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Kultur(en) der regionalen Mehrsprachigkeit/Culture(s) du plurilinguisme régional/Cultura(s) del plurilingüismo regional

Kontrastive Betrachtung und Methoden ihrer Untersuchung und Bewertung

von Elmar Eggert (Band-Herausgeber:in) Benjamin Peter (Band-Herausgeber:in)
Sammelband 420 Seiten

Zusammenfassung

Der Band thematisiert Theorien und Methoden zur Untersuchung der Kulturen
regionaler Mehrsprachigkeit. Hierbei stehen das Verhältnis der Sprecher:innen
zu ihren Regionalsprachen sowie deren Bewertung im mehrsprachigen Kontexten
im Vordergrund. Die Beiträge leisten eine wissenschaftliche Einordnung der
verschiedenen Gegenstandsbereiche der Kultur regionaler Mehrsprachigkeit.
Dazu zeigen sie eine Vielzahl an Verfahren auf, wie diese theoretisch zu fassen
und methodisch zu analysieren sind. Auf dieser Grundlage wird zu Beginn
ein Überblicksmodell zur Sprachkultur erarbeitet. Der Ansatz des Bandes ist
sprecher:innenzentriert, da die Perspektiven der Konzeptualisierung von Sprache,
der Bewertung der Sprachkonstellationen sowie des Sprachgebrauchs
den zentralen Fokus bilden.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Reihenfolge der Beiträge
  • Liste der Beiträger:innen
  • Kultur(en) der regionalen Mehrsprachigkeit: Theorie und Methoden zu einem neuen Forschungsfeld (Elmar Eggert und Benjamin Peter)
  • Theoretische und methodische Zugänge zur Kultur der regionalen Mehrsprachigkeit
  • Les 100 ans du terme « culture de la langue » (языковая культура / Sprachkultur / linguistic culture) : aperçu historique de Trotski à Schiffman et applicabilité (Lidia Becker)
  • La tercera ola de la Sociolingüística para el estudio de las culturas lingüísticas regionales: el enregisterment de la variedad castellonense del catalán-valenciano (Carla Amorós-Negre)
  • « La variété la mieux conservée du français acadien » : le rôle des ouvrages linguistiques pour la culture de la langue (Benjamin Peter et Chantal White)
  • New speakers in minority language settings: which questions and what methodologies? (Michael Hornsby)
  • Revitalización de lenguas minoritarias y nuevos medios de comunicación: el ejemplo del etno-rap en América Latina (Eva Gugenberger)
  • Regionale Fallstudien: von Süden nach Norden
  • Estudo e promoção de línguas e culturas regionais no sul do Brasil (Elisa Battisti)
  • Zur regionalen Mehrsprachigkeit der Antilleninsel Curaçao: Entwicklung, Ausprägung, Wahrnehmung (Eva Martha Eckkrammer)
  • 40 años de revitalización del euskera: investigación y cultura lingüística (Ane Ortega e Ibon Manterola)
  • Dire, faire et être. Parler et se représenter le breton au XXIe siècle (Nelly Blanchard et Ronan Calvez)
  • Niederdeutsch zwischen Sprachverlust und Sprachvermittlung (Michael Elmentaler und Robert Langhanke)
  • Regional Multilingualism in North Frisia, Germany (Alastair Walker)
  • Stolz und Vorurteil: Zwischen Minderheitenpolitik, divergierenden Einstellungen und tatsächlichem dänischem Sprachgebrauch in Südschleswig (Sabrina Goll und Steffen Höder)
  • Reihenübersicht

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Liste der Beiträger:innen

Carla Amorós-Negre

Universidad de Salamanca (carlita@usal.es)

Elisa Battisti

Universidade Federal de Rio Grande do Sul (battisti.elisa@gmail.com)

Lidia Becker

Leibniz-Universität Hannover (becker@romanistik.phil.uni-hannover.de)

Nelly Blanchard

Université de Bretagne Occidentale (nelly.blanchard@gmail.com)

Ronan Calvez

Université de Bretagne Occidentale (Ronan.Calvez@univ-brest.fr)

Elmar Eggert

Christian-Albrechts-Universität Kiel (elmar.eggert@romanistik.uni-kiel.de)

Michael Elmentaler

Christian-Albrechts-Universität Kiel (elmentaler@germsem.uni-kiel.de)

Sabrina Goll

Christian-Albrechts-Universität Kiel (s.goll@isfas.uni-kiel.de)

Eva Gugenberger

Europa-Universität Flensburg (eva.gugenberger@uni-flensburg.de)

Steffen Höder

Christian-Albrechts-Universität Kiel (s.hoeder@isfas.uni-kiel.de)

Michael Hornsby

Adam Mickiewicz University Poznań (mhornsby@wa.amu.edu.pl)

Robert Langhanke

Europa-Universität Flensburg (robert.langhanke@uni-flensburg.de)←7 | 8→

Ibon Manterola

Universidad del País Vasco / Euskal Herriko Unibertsitatea (UPV/EHU) (ibon.manterola@ehu.eus)

Eva Martha Eckkrammer

Universität Mannheim (eckkrammer@phil.uni-mannheim.de)

Ane Ortega

Escuela Universitaria de Magisterio Begoñako Andra Mari (aortega@bam.edu.es)

Benjamin Peter

Christian-Albrechts-Universität Kiel (benjamin.peter@romanistik.uni-kiel.de)

Alastair Walker

Christian-Albrechts-Universität Kiel (alastair.walker@gmx.de)

Chantal White

Université Sainte-Anne (chantal.white@usainteanne.ca)

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Elmar Eggert und Benjamin Peter

Kultur(en) der regionalen Mehrsprachigkeit: Theorie und Methoden zu einem neuen Forschungsfeld

Abstract: Der in die Thematik des Bandes einführende Artikel begründet die Kultur der regionalen Mehrsprachigkeit als eigenständiges Forschungsfeld, indem ein Modell entwickelt wird, das die bisher separat erforschten Gegenstandsbereiche in ein Beziehungsgeflecht stellt und so mehrere Hauptuntersuchungsperspektiven zusammenführt. Dieser neue Forschungsansatz stellt vor allem für die Analyse der Rolle von Minderheitensprachen in plurilingualen Kontexten eine systematische Weiterentwicklung dar, da Fragen zu sprachlichen Normen, Sprach- und Sprechereinstellungen, zur Genese von Mehrsprachigkeitssituationen, zum Sprachkompetenzerwerb, zu Diskurstraditionen und zur Bewertung des Sprachgebrauchs in inhaltliche Beziehung gesetzt werden, um Interdependenzen und Synergieeffekte für die Erforschung mehrsprachiger Kontexte aufzuzeigen. Mithilfe dieses Ansatzes kann unter anderem erforscht werden, wie und warum Sprecher:innen ihre Sprache(n) bewerten und welche Folgen sich daraus für die Stellung und den Gebrauch einer Minderheitensprache ergeben. Auf diese Weise kann erkannt werden, welche Faktoren dazu beitragen, dass Minderheitensprachen aufgegeben werden. Dieser programmatische Beitrag zeigt somit auf, dass die hohe Komplexität der Untersuchungsaspekte zur Kultur der regionalen Mehrsprachigkeit erkannt und berücksichtigt werden muss, wenn es um die Entwicklung und den Erhalt von Minderheitensprachen geht.

Schlüsselbegriffe: Sprachkultur, Kultur der regionalen Mehrsprachigkeit, Plurlinguismus, Sprachbewertung, Spracheinstellungen, Minderheitensprachen

1. Einleitung

Der vorliegende Band bringt Studien zu mehreren Forschungsgebieten im Bereich der Kultur der regionalen Mehrsprachigkeit, die sich auf Regionen mit spezifischen stratifizierten und gruppenbezogenen Mehrsprachigkeitskonstellationen beziehen, unter einem konzeptuellen Dach zusammen. Da sie aufzeigen, unter welchen Gesichtspunkten und Konstellationen die Mehrsprachigkeit jeweils untersucht werden kann, wird durch deren Zusammenschau der Ertrag dieser Zusammenführung deutlich. Die besondere Notwendigkeit dieses Ansinnens besteht also darin, durch das Zusammenführen verschiedener Forschungsansätze, die sich mit Mehrsprachigkeit oder mehrsprachigen Konstellationen beschäftigen, Querverbindungen zu individuell verfolgten Ansätze ←9 | 10→herauszuarbeiten und das Potential für ein Zusammenwirken dieser Methoden herauszustellen, um so die komplexen Gründe sowie die vielschichtigen Auswirkungen beim Zusammentreffen von Sprachen und Varietäten in mehrsprachigen Regionen besser verstehen zu können. Zu diesem Zweck brachte die Internationale Fachtagung über „Methoden zur Erforschung der Kultur regionaler Mehrsprachigkeit“, die vom 20. bis 22. September 2018 an der CAU zu Kiel stattfand, 28 verschiedene Forscher:innen aus vielen Ländern zusammen, die sich jeweils mit einem Aspekt oder einer spezifischen Situation regionaler Mehrsprachigkeit befassen. Ihre Expertise zu einer konkreten Konstellation war genauso gefragt wie die Auskunft über die Studien und Forschungsmethoden, mit denen ihr Gegenstand zu erfassen und zu erklären ist, denn jede Mehrsprachigkeitssituation ist nicht nur individuell verschieden, sondern sie wird traditionell auch in eigenen spezifischen Forschungsansätzen untersucht. Selbst die Hypothesen zu Gründen einer Verschiebung im Wertegefüge der Sprachen und zu Möglichkeiten des Erhalts von Sprachverwendungsbereichen haben sich historisch in Bezug auf eine ganz konkrete Situation heraus- und weiterentwickelt. Der generische Begriff Kultur sowie die verschiedenen Machtkonstellationen, aus denen die Wertegefüge resultieren, werden also nicht positivistisch, sondern als sozial situiert, historisch veränderbar und durch bestimmte sprachideologische Entstehungsbedingungen konditioniert aufgefasst. Der Begriff Sprachkultur soll daher hier nicht suggerieren, dass es sich per se in mehrsprachigen Gebieten um „eine einzige“ Kultur handele bzw. dass es nur eine Kultur gebe, sondern wir verstehen darunter unterschiedliche Wert- und Normvorstellungen, die die Sprachen und Sprechergruppen prägen und damit auch die verschiedenen sozialen Konstellationen und Verhaltensweisen, die in Zusammenhang mit der Existenz und dem Gebrauch mehrerer Sprachen bzw. Varietäten in einem spezifischen Raum stehen.

Entscheidend für den Einbezug sind in diesem Zusammenhang nicht die auf die Einzelgruppen bezogenen Werte- und Normvorstellungen bzw. der Sprachgebrauch dieser Gruppen, sondern es werden für die regionale Mehrsprachigkeit folgende grundlegende Faktoren als zentral angesehen: a) das gleichzeitige Auftreten verschiedener Sprachen bzw. Varietäten über b) einen langen Zeitraum in c) einem bestimmten Gebiet. So, wie man Kulturen als (diskursiv bestimmbare und) auf spezifische Gruppen bezogene Einheiten in diesen Räumen postulieren kann, so führt ihr zeitgleiches Existieren und Aufeinandertreffen in einem bestimmten Raum zu einem gemeinsamen kulturellen Geflecht, welches wir ebenfalls als Kultur – eben die Kultur der regionalen Mehrsprachigkeit – begreifen. Hieraus entstehen zwar einerseits sich durch soziale Stratifizierung und Hierarchisierung auszeichnende Gesellschaften, allerdings umfasst das Konzept ←10 | 11→von Kultur nach unserer Auffassung wesentlich mehr als die reine soziologische Feststellung, denn in Bezug auf Sprachen bzw. Varietäten impliziert dies u.a. auch, a) wann eine spezifische Sprache/Varietät b) in welchem Kontext c) von wem genutzt wird sowie vor allem d) welcher Wert dieser Sprache/Varietät und ihren Sprecher:innen zugeschrieben wird. Sprachkultur der regionalen Mehrsprachigkeit – eine Kultur des Sprechens und der Sprachverwendung – ist somit das Geflecht an allen Entscheidungen, Einstellungen, Darstellungen und Gebrauchsweisen von mehreren Sprachen in einem spezifischen kulturellen Raum. Hierzu gehört beispielsweise auch, welche Sprachen sich wie im öffentlichen Raum finden lassen, welche Sprachen in Institutionen verwendet und an Schulen gelehrt werden, welche Sprachen transgenerational weitergegeben oder durch andere Sprachen substituiert werden etc. Die Komplexität dieses Geflechts unterstreicht noch einmal die Wichtigkeit eines übergeordneten Zusammenbringens und Einordnens der verschiedenen Forschungsansätze, da von einem übergeordneten Blick aus neue theoretische sowie methodische Implikationen erwachsen, die im Folgenden aufgezeigt und in einem Schaubild in Kap. 4 dieses Artikels zusammengefasst werden.

2. Die Kultur regionaler Mehrsprachigkeit als Forschungsgegenstand

Wie bereits angedeutet, benennt Kultur regionaler Mehrsprachigkeit einen Forschungsgegenstand mit einem äußerst umfassenden Konzept, das eine Vielzahl von Forschungsansätzen berührt (zur Geschichte des Begriffs Sprachkultur siehe den Beitrag von L. Becker in diesem Band). Mit dieser Mehrsprachigkeit ist ein Feld der (Sozio-)Linguistik betroffen, das sich auf eine spezifische Konstellation bezieht, nämlich auf diejenige der regional auftretenden Mehrsprachigkeit in einem Gebiet,1 wobei die dort auftretenden Sprachen einzeln auch außerhalb dieser Mehrsprachigkeitszone bzw. des Sprachkontaktgebiets einen gesellschaftlichen Stellenwert besitzen (können). Davon sind weitere Mehrsprachigkeitskonstellationen, z.B. die zu Kenntnissen von Bildungssprachen wie Englisch, Französisch oder Russisch in deutschen Schulen, abzugrenzen.

Der Bezug von Sprachkultur auf regionale Mehrsprachigkeitssituationen impliziert variierende Funktionen und Gebrauchsweisen der einzelnen Sprachen ←11 | 12→oder sprachlicher Varietäten, denen ein unterschiedlicher gesellschaftlicher Wert zugeschrieben wird. Dieser Bezug führt zu einer sprecher- und gesellschaftsbezogenen Analyse, v.a. im Kontrast zur Kultur einer Nationalsprache aus monolingualer Perspektive, welche traditionell auf die Sprachpflege einer standardisierten Ausbauvarietät einer Sprache in präskriptiver Sichtweise begrenzt wird.2 Weder die Perspektive einer Nationalsprachenideologie noch die Loslösung sprachlicher Formen von Sprecher:innen und Gebrauchsdomänen bieten einen adäquaten Ansatz zur Analyse des Stellenwerts und Gebrauchs verschiedener konkurrierender Sprachvarietäten in spezifischen Mehrsprachigkeitssituationen.

2.1 Regional- und Minderheitensprachen – ein epistemologisches „Problem“

Zusätzlich zum bereits im vorherigen Kapitel angesprochenen Terminus der Sprachkultur ist eine Klärung unseres Verständnisses des Begriffs der Regionalsprachen vonnöten, da wir ihn in relationaler Verwendung gebrauchen. Zunächst ist anzuerkennen, dass der Terminus Regionalsprache3 umstritten ist, weil er selbst nicht neutral ist: einerseits suggeriert er, es gäbe Sprachen, die nicht „regional“ seien, andererseits wohnt ihm ein hierarchisierendes Konstruktionsmoment von einer Sprache als „regional“ inne, was impliziert, dass sie ein eingeschränktes Kommunikationsmittel sei. Dies ist v.a. im Gegensatz zur „einfachen“ Charakterisierung als Sprache der Fall, da der Terminus einerseits selbst zur Minorisierung beiträgt bzw. beitragen kann und andererseits der Sprache nur eine lokale Bedeutung ohne supralokale Kommunikationsweite – oft in Abgrenzung zu internationalen Standardsprachen – zugeschrieben wird. Diese Einengung streben wir hier ausdrücklich nicht an, sondern die Bezeichnung Regionalsprache ←12 | 13→wird als relationaler Begriff in Bezug auf eine bzw. mehrere andere Sprache(n), die eine bestimmte Region kulturell oder funktional-kommunikativ überschreitet bzw. überschreiten, verwendet; so können z.B. Weltsprachen wie das Französische regional auch in der Rolle einer Minderheitensprachen stehen, wie es beispielsweise in Neuschottland im Verhältnis zum dort dominanten Englisch zu beobachten ist.

In diesem Zusammenhang soll der von den Sprechergruppen als konstitutives Element der regionalen Identifikation gesehene positive Verweis auf die Regionalität durch den Begriff herausgestellt werden. Zudem wird in den Beiträgen dieses Bandes dezidiert auf diesen Problemkomplex hingewiesen, um die mit Macht einhergehende Hierarchisierung und die damit verbundenen Konsequenzen für die Sprecher:innen dieser Sprachen explizit zu machen. Die Verwendung des Terminus Minderheitensprachen enthält dagegen eine feste Zuschreibung zu einer Minderheitenrolle, die regional – also in der Region selbst (z.B. das Französische in Québec) – gar nicht gegeben sein muss, oft abwertend verstanden und daher von engagierten Personen bekämpft wird, weshalb er nur in passenden Kontexten Verwendung finden sollte. Die Bezeichnung als minorisierte Sprache legt den Finger in die politische Wunde des aktuellen Zustands der Unterordnung, der für die wissenschaftliche Aufarbeitung in bestimmten Kontexten sinnvoll sein kann, vor allem wenn es primär um die soziale Hierarchisierung einer Sprache bzw. ihrer Sprecher:innen geht. Das Konzept der minorisierten Sprachen wird vor allem dann angewandt, wenn eine Sprache in einem spezifischen Kontext majoritär (z.B. in spezifischen Regionen eines Nationalstaates) ist, aber in einem politisch übergeordneten Kontext in Kontakt zu und unter Druck einer dominierenden (Mehrheits-) Sprache steht.4

2.2 Einbettung des Bandes in den Kontext

Aufgrund der starken Verankerung der Erforschung der drei schleswig-holsteinischen Regionalsprachen (im Verhältnis zum überregional verwendeten Deutschen) an der CAU und des weiten Felds der in der romanistischen Soziolinguistik behandelten Fälle regionaler Mehrsprachigkeit, mit denen das Romanische Seminar der CAU in engem Verhältnis steht, lag es nahe, die Expertise zur regionalen Mehrsprachigkeit ganz unterschiedlicher Fälle zusammenzubringen, ←13 | 14→um auf diese Weise eine Selbstreflexion zur eigenen Forschung anzustoßen. Da die CAU (Kiel) mit der UBO (Brest) eine enge Partnerschaft führt (wie auch die Stadt Kiel mit der Stadt Brest), unser Romanisches Seminar mit der UPV (Universität des Baskenlandes in Vitoria/Bilbao) einen fruchtbaren Studierendenaustausch pflegt, da seit Jahrzehnten enge Forschungsbeziehungen zwischen der Germanistik der UFRGS in Porto Alegre und der Kieler romanistischen Linguistik über die pluridimensionale Dialektologie der mehrsprachigen Gebiete in Südbrasilien bestehen, insbesondere zum Sprachkontakt zwischen den deutschsprachigen Immigrationsgemeinden und dem Portugiesischen, und ebenfalls eine enge Forschungsverbindung mit der Universität Sainte-Anne in Neuschottland existiert, sind allein schon vier sehr unterschiedliche Mehrsprachigkeitskonstellationen in den Blick geraten: die zwischen dem in wenigen Gruppen präsenten Bretonischen und (hauptsächlich) dem Französischen, die zwischen dem in Gruppen Älterer und gebildeter Jüngerer häufig verwendeten Baskischen und dem Spanischen sowie die zwischen den älteren Nachfahren von Dialektsprecher:innen aus dem deutschsprachigen Raum und dem Portugiesischen als offizieller Sprache Brasiliens sowie diejenige der akadischen Minderheiten in Kanada in ihrem Verhältnis zur anglophonen Mehrheit. Es versteht sich von selbst, dass die realen Sprachkontaktsituationen erheblich mehr sprachliche Varietäten umfassen, z.B. das in der Bretagne anzutreffende Gallo, navarro-aragonesische Varietäten oder Französisch in Grenzgebieten des baskischen Sprachkontaktraums oder neben dem als Koiné fungierenden Hunsrückisch auch die Dialekte des deutschsprachigen Raums (Bairisch, Vestfaliano, Pomerano) oder des italienischen Raums (Talian etc.). Die Mehrsprachigkeitssituationen des Dänischen, Friesischen und Niederdeutschen in Schleswig-Holstein stellen sich ebenso als sehr spezifisch heraus, damit einhergehend die Erforschung dieser Sprachkontaktgebiete oder die Überlegungen zur Förderung von Sprachkompetenzen, die jeweils völlig anders ausfallen, wie in den Beiträgen dieses Bandes zu sehen ist (vgl. den Beitrag von Elmentaler / Langhanke, von Goll / Höder und von Walker).

Die Wertung der einzelnen Sprachen in diesen Gesellschaften ist jeweils sehr unterschiedlich, aber allen Situationen ist eines gemein: es stehen sich in einer Region minorisierte Sprachen einer bzw. mehreren Sprachen gegenüber, Gruppen von Sprecher:innen von Regionalsprachen, die in vielen Fällen auch die Mehrheitssprache sprechen, stehen einem Großteil der Gesellschaft gegenüber, der die Mehrheitssprache (bzw. daneben auch weitere Migrations- oder Bildungssprachen) verwendet. Da die Minorisierung in vielen Fällen zu einer Sprachsubstitution geführt hat, besteht prinzipiell die Gefahr, dass die Regionalsprachen in minorisierter Stellung immer weniger verwendet werden und ←14 | 15→somit das in ihnen vermittelte kulturelle Erbe in Vergessenheit gerät, wie es in großen Teilen bereits erfolgt ist. In all den beschriebenen Situationen gibt es Bemühungen zur Förderung der Regionalsprachen, z.B. durch gesetzgeberische Maßnahmen, durch institutionelle Stützung oder durch Unterricht, doch zeigen die Maßnahmen meist nur punktuelle Erfolge, ohne dass die Ersetzung im Sprachgebrauch signifikant revidiert würde.

Natürlich gibt es Gegenbeispiele, die sehr erfolgreich sind, so die Wiederbelebung des Hebräischen als Iwrit oder auch des Katalanischen, das nunmehr regional und gruppenspezifisch zur Mehrheitssprache geworden ist.5 Aber viele andere Mehrsprachigkeitssituationen bleiben durch ein (teilweise wachsendes) diglossisches Verhältnis mit starken Unterschieden im Stellenwert und im Gebrauch gekennzeichnet. Die soziolinguistische Forschung hat nun nicht die Aufgabe, die Regionalsprachen oder einzelne Sprachen überhaupt einseitig zu fördern, denn das muss die Gesellschaft in Form von engagierten Mitstreiter:innen leisten. Aber es besteht das Desideratum, zu verstehen und genau herauszuarbeiten, warum sich Sprachwechsel vollziehen und aus welchen Gründen diese selbst mit umfassenden Maßnahmen nur schwer zu beeinflussen sind. Der allgemeine Grund kann nur darin liegen, dass die Sprecher:innen und die Gesellschaft in überwiegender Mehrheit eine Form des sprachlichen Handelns gefunden haben, die einer Sprache in fast allen Bereichen eine klare Priorität einräumt. Schließlich sind sie es, die „frei“ entscheiden können und entschieden haben, welche Sprachen sie aktuell und für ihre Zukunft verwenden wollen. Allerdings gehen dieser „Freiheit“ bestimmte Machtkonstellationen voraus, durch die Sprecher:innen sich teils eben nicht „freiwillig“ dazu entscheiden, die Mehrheitssprache anzunehmen, gerade wenn der gesellschaftliche Druck bzw. die das ökonomische, symbolische und kulturelle Kapital betreffende soziale Ungleichheit so groß wird, dass ein Sprachwechsel unausweichlich scheint. Insofern ist die Mehrsprachigkeitssituation das Ergebnis eines gesellschaftlichen und kulturellen Prozesses auf mehreren Ebenen, das wir als Kultur regionaler Mehrsprachigkeit bezeichnen, bei der zumeist einer Sprache eine Vorrangstellung zukommt. Um diese Vorrangstellung und v.a. auch den Wandel im gesellschaftlichen Wert der regional verwendeten Sprachen zu verstehen, ist diese Kultur näher zu untersuchen.←15 | 16→

3. Forschungsfelder zur Kultur regionaler Mehrsprachigkeit

Die Beiträge des vorliegenden Bandes zeigen, jeder für sich, einzelne Aspekte auf, die für die Untersuchung von regionaler Mehrsprachigkeit relevant sind. Erst in der Zusammenschau und im Vergleich all dieser Ansätze kann erkannt werden, was alles eine Kultur regionaler Mehrsprachigkeit ausmacht – natürlich nicht in Gänze, denn dafür reichen die wenigen Einzeldarstellungen nicht aus. Aber sie zeigen dennoch auf, welche Aspekte doch immer wieder, von unterschiedlicher Seite, behandelt werden und welche für einzelne Fälle beleuchtet werden, wobei sie doch auch für andere Fälle eine interessante Untersuchungsfrage darstellen können. Wir gehen folglich davon aus, dass durch den Blick auf verschiedene Darstellungen von Studien und Methoden der Erforschung regionaler Mehrsprachigkeit ein Geflecht relevanter Untersuchungsaspekte erkennbar wird, das eine Kultur in Annäherung fassbar macht. Dabei wäre es vermessen zu denken, durch den Vergleich von weniger als zehn spezifischen Konstellationen könnte der gesamte Umfang an Beschreibungsebenen(-aspekten) einer sprachlichen Kultur sichtbar werden. Aber ein umfassenderer Ansatz zur Erforschung dessen, was wir Kultur nennen, scheint dadurch möglich zu sein. Zudem könnte es Erklärungen zu den Gründen der bestehenden Mehrsprachigkeitssituation liefern, die erst aus dem Zusammenwirken mehrerer Aspekte und aus einem Kern an Spracheinstellungen zu verstehen sind.

Einzelne Gründe für einen schwindenden Sprachgebrauch, wie z.B. der einer fehlenden Sprachkompetenz, sind in diesem Zusammenhang längst bekannt, aber Veränderungen an dieser einzelnen Stellschraube reichen bei weitem nicht aus, um einen Wandel im Sprachgebrauch zu bewirken. Es könnte sein, dass an vielen/allen Stellschrauben gedreht werden muss, um einen wirklichen Wandel zu erreichen, wie er für einzelne Regionen beobachtet werden konnte. Doch sind diese Beispiele erfolgreicher Veränderung im Sprachengebrauch kaum auf andere Situationen zu übertragen, denn sie beruhen u.a. auf historisch singulären Rahmenbedingungen, wie z.B. der religiös motivierten Wiederbelebung des Iwrits6 oder die jeweils unterschiedlichen soziolinguistischen Situationen des Baskischen in Spanien und Frankreich. Eine solche stark wirkende Motivation, die sicherlich mit für den Erfolg der sprachpolitischen Maßnahmen verantwortlich ist, lässt sich aber nicht einfach auf andere Fälle übertragen.

Insofern ist zu untersuchen – und das ist unser soziolinguistischer Ansatz –, welche Aspekte eine Kultur regionaler Mehrsprachigkeit ausmachen ←16 | 17→und in welchem Verhältnis diese zueinander stehen. Einen ersten Ansatz dazu möchte dieser programmatische Einleitungsartikel vorstellen und damit gleichzeitig aufzeigen, wie wertvoll die einzelnen Beiträge sind, eben gerade in ihrer Komplementarität. Aus den vorliegenden Beiträgen lassen sich mehrere Aspekte einer Sprachkultur ausmachen, d.h. wodurch die Kultur in Bezug auf Sprache stark geprägt wird und die daher vertieft zu erforschen sind, wenn die Veränderung der Sprachkultur (damit auch die des jeweiligen Sprachgebrauchs) verstanden werden will. Die folgenden Bereiche stellen die identifizierten und im Band in verschiedener Ausrichtung behandelten Domänen der Kultur regionaler Mehrsprachigkeit dar:

1)Konzeptualisierung von Sprache und Norm (Kapitel 3.1)

Details

Seiten
420
ISBN (PDF)
9783631884225
ISBN (ePUB)
9783631884232
ISBN (MOBI)
9783631884249
ISBN (Hardcover)
9783631884218
DOI
10.3726/b19963
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Dezember)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 418 S., 14 farb. Abb., 4 s/w Abb., 4 Tab.
Produktsicherheit
Peter Lang Group AG

Biographische Angaben

Elmar Eggert (Band-Herausgeber:in) Benjamin Peter (Band-Herausgeber:in)

Elmar Eggert ist Professor für Romanische Sprachwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Er lehrt in den Bereichen der Soziolinguistik, Sprachkultur, Diskurstraditionen und Diskursanalyse. Benjamin Peter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Habilitand im Bereich der Romanischen Sprachwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Er lehrt und forscht im Bereich der Soziolinguistik und zur Schnittstelle historischer Pragmatik und Syntax innerhalb der Kognitiven Linguistik.

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Titel: Kultur(en) der regionalen Mehrsprachigkeit/Culture(s) du plurilinguisme régional/Cultura(s) del plurilingüismo regional