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Die Kirchenbücher und die nationalsozialistische «Sippenforschung» im Bistum Hildesheim

Eine Studie zum kirchlichen Archivwesen im «Dritten Reich» 1933-1945

von Maik Schmerbauch (Autor:in)
©2023 Dissertation 378 Seiten

Zusammenfassung

Die Studie nimmt die Kirchenbücher im Bistum Hildesheim im «Dritten Reich» 1933 bis 1945 in den Blick. Nach der Machtübernahme 1933 verlangten die Nationalsozialisten den Nachweis der „arischen" Abstammung von deutschen Bürgern. Dieser konnte bis vor dem Jahr 1876 nur über die Einträge in den kirchlichen Tauf-, Trau- und Totenbüchern bis ins 17. Jahrhundert zurück nachgewiesen werden. Im Bistum Hildesheim wurde 1935 deshalb ein Kirchenbucharchiv am Domhof 15 eingerichtet, um dort die Urkunden über die Abstammung auszustellen. Bis Kriegsende 1945 wurden Tausende Urkunden durch das Kirchenbucharchiv ausgestellt. Dabei kam es zu Kontakten mit den nationalsozialistischen Behörden, die sich der Durchführung der «Sippenforschung» widmeten. Die historischen Prozesse im System dieser «Sippenforschung» werden von der Studie anhand zahlreicher Quellen aus Archiven und Bibliotheken analysiert und das Verhältnis von Katholischer Kirche und NS-Staat im Bistum Hildesheim betrachtet.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Résumé
  • Abstract
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 1.1 Der Anlass der Arbeit
  • 1.2 Forschungslage zur Archiv- und Kirchengeschichte im „Dritten Reich“
  • 1.3 Das Bistum Hildesheim
  • 1.4 Forschungsfragen und Methodik
  • 2 Die Kirchenbücher der Katholischen Kirche
  • 2.1 Kurzer Rückblick auf die Entstehung der Kirchenbücher
  • 2.2 Die Kirchenbücher im Bistum Hildesheim
  • 3 Auf dem Weg zum Kirchenbucharchiv 1935
  • 3.1 Die Konfrontation der Hildesheimer Kirche mit der „Sippenforschung“
  • 3.1.1 Das Bistum Hildesheim im Jahr 1933
  • 3.1.2 Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums 1933
  • 3.1.3 Die Kirchenbücherfrage im Bistum Hildesheim 1933-1934
  • 3.2 Die Einrichtung des Kirchenbucharchivs 1935
  • 3.2.1 Pläne zum Jahresanfang 1935
  • 3.2.2 Ferdinand Keseling als Leiter des Kirchenbucharchivs
  • 3.2.3 Das Kirchenbucharchiv nimmt die Arbeit auf
  • 3.3 Die Abgabe der Kirchenbücher durch die Pfarrgemeinden
  • 4 Die Arbeit des Kirchenbucharchivs
  • 4.1 Die Mitarbeiter des Kirchenbucharchivs
  • 4.2 Die Anfragen auf Abstammungsnachweise aus den Kirchenbüchern
  • 4.2.1 Die Zahl der Urkunden
  • 4.2.2 Die „Sippenforscher“ im Lesesaal
  • 4.2.3 Ungeduld und Beschwerden der Antragsteller
  • 4.3 Die komplexe Frage der Gebühren
  • 4.3.1 Beschwerden und Vorverhandlungen 1933-1934
  • 4.3.2 Die Regelungen zu den Gebühren seit März 1935
  • 4.4 Das Archivmanagement
  • 4.4.1 Die Einnahmen
  • 4.4.2 Verschiedene Betriebsausgaben
  • 5 Die Kirchenbücher in den Pfarrgemeinden
  • 5.1 Die Erhebung der Daten zu den Kirchenbüchern 1933-1935
  • 5.2 Die Anträge auf Kirchenbuchauszüge
  • 5.3 „Sippenforscher“ im Pfarrhaus
  • 6 Die Sorge um den Erhalt der Kirchenbücher
  • 6.1 Forderungen zu Bestandserhaltungsmaßnahmen
  • 6.2 Die Durchführung im Kirchenbucharchiv
  • 7 Die Verkartung und Photokopierung
  • 7.1 Das BGV und die Verkartung und Verfilmung
  • 7.2 Die Verkartungsaktionen des Heinrich Kloppenburg
  • 7.3 Die Landesbauernschaften
  • 7.4 Die Aktivitäten des „Rassenpolitischen Amtes“ des Gaus
  • 7.4.1 Der Familienforscher Wilhelm Kraut
  • 7.4.2 Die Gauverwaltung, das Regierungspräsidium und die Kirche
  • 7.5 Die Landesarbeitsgemeinschaft und das Bistum
  • 7.6 Die Verkartung und die Pfarrgemeinden
  • 7.7 Zusammenfassung
  • 8 Die Entstehung einer Archivpflege
  • 8.1 Die Kirchlichen Archivalien
  • 8.2 Die Archivpflege beginnt 1936
  • 8.2.1 Das Bistum Fulda
  • 8.2.2 Das Erzbistum Paderborn
  • 8.2.3 Das Bistum Limburg
  • 8.2.4 Das Bistum Münster
  • 8.2.5 Das Bistum Trier
  • 8.2.6 Das Erzbistum Köln
  • 8.3 Archivpflege im Bistum Hildesheim
  • 8.4 Absichten des Geheimen Preußischen Staatsarchivs
  • 9 Das Kirchenbucharchiv im Krieg 1939-1945
  • 9.1 Anordnungen zur Kirchenbuchführung durch Staat und BGV
  • 9.2 Der Schutz der Kirchenbücher während des Krieges
  • 9.2.1 Die Vorgaben für den Luftschutz
  • 9.2.2 Der Luftschutz in den Pfarrgemeinden
  • 9.2.3 Das letzte Kriegsjahr
  • 9.3 Das Archivmanagement im Krieg
  • 9.3.1 Veränderungen beim Abstammungsnachweis
  • 9.3.2 Die Einrichtung der Bildstelle
  • 10 Widerstand gegen das System der „Sippenforschung“?
  • 10.1 Denunziationen gegen kirchliche Stellen
  • 10.2 Informationen über die jüdische Abstammung in Kirchenbüchern
  • 10.3 Widerstand im Bistum Hildesheim?
  • 11 Die Rettung der Kirchenbücher 1945
  • 12 Das Kirchenbucharchiv nach dem Krieg
  • 13 Schlussbetrachtung und Ergebnisse
  • 14 Dokumentenanhang
  • 15 Abbildungen
  • 16 Quellen- und Literaturverzeichnis
  • 16.1 Quellenverzeichnis
  • 16.1.1 Quellensammlungen
  • 16.1.2 Quelleneditionen
  • 16.1.3 Archivbestände
  • 16.1.4 Publizistik
  • 16.1.5 Webquellen
  • 16.2 Literaturverzeichnis
  • 17 Personenindex
  • 18 Ortsindex mit Pfarrgemeinden
  • Series Index

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Abkürzungsverzeichnis

Anzeiger

Kirchlicher Anzeiger des Bistums Hildesheim

BAH

Bistumsarchiv Hildesheim

BArch

Bundesarchiv

BBG

Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933

BGV

Bischöfliches Generalvikariat Hildesheim

HAZ

Hildesheimer Allgemeinen Zeitung

Hss.

handschriftlich

GStA PK

Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz

Mss.

maschinenschriftlich

NLA

Niedersächsisches Landesarchiv

NSLB

Nationalsozialistischer Lehrerbund

PfA

Pfarrarchiv

PrMfWKuV

Preußisches Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung

RfS

Reichsstelle für Sippenforschung

RFSS

Reichsführer SS

RMI

Reichsministerium des Innern

RPMI

Reichs- und Preußischer Minister des Innern

RPRKA bzw. RKM

Reichs- und Preußischer Minister für die kirchlichen Angelegenheiten

RSA

Reichssippenamt

SA

Sturmabteilung

SS

Schutzstaffel

StA

Staatsarchiv

SfR

Sachverständiger für Rasseforschung

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1 Einleitung

1.1 Der Anlass der Arbeit

Forschungen zur kirchlichen Archivgeschichte als ein Teil der historischen Archivwissenschaft wie auch der (Kirchen-)Geschichte sind ein Forschungsdesiderat der gegenwärtigen Archiv- und Geschichtswissenschaft.1 Die Motivation des Autors, sich des Themas anzunehmen und die vorliegende Forschung zu präsentieren, hat ihren Ursprung in den vergangenen zehn Jahren durch regelmäßige Archivrecherchen zur kirchlichen Archivgeschichte mit dem Schwerpunkt der schlesischen (Erz-)Bistümer Breslau2 und ←19 | 20→Kattowitz.3 Hinzu kamen vereinzelte Untersuchungen über das Bistum Hildesheim für den Zeitraum im 19. und 20. Jahrhundert.4 Auch zu weiteren ←20 | 21→Bistümern im deutschen Raum konnte der Autor zunächst partielle Forschungsdesiderate reduzieren.5 Bei seinen Untersuchungen stieß er auf die Frage des engeren Verhältnisses hinsichtlich der Kirchenbücher der Katholischen Kirche und der NS-„Sippenforschung“. Das erforschte er exemplarisch anhand des deutschen Erzbistums Breslau für den Zeitraum 1933-1945. Die Forschungen zu Breslau konnte er aufgrund der eher lückenhaften historischen Überlieferung in dem heutigen Diözesanarchiv Wrocław, wegen privaten Gründen sowie aufgrund infrastruktureller Hemmnisse für ausländische Forscher im Wrocławer Archivwesen, leider nicht abschließend in einem noch größeren historischen Forschungskontext bearbeiten.

Das Interesse am Thema blieb für den Autor bestehen. Denn das gleiche Phänomen dieses Verhältnisses der Katholischen Kirche und der NS-„Sippenforschung“ im „Dritten Reich“ betraf nicht nur das Erzbistum Breslau, sondern auch viele andere deutsche (Erz-)Bistümer in den beiden Jurisdiktionsbezirken der Katholischen Kirche, und zwar der Freisinger Bischofskonferenz für die bayerischen (Erz-)Bistümer und der Fuldaer Bischofskonferenz für die preußischen (Erz-)Bistümer. Zur Fuldaer Bischofskonferenz gehörte bis 1945 das heutige Heimatbistum des Autors, das niedersächsische Diaspora-Bistum Hildesheim, das in der vorliegenden Arbeit im Mittelpunkt steht. Die vorliegende Arbeit markiert deshalb einen Endpunkt der jahrelangen Forschungen des Autors auf diesem Themengebiet. Er wird sich zukünftig anderen Gebieten der modernen Kirchengeschichte sowie der Archivwissenschaft widmen.

1.2 Forschungslage zur Archiv- und Kirchengeschichte im „Dritten Reich“

Gegenwärtig gibt es neben den Forschungen des Autors katholischerseits vereinzelte Studien zum dem Thema, insbesondere über den bayerischen Raum.6 ←21 | 22→Der Münchner Diözesanarchivar Peter Pfister motivierte vor einigen Jahren zu einer grundlegenden kirchenhistorischen Studie über das Thema der Kirchenarchive im „Dritten Reich“7, ebenso der frühere Kölner Diözesanarchivar Reimund Haas.8 Haas rief dazu auf, „das Defizit der kirchlichen Archivgeschichte der großen Konfessionen“ zu reduzieren, wobei er primär die Forschungen über die Katholische Kirche ins Auge fasste.9 Denn über das Verhältnis der NS-„Sippenforschung“ zur Evangelischen Kirche erschien vor einigen Jahren bereits ein Sammelband, in dessen Beiträgen die Katholische Kirche kaum zur Sprache kam.10 Mit diesem Werk wurde Grundlagenarbeit zur Evangelischen Kirche ←22 | 23→geleistet, und nähere territoriale Untersuchungen zu dieser gab es dann in der weiteren Folge.11

Aus dem Bereich der säkularen Geschichtswissenschaften sind in den letzten zwei Jahrzehnten Untersuchungen zur NS-„Sippenforschung“ und zum staatlichen Archivwesen während des „Dritten Reiches“ 1933-1945 veröffentlicht worden. Dazu zählt z.B. die Dissertation von Diana Schulle aus dem Jahr 2001 zur Reichsstelle für „Sippenforschung“ (weiter abgekürzt: RfS). Sie stellte die Entwicklung und den Werdegang dieser Behörde in Grundzügen dar, ging aber kaum auf die Beziehungen der RfS zur Katholischen Kirche, und damit auch nicht im Speziellen auf die Bedeutung der Kirchenbücher für die RfS ein.12 Die Entwicklung des „Ahnenpasses“ als systemischer Teil der NS-„Sippenforschung“ wurde von Volkmar Weiss vor einigen Jahren erforscht.13 Diese eng verwandte Frage von Genealogie und Ideologie während der NS-Herrschaft haben gegenwärtig bei den deutschen Staatsarchivaren ein erkennbares, wenn auch leichtes Interesse geweckt. Sie motivieren Forscher dazu, das Verhältnis von Staat und Kirche hinsichtlich der NS-„Sippenforschung“ anhand der vorhandenen schriftlichen Überlieferung zu untersuchen.14

Die Frage nach dem Umgang der Katholischen Kirche mit verfolgten „nicht-arischen“ Menschen oder auch mit „halbjüdischen Christen“ während des „Dritten Reiches“ ist ein angrenzendes Thema. Dieses steht hier aber nicht im Vordergrund, denn es liegen bereits bedeutende (kirchen-)historische Untersuchungen in der neueren Zeit zu diesem Bereich vor.15 Zur allgemeinen ←23 | 24→Geschichte der Genese der Kirchenbücher in der Katholischen Kirche seit dem Konzil von Trient im Jahr 1563 wie auch zur praktischen Führung der Kirchenbücher in den deutschen Pfarrgemeinden ist etwas an Literatur vorhanden.16

Anhand dieser unzufriedenen Forschungslage bestand in der deutschen (Kirchen-)Geschichte und der historischen Archivwissenschaft ein erkennbares Desiderat, das nun durch die vorliegende exemplarische Aufarbeitung reduziert wird.

1.3 Das Bistum Hildesheim

Im Zeitraum des Nationalsozialismus 1933-1945 waren verschiedenste gesellschaftliche und politische Einrichtungen und Institutionen im niedersächsischen Raum und reichsweit in die Frage des Verhältnisses von „Sippenforschung“ und der Katholischen Kirche im Bistum Hildesheim eingebunden. Die Vorarbeiten des Autors zum Thema zeigten auf, dass die vorhandene schriftliche Überlieferung dieser am Themenfeld beteiligten historischen Institutionen in den korrespondierenden staatlichen und kirchlichen Archiven eine fundierte Forschung zulässt. Es ist dazu wahrscheinlich, dass Zerstörungen bis zum Kriegsende 1945 oder Kassationen in den entsprechenden Archiven in den letzten Jahrzehnten mögliches ergänzendes Aktenmaterial vernichtet haben könnten, was nicht mehr im Einzelnen nachvollzogen werden kann.

Im Rahmen der Territorialgeschichte des Bistums Hildesheim gibt es zur Entwicklung des Kirchenbuchwesens und zur Kirchenbuchführung vom Mittelalter bis zur Nachkriegszeit eine Publikation des ehemaligen Hildesheimer Domkapitulars und zeitweise stellvertretenden Generalvikars Herrmann Seeland (1868-1954) aus dem Jahr 1949. Dort finden sich neben einer historischen Darstellung der Genese der Kirchenbücher partielle Erläuterungen zum Kirchenbucharchiv ←24 | 25→in den Jahren 1935-1945. Seelands Angaben zum Kirchenbucharchiv sind als Typus der Erinnerungsliteratur eines einzelnen Priesters aus den ersten Nachkriegsjahren zu behandeln. Dennoch sind seine Ausführungen ein Zugang zu der Bedeutung der Kirchenbücher in dem niedersächsischen Bistum.17 Das Quellenwerk des ehemaligen Hildesheimer Bistumsarchivars Hermann Engfer (1907-1975) zur Geschichte des Bistums Hildesheim im „Dritten Reich“ liefert keine separaten Quellen zur Arbeit des Kirchenbucharchivs.18 Sein Nachfolger Friedrich Eymelt (1939-2003)19 beschäftigte sich im Jahr 1983 kurz mit der Geschichte des Hildesheimer Kirchenbucharchivs als eine Vorgängerbehörde des heutigen Bistumsarchivs Hildesheim.20

Auch in der neuen sehr umfangreichen Biographie über den früheren Hildesheimer Bischof Joseph Godehard Machens (1886-1956) von Gabriele Vogt findet sich für den Zeitraum 1933-1945 keine Erwähnung des Kirchenbucharchivs, obwohl dieses einer der wichtigen Schachzüge des Bischofs nach Hitlers „Machtergreifung“ 1933 gegen die beginnenden Verfolgungsmaßnahmen der Nationalsozialisten war.21 Der Historiker Thomas Flammer erwähnt dieses ebenfalls nicht bei seinen Forschungen über das Bistum Hildesheim im Nationalsozialismus.22 Das Buch „Führer durch die Bistumsarchive der katholischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland und in Westberlin“ gibt für das Bistum ←25 | 26→Hildesheim ebenfalls keine näheren Informationen über das Kirchenbucharchiv als den Vorgänger des heutigen Bistumsarchivs an.23

In publizistischen Quellen findet sich in einer Ausgabe der ‚Hildesheimer Allgemeinen Zeitung‘ (weiter abgekürzt: HAZ) vom November 1968 ein kurzer Bericht über die Rettung der Kunstdenkmäler am Hildesheimer Domhof nach dem Luftangriff von Alliierten auf Hildesheim am 22. März 1945, in dem auch auf die Rettung der Kirchenbücher durch den Hildesheimer Priester Clemens Stolte (1886-1948) eingegangen wird.24 Weitere kleinere publizistische Artikel über die Hildesheimer Kirchenbücher erschienen in den 1980er Jahren, ohne eine wissenschaftliche oder kritische Untersuchung für den Zeitraum 1933-1945 zu liefern. Zu Ostern 1986 bewertete ein Artikel der HAZ: „Die Geschichte des Hildesheimer Kirchenbucharchivs ist spannender als weithin bekannt“. Grund dafür war die erfolgte Wiedereröffnung des Kirchenbucharchivs an seinem früheren Standort am Domhof 24 im Jahr 1986, als es fortan wieder täglich für Benutzer aus dem In- und Ausland zugänglich wurde.25

Die Forschungslage stellt sich deshalb folgend dar: breitere und systematisch quellenbasierte wissenschaftliche Forschungen auf Grundlage des vorhandenen und für Forscher zugänglichen Quellenmaterials in den Hildesheimer und weiteren bedeutenden themenbezogenen Archiven und Bibliotheken gab es zum vorliegenden Thema im Bereich der (Kirchen-)Geschichte und der Archivwissenschaft wenig. Die vorliegende Studie wird dieses Forschungsdefizit verringern.

1.4 Forschungsfragen und Methodik

Das Forschungsanliegen der Studie ist es, basierend auf den vorhandenen Quellen in den themenrelevanten Archiven, den Zeitrahmen 1933-1945 in der Frage des Verhältnisses der Katholischen Kirche zur NS-„Sippenforschung“ für das Bistum Hildesheim grundlegend aufzuarbeiten. Auf welchem ←26 | 27→politisch-gesellschaftlichem Hintergrund und in welchen verschiedenen Etappen geriet nach der „Machtergreifung“ Hitlers am 30. Januar 1933 die Katholische Kirche im Bistum Hildesheim in das System der „Sippenforschung“ des neu entstandenen NS-Staates hinein? Wer wurde im Bistum Hildesheim zu den entscheidenden Trägern und zu Repräsentanten in der Frage von Kirchenbüchern, Familiengeschichte und eigener Abstammung, und wie gestalteten sich dabei die praktische Arbeit und die Aufgaben des Kirchenbucharchivs während der 1930er und der Kriegsjahre? Gab es im System der NS-„Sippenforschung“ ganz bestimmte Formen der Zusammenarbeit, des Widerstandes oder sogar einer offenen Kollaboration der Hildesheimer Kirche mit staatlichen Stellen, und gab es dabei auch gezielte Eingriffe des Staates in das Kirchenbuchwesen in einer eindeutig kirchenfeindlichen Zeit? Wie gestaltete sich in vergleichender Perspektive die globale Entwicklung eines kirchlichen Archivwesens durch die „Sippenforschung“ im Bistum Hildesheim gegenüber anderen deutschen (Erz-)Bistümern? Führen die neuen Erkenntnisse zu einer differenzierten Bewertung der Stellung der Katholischen Kirche und ihre Rolle im „Dritten Reich“, und damit zu ergänzenden Ansätzen in der modernen Katholizismusforschung?

Für die Bearbeitung dieser leitenden Forschungsfragen waren gemäß der archiv- und geschichtswissenschaftlichen Arbeitsmethode der Provenienz alle Archive einzusehen, die bis heute die schriftliche Überlieferung der beteiligten Behörden bewahren, die im Zeitraum 1933-1945 an der nationalsozialistischen „Sippenforschung“ im Allgemeinen im Deutschen Reich und im Speziellen im Bistum Hildesheim beteiligt waren. Als wichtigstes kirchliches Archiv ist das Bistumsarchiv Hildesheim zu nennen, das einen größeren Sachaktenbestand des Bischöflichen Generalvikariats Hildesheim (weiter: BGV) zur internen Arbeit des Kirchenbucharchivs und mit einer umfangreichen Korrespondenz mit staatlichen Stellen aufbewahrt. Die Akten im Bistumsarchiv wurden vom Autor vollständig eingesehen und nach der historisch-kritischen Methode ausgewertet.

Auch wurden die Bestände weiterer einschlägiger Archive in Hildesheim durchgesehen. Hierzu zählten das Stadtarchiv Hildesheim und das Kreisarchiv Hildesheim, da die Stadt Hildesheim und der Landkreis Marienburg Schriftwechsel mit dem BGV in der Frage der Kirchenbücher führten. Im Stadtarchiv Hildesheim wurde neben den Ausgaben einiger Zeitungen der dortige Fotobestand durchgeschaut. Allerdings waren die Ergebnisse wenig ergiebig. Das Kreisarchiv Hildesheim verfügte auch nur über wenige Dokumente zum Thema, da Akten aus dem Zeitraum 1933-1945 vom Kreisarchiv an das Niedersächsische Landesarchiv Hannover (weiter: NLA) abgegeben wurden. Nur partielle Informationen ←27 | 28→konnten aus dem Kreisarchiv inhaltlich zur Arbeit beitragen.26 Das Archiv der Region Hannover besitzt nach eigener Auskunft keine schriftliche Überlieferung zum Thema in seinen Beständen.27 In der Hildesheimer Dombibliothek konnte Sekundärliteratur recherchiert werden. Wichtig war die Sichtung der Akten der Gauverwaltung Südhannover-Braunschweig im NLA in dessen Zweigstelle Pattensen. Hier wurde ein bedeutender Sachaktenbestand eingesehen.

Als global beteiligte staatliche Stellen in Fragen der „Sippenforschung“ und des Kirchenbuchwesens im Deutschen Reich agierten die RfS und die Archivverwaltung des ehemaligen Preußischen Geheimen Staatsarchivs (heute: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, weiter: GStA PK) in Berlin-Dahlem. Aus verwaltungstechnischer Perspektive ist es wichtig zu wissen, dass die RfS 1935 aus dem Amt des 1933 zunächst ins Leben gerufenen „Sachverständigen für Rasseforschung“ (weiter: SfR) beim Reichsministerium des Innern (weiter: RMI) hervorging, und 1940 schließlich ins „Reichssippenamt“ (weiter: RSA) aufging. Das Bundesarchiv Berlin verfügt ebenfalls über einen Bestand zu diesen drei Behörden bis zum Kriegsende 1945. Das GStA PK hat die Hinterlassenschaft der damaligen Archivverwaltung mit den einzelnen Preußischen Staatsarchive in den preußischen Provinzen bis 1945 in seinen Beständen archiviert, in denen sich ein Schriftwechsel zwischen RfS und zu den kirchlichen Behörden hinsichtlich der Wichtigkeit der Kirchenbücher für die NS-„Sippenforschung“ findet. Neben diesen größeren Archiven kamen noch kleinere Provenienzen dazu, z.B. das Universitätsarchiv der Martin-Luther-Universität in Halle/Saale, das aber nur minimale, wenn auch interessante Informationen zulieferte. Neben dieser, insgesamt betrachtet, zufriedenstellenden, am Ende aber nicht überragenden archivischen Überlieferungslage wurden zeitgenössische Publikationen bis 1945, die i.d.R. aber in weltanschaulicher NS-Ideologie intendiert sind, auf ihren Evidenzwert überprüft und genutzt.

Nach der Öffnung der Akten des Pontifikats des Papstes Pius XII (1876-1958) in den Vatikanischen Archiven im März 2020 war es ursprünglich die Absicht des Autors gewesen, nach Konsultation mit dem Vatikanischen Archivdirektor auch Akten zum Thema in Rom einzusehen. Wenngleich dort entsprechende Dokumente zum Hildesheimer Kirchenbuchwesen wohl eher wenig zu erwarten waren, machte der Ausbruch des Corona-Virus in Europa eine gewünschte ←28 | 29→Archivreise nach Rom lange Zeit unmöglich. Es wäre historisch denkbar, dass sich der Papst zur Frage der Kirchenbücher im „Dritten Reich“ auch positioniert hat, doch muss eine Forschung darüber zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf sich warten lassen.

Für die Arbeit als (Kirchen-)Historiker besteht stets die Wahrscheinlichkeit, dass es für ein zu erforschendes Thema zum „Dritten Reich“ 1933-1945 erkennbare Überlieferungslücken gibt, v.a. aufgrund der Zerstörungen im Gebiet des Bistums Hildesheims und auch der Zerstörung Berlins im Zweiten Weltkrieg. Die Bearbeitung des Themas musste unter arbeitsökonomischen Gesichtspunkten erfolgen, so dass auch nicht immer alle angrenzenden Fragen diskutiert werden konnten. Weiterführende Forschungen zu den Letzteren sollten in neuen Projekten fortgeführt werden.

Ebenso muss der Autor konstatieren, dass in den meisten eingesehenen Archiven das Schriftgut in gut geordneter Form (z.B. paginiert), in anderen aber in schlecht nutzbaren Loseblattsammlungen vorlag. Daraus erwuchs den wissenschaftlichen Analysen des archiverfahrenen Autors zwar kein eminenter Nachteil, kostete aber erkennbar mehr Zeit, z.B. um die Schriftstücke erst in den chronologischen Zusammenhang zu bringen, auszuwerten und kritisch zu interpretieren. Der Autor als Archivar erkennt hier weitgehende positive Entwicklungen im staatlichen und kirchlichen Archivwesen, sieht aber trotzdem eminente Handlungsfelder in Fragen der Bestandserhaltung des historischen Materials. Zusammenfassend betrachtet konnte das Thema gemäß der Archivsituation zufriedenstellend bearbeitet werden.

Die Forschungen erfolgten anhand der klassischen historisch-kritischen Methode eines Historikers gemäß der Analyse der schriftlichen archivalischen Quellen. Viele von diesen Schriftstücken lagen nur handschriftlich und in altdeutscher Kurrentschrift sowie in Offenbacher und Sütterlin vor, und mussten deshalb vom Autor aufwendig transkribiert und zur Analyse aufbereitet werden. Die vorhandene zeitgenössische und wissenschaftliche Literatur wurde auf ihren Verwendungswert der inhaltlichen Brauchbarkeit überprüft. Die themenbezogene Literatur aus der NS-Zeit, i.d.R. Propagandaliteratur mit der entsprechenden NS-Terminologie, wurde nur für rein formale Angaben genutzt, und die NS-ideologischen Phrasen wurden im Text gekennzeichnet.

Zu Beginn sollen einige grundlegende Begriffe geklärt werden, die im Laufe der Arbeit dem Leser begegnen. Vor der NS-Ideologie waren Begriffe wie „Ahnenforschung“, „Familienforschung“ oder „Genealogie“ bereits in der Weimarer Zeit als Begriffe auch im Alltag nicht unüblich. Dabei handelte es sich nicht, auch nicht ansatzweise, um universitäre oder um andere akademische Forschungen, die im Rahmen von Forschung und Lehre nach wissenschaftlichen Prinzipien ←29 | 30→von Doktoren oder Professoren für ein bestimmtes Fach durchgeführt würden. Hat ein Fach „Genealogie“ im unpolitischen Gebrauch noch eine wissenschaftliche Relevanz, z.B. im Rahmen der Feststellung einer Ahnenprobe, befindet sich die Politisierung und Ideologisierung einer Forschung über „Volk“, „Sippe“ und „Blut und Boden“ auf einem ganz anderem Fundament wieder. Die Nationalsozialisten favorisierten seit 1933 den Begriff der „Sippenforschung“ rein aus ihrer rassistischen Ideologie heraus. Hier bedeutete die „Sippe“ nicht nur eine „Familie“, sondern einen „ganzen Kreis von Blutsverwandten“. Darunter wurden nur Menschen des „arischen Blutes“ verstanden, was alle anderen „nichtarischen“ Menschen ausschloss. Diesen sprach man dieses ideologische Charakteristikum ab und verurteilte sie offen als „minderwertig“ gemäß der Rassenideologie.28 Insofern zählte „Sippe“ im „Dritten Reich“ als „Blutsverbundenheit oder Blutsgemeinschaft der Menschen“ und ging über die genealogische Perspektive mit dem Begriff des Volkstums weit hinaus. Damit bereitete die radikale Anwendung der „Sippenforschung“ für viele Menschen im „Dritten Reich“ auch den rücksichtslosen und leidvollen Weg nach Auschwitz bereits vor, als menschenverachtende NS-Ideologie zur furchtbaren Wirklichkeit wurde.29

Die Nationalsozialisten ersetzten mit dem Begriff einer „Sippenkunde“ bzw. „Sippenforschung“ im Sprach- und Amtsgebrauch also den Begriff einer unpolitischen und säkularen Ahnenforschung bzw. Familienforschung der Vorjahre.30 Der einzelne Mensch, der seit April 1933 seinen Abstammungsnachweis aus den Kirchenbüchern für amtliche und berufliche Zwecke anforderte, betrieb keine „Sippen- oder Familienforschung“, sondern zunächst nur eigene „Ahnenforschung“ für den amtlichen Gebrauch. Dennoch waren beide Phänomene eng miteinander verbunden: aus der Frage des Blutsgedankens erwuchs gleichzeitig eine größere Bedeutung der „Genealogie“ und „Familienforschung“. Wer Familienforschung betrieb, sah sich zunehmend in das ideologische Weltbild des Nationalsozialismus integriert und verstand sich als „arisch“ und damit dem NS-Staat gegenüber loyal.31

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Die Arbeit wird diese vorgenannte NS-Terminologie zum rein wissenschaftlichen Gebrauch verwenden, wie es das Thema es verlangt. Dennoch werden explizite Ausdrücke dieser Zeit, die den offenkundigen rassistischen und menschenverachtenden Charakter des NS-Regimes belegen, als solche mit Anführungszeichen vermerkt.

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1 Vgl. dazu z.B.: Tobias Winter, Die Deutsche Archivwissenschaft und das „Dritte Reich“. Disziplingeschichtliche Betrachtungen von den 1920ern bis in die 1950er Jahre (= Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Forschungen 17), Berlin 2018; Wilfried Reininghaus, Archivgeschichte. Umrisse einer untergründigen Subdisziplin, in: Der Archivar, Zeitschrift für deutsches Archivwesen, hrsg. vom Landesarchiv Nordrhein-Westfalen im Auftrag des Verbandes der deutschen Archivarinnen und Archivare e.V. (VdA), Ausgabe 67 (2008), S.352-360; Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus. 75. Deutscher Archivtag 2005 in Stuttgart. Hrsg. von Robert Kretzschmar, Heiner Schmitt u.a., (=Tagungsdokumentationen zum Deutschen Archivtag, 10), Essen 2007; Archive und Herrschaft, Referate des 72. Deutschen Archivtages 2001 in Cottbus, hrsg. vom Verband deutscher Archivarinnen und Archivare (VdA), Siegburg 2002; Der Archivar, Ausgabe 4 (2017) mit dem Thema: Archive und der Nationalsozialismus; Nikolas Berg, Geschichte des Archivs im 20. Jahrhundert, in: Marcel Lepper, Ulrich Rauff (Hrsg.), Handbuch Archiv. Geschichte, Perspektiven, Aufgaben, Nördlingen 2016, S.57-76; Reimund Haas, Pfarrarchivpflege im Erzbistum Köln am Beispiel des Bergischen Landes, in: Archivpflege in Westfalen und Lippe, im Auftrag des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, hrsg. vom Westfälischen Archivamt, 26 (1986), S.59-93.

Details

Seiten
378
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631893517
ISBN (ePUB)
9783631893524
ISBN (Hardcover)
9783631891568
DOI
10.3726/b20388
DOI
10.3726/b20426
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (März)
Schlagworte
Katholische Kirche Kirchenkampf Kirchenbucharchiv Ariernachweis Rassenideologie Staatsbürger
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 378 S., 28 farb. Abb., 3 Tab.

Biographische Angaben

Maik Schmerbauch (Autor:in)

Maik Schmerbauch hat u.a. in Frankfurt, Berlin und Potsdam Geschichte, Katholische Theologie sowie Archiv- und Bibliothekswissenschaften studiert. Gegenwärtig ist er Leiter eines Kirchenarchivs in Berlin und Lehrbeauftragter für (Kirchen-)Geschichte an der Universität Hildesheim und der Archivwissenschaften an der Fachhochschule Potsdam. Seine Forschungsschwerpunkte liegen u.a. in der kirchlichen Archivgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert.

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Titel: Die Kirchenbücher und die nationalsozialistische «Sippenforschung» im Bistum Hildesheim