2013: 28 f.; Deumert 2014: 107; Tagg 2016: 78).

Auch die vorliegende Arbeit soll dazu beitragen, den Sprachgebrauch einzelner Individuen als relevanten Forschungsgegenstand hervorzuheben. Es sollen neue Erkenntnisse zum Themenbereich der individuellen sprachlichen Variation gewonnen werden, indem Daten aus einem umfangreichen Korpus von WhatsApp-Textnachrichten analysiert werden, die im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Forschungsprojekts “What’s up, Switzerland?” (Projekt-Nr. CRSII1_160714) gesammelt wurden. Obwohl es sich um schriftsprachliche Daten handelt, weisen diese eine große Variabilität auf, da sie in einer interaktionsorientierten Schreibumgebung entstanden sind, in der sich die Schreibenden oft nur in begrenztem Maße an der Standardorthographie orientieren (vgl. Kap. 2.3.1). Zudem wird die Variationsbreite dadurch vergrößert, dass die Daten mehrheitlich auf Schweizerdeutsch geschrieben sind, wofür es keine offizielle orthographische Norm gibt (vgl. Kap. 2.4). In einer solchen Schreibumgebung kommt es auf mehreren Ebenen zu sprachlicher Variation, denn

[a]‌mong the resources people have are not only different languages, varieties and styles, but also different ways of representing language visually. Writers thus make several decisions when composing a text. First they need to decide which linguistic forms to use, and then how to spell them (Deumert 2014: 136; vgl. auch Androutsopoulos 2007: 93).

Die Variationsphänomene, die in der vorliegenden Arbeit in den Blick genommen werden (vgl. Kap. 4), betreffen daher einerseits die Wahl dialektaler Varianten (z. B. nacher vs. när für ‘nachher’) und andererseits die Repräsentation der lautlichen Gegebenheiten durch Grapheme (z. B. <gs> vs. <x> zur Verschriftung von [ks]). Des Weiteren wird Variation auf der Ebene der Interpunktion untersucht und es wird auf Verwendungsmuster für verschiedene sprachliche Merkmale eingegangen, die als charakteristisch für die digital-geschriebene Kommunikation gelten (z. B. Emojis, Buchstabeniterationen, Lachausdrücke).

Die Analysen konzentrieren sich primär auf Aspekte der intraindividuellen Variation. Es wird also untersucht, wie einzelne Individuen ihren Sprachgebrauch von Situation zu Situation variieren und welche Einflussfaktoren dabei eine Rolle spielen. Im Fokus stehen drei Themenbereiche, die innerhalb der soziolinguistischen Forschung von großer Relevanz sind: stilistische Variation (vgl. Kap. 2.2.3), Akkommodation (vgl. Kap. 2.2.4) und Real-Time-Change (vgl. Kap. 2.2.5). Es geht daher um Fragen wie die folgenden (vgl. auch Kap. 3.2): Wie variieren Individuen ihren Sprachgebrauch, um in einzelnen Interaktionssituationen soziale Bedeutungen aufzurufen und das Geäußerte in einer bestimmten Weise zu kontextualisieren? Gleichen sich Personen, die miteinander kommunizieren, in ihrem Sprachgebrauch aneinander an? Verändern einzelne Individuen ihre Verwendungsmuster für sprachliche Mittel im Laufe der Zeit? Zur Beantwortung dieser Fragen werden zahlreiche individuenzentrierte Fallanalysen durchgeführt. Das übergeordnete Ziel besteht hierbei zum einen darin, das Spektrum möglicher Faktoren auszuloten, die sich auf individuelle Variationsmuster auswirken können. Zum anderen soll anhand der Analysen ersichtlich gemacht werden, dass die Bedeutung und Funktion, die einem sprachlichen Mittel in einer spezifischen Interaktionssituation zukommt, vielfach nur dann richtig interpretiert werden kann, wenn die längerfristigen Kommunikationsmuster der Interagierenden in die Überlegungen einbezogen werden.

Die Arbeit gliedert sich im Weiteren in sechs Hauptkapitel, deren Inhalte im Folgenden kurz umrissen werden sollen. In Kapitel 2 werden die theoretischen Grundlagen und der aktuelle Forschungsstand in den relevanten Themenbereichen beschrieben. Zunächst wird die Frage vertieft, inwiefern die Sprache des Individuums einen lohnenswerten Untersuchungsgegenstand für die Linguistik darstellt, und es wird auf bisherige Forschungsansätze zu diesem Thema eingegangen (vgl. Kap. 2.1). Daraufhin werden einige grundlegende theoretische Konzepte wie Repertoire, Stil, Akkommodation und Real-Time-Change vorgestellt, auf die in den weiteren Teilen der Arbeit Bezug genommen wird (vgl. Kap. 2.2). Die drei nachfolgenden Teilkapitel widmen sich dem Forschungsstand in einigen unterschiedlichen Themenbereichen. Kapitel 2.3 beschäftigt sich mit dem Bereich der digitalen Schriftlichkeit. Zuerst werden einigen Charakteristika der interaktionsorientierten digital-geschriebenen Kommunikation im Allgemeinen und der WhatsApp-Kommunikation im Besonderen bestimmt (vgl. Kap. 2.3.1), dann wird auf bisherige Studien zur sprachlichen Variation in digitalen Schrifterzeugnissen eingegangen (vgl. Kap. 2.3.2). In Kapitel 2.4 wird der Forschungsstand zum geschriebenen Schweizerdeutschen zusammengefasst und um eigene Überlegungen ergänzt, die teilweise auf die Resultate der empirischen Kapitel vorausblicken. Schließlich wird in Kapitel 2.5 in Form eines Exkurses auf den Themenbereich der interindividuellen Variation eingegangen. Während der thematische Schwerpunkt der Arbeit insgesamt auf der intraindividuellen Variation liegt, soll hier ein Eindruck davon vermittelt werden, welche weiteren Ansätze zur Analyse der Sprache einzelner Individuen innerhalb der Linguistik existieren.

Kapitel 3 enthält Ausführungen zu den Forschungsfragen, zur Datengrundlage sowie zu den angewandten Analysemethoden. Zunächst wird das Forschungsprojekt “What’s up, Switzerland?” vorgestellt (vgl. Kap. 3.1). Daraufhin werden die Forschungsfragen und -ziele der vorliegenden Arbeit ausformuliert (vgl. Kap. 3.2). In Kapitel 3.3 finden sich detaillierte Informationen zum untersuchten WhatsApp-Korpus (Datensammlung, Korpusstruktur etc.) und in Kapitel 3.4 wird auf das methodische Vorgehen eingegangen, das bei der Analyse der WhatsApp-Daten angewandt wurde.

In Kapitel 4 werden die untersuchten sprachlichen Variablen vorgestellt. In einem ersten Schritt wird in Kapitel 4.1 eine Differenzierung zwischen zwei Typen von Variablen vorgenommen, die sich darin unterscheiden, wie die Frequenz der betreffenden sprachlichen Merkmale im Korpus ermittelt wird (klassisch variationslinguistische vs. korpuslinguistische Vorgehensweise). In Kapitel 4.2 wird unter Bezug auf frühere dialektologische, sozio- und interaktionslinguistische Forschungsarbeiten auf die einzelnen sprachlichen Phänomene eingegangen und es werden Zahlenwerte zu deren quantitativer Verteilung im Korpus aufgeführt. Das Kapitel gliedert sich in fünf Unterkapitel, die den sprachlichen Ebenen entsprechen, denen die untersuchten Variablen zugeordnet werden: dialektale Variation, Graphemvariation, Interpunktion, Bildzeichen und lexikalische Mittel. In Kapitel 4.3 findet sich eine Überblicksdarstellung sämtlicher Variablen.

Die Kapitel 5 und 6 bilden die zentralen empirischen Teile der Arbeit. Darin werden anhand individuenzentrierter Fallanalysen unterschiedliche Aspekte der intraindividuellen sprachlichen Variation in den Blick genommen. Als Datengrundlage hierfür dienen WhatsApp-Chats mit genau zwei Beteiligten (vgl. Kap. 3.3.1). Kapitel 5 setzt sich damit auseinander, wie die Wahl sprachlicher Varianten in einzelnen Interaktionssituationen von kontextuellen Faktoren beeinflusst wird. Zunächst wird auf Beispiele eingegangen, in denen die Verwendung bestimmter Varianten mit Aspekten des sprachlichen Kontexts (lexikalisches Element, Wortlänge, Position des Wortes innerhalb der Nachricht oder Nachrichtenlänge) korreliert (vgl. Kap. 5.1). Daraufhin wird anhand von vier detaillierten Fallstudien gezeigt, wie die Variantenwahl dazu beitragen kann, die Äußerungsinhalte zu kontextualisieren, wenn die Varianten einer Variable im Sprachgebrauch eines Individuums mit unterschiedlichen sozialen Bedeutungsaspekten verknüpft sind (vgl. Kap. 5.2), so dass beispielsweise die Schreibweise cool eine Äußerung als freundlich oder enthusiastisch erscheinen lässt, während kuhl eher mit Ironie oder Spott in Verbindung gebracht wird (vgl. Kap. 5.2.2 und Kap. 5.2.3).

Kapitel 6 ist den Themenbereichen Akkommodation und Real-Time-Change gewidmet. Es wird einerseits der Frage nachgegangen, ob sich Individuen, die in den WhatsApp-Chats miteinander kommunizieren, bei ihrer Verwendung sprachlicher Mittel aneinander angleichen, und andererseits, ob und wie sich die Sprachgebrauchsmuster einzelner Individuen im Laufe der Zeit verändern. In Kapitel 6.1 werden die beiden Fragestellungen miteinander verknüpft, indem mehrere Verlaufstypen definiert werden, die sich danach unterscheiden, in welcher Weise sich die Verwendungsmuster für ein sprachliches Mittel bei einem Individuum entwickeln und ob der Sprachgebrauch demjenigen des Gegenübers1 ähnlicher wird oder nicht. Die Verlaufstypen werden als Beibehaltung, unabhängige Variation, Angleichung, Überakkommodation, Divergenz und Parallelität bezeichnet. In mehreren Unterkapiteln werden die unterschiedlichen Typen detailliert thematisiert und anhand zahlreicher Fallanalysen werden Beispiele für Verlaufsmuster ermittelt, die sich den jeweiligen Typen zuordnen lassen. Die Analysen zeigen unter anderem, dass es im Sprachgebrauch einzelner Individuen in den WhatsApp-Chats innerhalb relativ kurzer Zeitspannen (von einigen Wochen oder Monaten) zu deutlichen Veränderungen kommen kann, und zwar bei Variablen auf allen untersuchten Sprachebenen (vgl. insbesondere Kap. 6.1.2 und Kap. 6.1.3). In Kapitel 6.2 wird in einem Zwischenfazit darauf eingegangen, welche Schlüsse hinsichtlich der Flexibilität und Wandelbarkeit des Sprachgebrauchs einzelner Individuen aus den vorangehenden Analysen gezogen werden können. Kapitel 6.3 enthält Fallstudien, die sich mit dem Aspekt der Kurzzeitakkommodation auseinandersetzen. Anhand qualitativer Analysen wird aufgezeigt, dass einige der längerfristigen Entwicklungen, die in Kapitel 6.1 festgestellt wurden, dadurch gefördert werden, dass sich die Chattenden in einzelnen Interaktionssituationen in ihrem Sprachgebrauch kurzfristig aneinander angleichen. In Kapitel 6.4 werden die Variationsmuster einiger Individuen genauer in den Blick genommen, die im Korpus an mehreren Chats beteiligt sind. Zum einen wird untersucht, ob Veränderungen beim Gebrauch sprachlicher Mittel, die sich bei einzelnen Individuen feststellen lassen, in sämtlichen Chats, an denen diese Individuen beteiligt sind, ähnlich verlaufen oder ob je nach Chat und Gegenüber unterschiedliche Entwicklungen festgestellt werden können (vgl. Kap. 6.4.1). Zum anderen wird anhand einer Fallanalyse gezeigt, wie sich die Wahl dialektaler Varianten bei einer Chatterin unterschiedlich gestaltet, je nachdem in welchem Chat sie eine Nachricht schreibt, was offenbar darauf zurückzuführen ist, dass sie sich bis zu einem gewissen Grad an die dialektalen Eigenheiten eines bestimmten Chatpartners angleicht, wenn sie mit diesem Nachrichten austauscht (vgl. Kap. 6.4.2).

Kapitel 7 bildet den Schluss der Arbeit. In Kapitel 7.1 werden die wichtigsten Ergebnisse der vorangehenden Kapitel zusammengefasst und es wird ein Überblick geboten, welche potentiellen Einflussfaktoren auf intraindividuelle Variationsmuster in den empirischen Teilen der Arbeit ermittelt wurden. Kapitel 7.2 enthält ein Fazit, in dem darauf eingegangen wird, welche allgemeinen Erkenntnisse aus den Resultaten der Arbeit hervorgehen und welche Schlüsse daraus in theoretischer und methodischer Hinsicht für zukünftige variations- und interaktionsanalytische Studien gezogen werden können.


1 Das Wort Gegenüber wird hier und im weiteren Verlauf der Arbeit verschiedentlich verwendet, um Personen zu bezeichnen, die in einem WhatsApp-Chat miteinander kommunizieren. Dies geschieht im Bewusstsein, dass der Begriff in diesem Zusammenhang genau genommen nicht zutreffend ist, da sich die Chattenden in der Regel nicht in einem physischen Raum einander gegenüber befinden. Es handelt sich also um eine metaphorische Übertragung des Begriffs von Face-to-Face- auf WhatsApp-Interaktionen. Die Verwendung von Gegenüber hat u. a. den Vorteil, dass dadurch genderneutral auf die Chatpartnerin oder den Chatpartner einer Person verwiesen werden kann.

2 Theoretischer Hintergrund und Forschungsstand

2.1 Das Individuum als Ausgangspunkt für die Sprachwissenschaft

In der vorliegenden Arbeit nimmt das Individuum eine zentrale Stellung als Forschungsgegenstand der linguistischen Analysen ein, da die längerfristigen Sprachgebrauchsmuster einzelner Individuen als Basis verwendet werden, um die Wahl sprachlicher Mittel in spezifischen Interaktionssituationen besser erklären zu können (vgl. u. a. Kap. 5.2 und Kap. 6.3). Es wird also grundsätzlich davon ausgegangen, dass die Sprache einzelner Individuen einen lohnenswerten Analysegegenstand darstellt. Hierzu gab es innerhalb der Linguistik in der Vergangenheit sehr unterschiedliche Ansichten: Während manche Forschende (und ganze Forschungszweige) der Sprache einzelner Individuen jegliche Relevanz absprachen, räumten ihr andere eine zentrale Stellung ein. Dieses Teilkapitel bietet einen ersten Einstieg in diese Thematik, d. h. die Sprache des Individuums und deren wissenschaftliche Untersuchung, und soll einen kurzen Überblick zu einigen einschlägigen Arbeiten geben, die sich damit auseinandersetzen, inwiefern sich ein linguistischer Blick auf das Individuum lohnen kann. Ziel ist es jedoch nicht, das Thema vollständig abzuhandeln und alle Aspekte im Detail zu beleuchten. Auf jene Aspekte, die für die vorliegende Arbeit von besonderer Relevanz sind, wird in den nachfolgenden Teilkapiteln noch spezifisch eingegangen.

In Forschungsbeiträgen, die sich aus theoretischer Sicht mit der Sprache des Individuums befassen, fällt immer wieder der Name des Germanisten Hermann Paul, der um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert tätig war und der Schule der Junggrammatiker angehörte. Er wird als einer der Ersten beschrieben, die die Relevanz individuellen Sprachwissens und -gebrauchs für linguistische Fragestellungen hervorgehoben haben (vgl. Hazen 2006: 513; Johnstone 1996: 13, 2000: 409; Kubczak 1989: 11 f.; Oksaar 1987: 293; Reiter 1986: 137). In der Tat macht Paul (1995) in seinen Prinzipien der Sprachgeschichte (Erstausgabe 1880) mehrere zentrale Feststellungen zur Sprache des Individuums, die bis heute nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt haben und die für eine weiterführende Beschäftigung mit der Thematik als Ausgangspunkt dienen können:

  • Das Wissen um sprachliche Elemente und deren Zusammenhänge ist in der Psyche eines jeden einzelnen Individuums gespeichert und es “entwickelt sich bei jedem Individuum auf eigentümliche Weise, gewinnt aber auch bei jedem eine eigentümliche Gestalt” (Paul 1995: 27). Eine Sprache lässt sich somit nicht als Gegenstand festmachen, der in einer konkreten, allgemeingültigen Form außerhalb der Psyche des Individuums existiert, denn das Sprachwissen zweier Individuen ist nie komplett identisch. Zudem befindet es sich auch “bei jedem Individuum in stetiger Veränderung” (Paul 1995: 27).
  • Auch Individuen, die über ein ähnliches Sprachwissen verfügen, produzieren sprachliche Äußerungen nicht in identischer Weise, da “von dem Sprachmateriale, welches viele Individuen übereinstimmend anwenden, doch der eine dieses, der andere jenes bevorzugt.” (Paul 1995: 33).
  • Da also jedes Individuum über ein einzigartiges Sprachwissen und -vermögen verfügt und sprachliche Äußerungen in je eigentümlicher Weise produziert, müsste man gemäß Paul (1995: 37) “eigentlich so viele Sprachen unterscheiden als es Individuen gibt.” Jedes sprachliche Konstrukt in der Form einer spezifischen Sprache (z. B. Deutsch) oder eines spezifischen Dialekts (z. B. Berndeutsch) kann in diesem Sinn als eine mehr oder weniger willkürliche Abstraktion betrachtet werden (vgl. auch Reiter 1986: 137–141).2 “In Wirklichkeit werden in jedem Augenblicke innerhalb einer Volksgemeinschaft so viele Dialekte geredet als redende Individuen vorhanden sind, und zwar Dialekte, von denen jeder einzelne eine geschichtliche Entwickelung hat und in stetiger Veränderung begriffen ist” (Paul 1995: 38).
  • Diejenigen Teile sprachlichen Wissens und sprachlicher Verhaltensmuster, die zwischen den Individuen einer Gemeinschaft übereinstimmen, bezeichnet Paul (1995: 29) als Sprachusus. Sprachwandel geschieht sowohl auf individueller Ebene als auch auf der Ebene des Sprachusus, indem einzelne Individuen wechselseitig aufeinander einwirken:

Die Sprachveränderungen vollziehen sich an dem Individuum teils durch seine spontane Tätigkeit, durch Sprechen und Denken in den Formen der Sprache, teils durch die Beeinflussung, die es von andern Individuen erleidet. Eine Veränderung des Usus kann nicht wohl zu Stande kommen, ohne dass beides zusammenwirkt (Paul 1995: 34).

  • Zunächst kommt es bei einzelnen Individuen zu Innovationen, indem diese von der Sprache in einer Weise Gebrauch machen, die nicht dem Sprachusus entspricht. Wenn solche Innovationen durch gegenseitige Beeinflussung allmählich auf eine größere Zahl von Individuen übergehen, verändert sich der Sprachusus (vgl. Paul 1995: 32).

Aufgrund dieser Aspekte könnte man nun zu dem Schluss gelangen, dass es sich bei der Sprache in vielerlei Hinsicht um ein hochgradig individuelles Phänomen handelt oder, um es mit den Worten Johnstones (2000: 410) zu sagen, “that language is fundamentally the property of the individual”. Aber mit ebenso viel Recht könnte man die Sprache wohl auch als hochgradig soziales Phänomen beschreiben, denn ihre Funktion als Mittel der Kommunikation kann sie nur dann erfüllen, wenn die Vorstellungen zu den sprachlichen Zeichen und deren Verwendungsweisen zwischen den Interagierenden genügend große Überschneidungen aufweisen. Das einzelne Individuum kann nicht in völliger Isolation über die Formen seines sprachlichen Materials entscheiden, sondern muss sich notwendigerweise an den Konventionen seiner Gemeinschaft orientieren.3 Wenn man sich nun fragt, wo der eigentliche Sitz der Sprache liegt, beim Individuum oder bei der Gemeinschaft, so lässt sich diese Frage kaum abschließend beantworten, denn für beide Sichtweisen lassen sich überzeugende Argumente anführen. Die Produktion sprachlicher Äußerungen bewegt sich entsprechend stets in einem Spannungsfeld zwischen individueller Freiheit und Kreativität auf der einen Seite und sozialen Konventionen auf der anderen Seite. Auch dies wird von Paul (1995: 32, 38–40) bereits beschrieben und findet später immer wieder in sprachwissenschaftlichen Arbeiten Erwähnung (vgl. Hofer 1997: 20; Macha 1991: 6; Sapir 1949: 572 f., zitiert in Johnstone 2000: 409 f.; Warnke 1996: 2).

Berücksichtigt man die oben aufgeführten Punkte, so scheint doch einiges dafür zu sprechen, die individuelle Seite der Sprachproduktion vermehrt in den Blick zu nehmen. Zusätzlich lässt sich argumentieren, dass das Individuum allein schon deswegen von zentralem Interesse für die Linguistik sein sollte, weil sich Sprache als Gegenstand empirischer Untersuchungen immer nur in der Form von Äußerungen analysieren lässt, die von einzelnen Individuen hervorgebracht werden. Jenseits dessen hat Sprache als unabhängiger Untersuchungsgegenstand keine Existenz (vgl. Bendel 2007: 21; Johnstone 2000: 419; Paul 1995: 24). Obwohl sich also gute Gründe dafür finden lassen, das Individuum als Ausgangspunkt für linguistische Fragestellungen zu betrachten, haben einige der einflussreichsten sprachwissenschaftlichen Strömungen des 20. Jahrhunderts der Sprache des Individuums kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Johnstone (1996: 185 f.) fasst dies folgendermaßen zusammen:

Linguists of all persuasions acknowledge, on the basis of their everyday experience of language, that no two individuals talk alike. But few study individual variation and voice; the linguistic individual is thought to be outside the purview of linguistic theory. Saussurean langue is essentially social, not the property of any particular individual; Chomskyan competence is that of an idealized representative speaker-hearer; for variationist sociolinguists and historians, an individual’s innovation is not a change until it is adopted by a community of speakers.

Wenn die Linguistik – vor allem in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts – die Sprache des Individuums explizit zum Thema machte, so geschah dies in erster Linie im Zusammenhang mit dem Begriff Idiolekt (vgl. Kap. 2.2.1). Gerade auch in der deutschsprachigen Linguistik gab es verschiedentlich Versuche, diesen Begriff genauer zu definieren (vgl. z. B. Hammarström 1980; Kubczak 1989; Oksaar 1987; Reiter 1986). Dies blieb jedoch ein weitgehend theoretisches Unterfangen und mündete kaum in konkreten empirischen Analysen (vgl. Bendel 2007: 12).

Seit den Neunzigerjahren plädiert die amerikanische Linguistin Barbara Johnstone besonders intensiv für einen verstärkten Blick auf individuelle Sprachmuster. In mehreren Publikationen befasst sie sich sowohl von theoretischer als auch empirischer Seite eingehend mit dem Thema (vgl. Johnstone 1996, 2000, 2001, 2009). Dass sie sich dabei in vielfältiger Weise auf frühere Forschungsarbeiten beziehen kann, zeigt, dass das Individuum als Forschungsgegenstand der Linguistik nie ganz verschwunden ist. Es wurde jedoch selten explizit zum Thema gemacht: “[T]‌here is not a coherent body of work in linguistics or linguistic anthropology that is specifically about the individual in language” (Johnstone 2000: 407). Johnstone bündelt in ihren Arbeiten frühere Erkenntnisse und formuliert einige grundlegende Aussagen, die sich zur Sprache des Individuums und zu deren Untersuchung durch die Linguistik machen lassen. Einige Aspekte wurden schon von Paul in ähnlicher Weise formuliert. So hält auch Johnstone (1996: 8, 2000: 410) fest, dass Individuen über ein je einzigartiges Sprachwissen verfügen und dass sie in unterschiedlicher Weise von ihrem sprachlichen Material Gebrauch machen. Auch auf die wesentliche Rolle, die einzelne Individuen beim Sprachwandel spielen, geht sie ein: “A change in the behavior of a group necessarily begins with an innovation by an individual” (Johnstone 2000: 409).

Details

Seiten
460
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631895238
ISBN (ePUB)
9783631895245
ISBN (Hardcover)
9783631895221
DOI
10.3726/b20718
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (September)
Schlagworte
WhatsApp-Textnachrichten intraindividuelle sprachliche Variation Muster der Variation
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 460 S., 6 farb. Abb., 3 s/w Abb., 127 Tab.

Biographische Angaben

Samuel Felder (Autor:in)

Samuel Felder arbeitet als Postdoc am Departement für Germanistik der Universität Freiburg (Schweiz). Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Leipzig, wo auch die vorliegende Dissertation entstand.

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Titel: Individuelle sprachliche Variation in WhatsApp-Chats