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Urheberrecht und Staat

Der Schutz von Individualinteressen und der Schutz des öffentlichen Interesses nach dem Urheberrechtsgesetz

by Lale Fröhlich-Heidemann (Author)
©2022 Thesis 302 Pages
Series: Europäische Hochschulschriften Recht, Volume E2203211257

Summary

Das Buch beschäftigt sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen « Urheberrecht und Staat ». Dieses entsteht regelmäßig dann, wenn « der Staat » in einer Rolle als Rechteinhaber selbst urheberrechtlichen Schutz für staatliche Dokumente in Anspruch nehmen möchte und nicht mehr als legislativ ausgestaltende Gewalt agiert. Diese Konstellation ist durch die höchstrichterlichen Entscheidungen im Fall der « Afghanistan Papiere » in das Zentrum der rechtswissenschaftlichen Diskussion gerückt. Die Autorin geht der Frage auf den Grund, inwieweit die Interessen der durch das Urheberrechtsgesetz geschützten Schöpfer von Werken in Ausgleich gebracht werden können mit weiteren am demokratischen Meinungsprozess beteiligten Personen und untersucht insbesondere die Rolle des « Staates » in diesem Gefüge.

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • A. Zusammenhang zwischen Urheberrecht und Demokratie
  • I. Gang der Untersuchung
  • II. Begriffsbestimmung
  • 1. Der Urheber in dieser Arbeit
  • 2. Geistige Auseinandersetzung
  • 3. Geistige Auseinandersetzung und Demokratie
  • 4. Freier und offener Kommunikationsprozess
  • 5. Öffentliches Interesse und öffentliches Informationsinteresse
  • 6. Missstand
  • 7. Staatliche Dokumente
  • 8. Investigativ-Journalismus im freien und offenen Meinungs- und Willensbildungsprozess
  • Erster Teil
  • B. Schutzbereich und Schranken des Urheberrechts
  • I. Begründung des Urheberrechts
  • 1. Individualistische Rechtfertigungsansätze
  • a) Durch den schöpfenden Akt entstehendes Recht
  • b) Durch die Persönlichkeit geprägtes Recht
  • c) Geistiges Werk begründet das Recht
  • 2. Kollektivistische Theorien
  • a) Ökonomische Effizienztheorie
  • b) Kulturpolitische oder demokratische Zielbestimmungen
  • 3. Einordnung
  • II. Der Urheber und das Recht am Werk
  • 1. Prüfungsmaßstab: Grundgesetz und EU-GRCh
  • 2. Materiellrechtlicher Schutz des Urheberrechts und sein Zweck - persönlichkeitsrechtliche und vermögenswerte Rechtspositionen
  • a) Vermögensrechtliche Komponente des Rechts des Urhebers am Werk
  • i. Artikel 14 GG
  • ii. Artikel 17 EU-GRCh
  • iii. Zwischenergebnis
  • b) Persönlichkeitsrechtliche Komponente des Rechts des Urhebers am Werk
  • i. Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 GG
  • ii. Urheberpersönlichkeitsrechtlicher Schutz auf europäischer Ebene
  • c) Aspekte der Kunst-, Wissenschafts- sowie der Meinungs- und Pressefreiheit
  • d) Zwischenergebnis
  • 3. Historischer Hintergrund des Schutzes geistiger Leistungen
  • a) Recht an Werken in der Geschichte
  • i. Von der Antike bis zum Buchdruck
  • ii. Der Buchdruck und das Privilegienwesen
  • iii. Verlags- und Autoreneigentum
  • iv. Argumentation mit Gemeinwohlinteressen
  • v. Urheberpersönlichkeitszentrierte Gesetzgebung
  • vi. Der Weg zum UrhG von 1965
  • b) Zwischenergebnis
  • 4. Das Urheberrecht schützt keine staatlichen Geheimhaltungsinteressen
  • III. Einschränkbarkeit des Urheberrechts
  • 1. Berührung von Verwertungs- und Urheberpersönlichkeitsrechten durch Schranken
  • 2. Rechtsquellen der Schrankenregelungen
  • 3. Schrankenregelungen abschließend
  • 4. Zweck der Schranken und Einordnung ihrer Rechtsstellung
  • a) Unterschiedliche Zwecke der Schranken
  • b) Schranken als Freiheiten
  • c) Gesetzgebungsebene
  • d) Anwendungsebene
  • i. Drei-Stufen-Test
  • ii. Verfassungsrechtliche Vorgabe
  • iii. Grundsatz der engen Schrankenauslegung aus methodischen Gründen
  • (1) Wortlaut
  • (2) Historie
  • (3) Systematik
  • (4) Telos
  • (5) Zwischenergebnis
  • iv. Rechtsprechung auf deutscher und europäischer Ebene
  • v. Geltende Auslegungsregel: der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
  • IV. Zwischenergebnis
  • C. Öffentliches Informationsinteresse im UrhG
  • I. Grundsätzliche Einordnung
  • II. Ausschließlichkeitsrecht – ein Instrument geistiger Auseinandersetzung
  • III. Schranken – ein Instrument geistiger Auseinandersetzung
  • 1. § 48 UrhG – öffentliche Reden
  • 2. § 49 UrhG – Zeitungsartikel und Rundfunkkommentare
  • 3. § 50 UrhG – Berichterstattung über Tagesereignisse
  • 4. § 51 UrhG – Zitatfreiheit
  • 5. Zwischenergebnis
  • IV. Geistige Auseinandersetzung im UrhG
  • Zweiter Teil
  • D. Klassische Sichtweise: Urheberrecht als Einschränkung der Kommunikationsgrundrechte
  • I. Kommunikationsgrundrechte
  • 1. Schutzbereich der Kommunikationsgrundrechte
  • a) Grundgesetz
  • b) EU-GRCh
  • 2. Zwischenergebnis
  • II. Eingriff in die Kommunikationsgrundrechte
  • 1. Verfassungskonformer Eingriff in die Kommunikationsgrundrechte
  • 2. Interessenabwägung im Einzelfall
  • 3. Urheberrechtliches Werk im Schutzbereich der Kommunikationsgrundrechte
  • III. Staatliche Stellen machen Urheberrecht geltend
  • 1. Glyphosat Gutachten
  • a) Sachverhalt
  • b) Schranken
  • 2. Afghanistan Papiere
  • a) Sachverhalt
  • b) Schranken
  • 3. Zusammenfassung
  • IV. Kategorisierung des Vorwurfs des „Zensurheberrechts“
  • E. Ein Sonderfall: Eine staatliche Stelle beruft sich auf Urheberrecht
  • I. Das Urheberrecht und staatspolitische Geheimhaltungsinteressen
  • 1. „Vorteil“ des Urheberrechts gegenüber dem Presserecht
  • 2. Bedeutung des IFG im Zusammenhang mit den Beispielsfällen
  • 3. Lösungsansätze
  • a) Ein subjektives Element für den Urheberrechtsschutz?
  • b) Unzulässige Rechtsausübung
  • i. Grundsatz von Treu und Glauben
  • ii. Voraussetzungen von § 242 BGB
  • (1) Rechtliche Sonderverbindung
  • (2) Fallgruppe der unzulässigen Rechtsausübung wegen Fehlens eines schutzwürdigen Eigeninteresses
  • (3) Umfassende Interessenabwägung
  • c) Zwischenergebnis
  • II. Schutzfähigkeit von Dokumenten aus der Sphäre einer staatlichen Stelle
  • 1. Amtliche Werke
  • a) Voraussetzungen von § 5 UrhG
  • b) Zwischenergebnis
  • c) Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 5 UrhG
  • i. Verfassungsrechtliche Einordnung
  • ii. Historischer Hintergrund von § 5 UrhG
  • iii. Verhältnis von § 5 UrhG zum IFG
  • iv. Zwischenergebnis
  • 2. Zwischenergebnis: Das UrhG und das öffentliche Interesse an amtlicher Publizität
  • 3. Anwendungsbereich des „Werks“
  • III. Staatliche Stellen und derivativ erworbenes Urheberrecht
  • 1. Unübertragbarkeit des Urheberrechts
  • 2. Urheberrecht von Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst
  • a) Grundrechts(un)fähigkeit staatlicher Stellen
  • b) Nutzungsrechte
  • i. Derivativ erworbene Nutzungsrechte – staatliche Stellen sind nicht grundrechtsberechtigt
  • ii. Lösungsansatz: verfassungskonforme Auslegung der Rechtsposition staatlicher Stellen
  • (1) Vorbemerkungen
  • (2) Vermutungsregel
  • (3) Verfassungskonforme Auslegung am Beispiel des § 50 UrhG
  • (a) Berichterstattung
  • (b) Tagesereignis
  • (c) Im Verlauf des Tagesereignisses wahrnehmbares Werk
  • (d) Vorherige Zustimmung nicht mehr erforderlich
  • (e) Umfang der freigestellten Nutzung
  • iii. Zwischenergebnis
  • c) Urheberpersönlichkeitsrecht – insbesondere Erstveröffentlichungsrecht
  • i. Staatliche Stellen machen Erstveröffentlichungsrecht geltend
  • (1) Grundrechtsfähigkeit von Beamten in Erfüllung öffentlicher Aufgaben
  • (2) Auslegung des § 43 UrhG im Licht der Übertragungszwecklehre
  • (3) Verfassungskonforme Auslegung von § 43 UrhG
  • (4) Zwischenergebnis
  • ii. Verfassungs- und UrhG-konfome Auslegung von § 12 UrhG
  • (1) Entscheidung des Bundesgerichthofs in Sachen Afghanistan Papiere II
  • (2) Interessenabwägung
  • (3) Verfassungskonforme Reduktion
  • (4) Analoge Anwendung des § 50 UrhG
  • (5) Gesetzgebungsvorschlag
  • d) Zwischenergebnis hinsichtlich Nutzungs- und Urheberpersönlichkeitsrecht
  • IV. Widerrechtlichkeit
  • 1. Notstand
  • 2. Nachgeschaltete Abwägung
  • 3. § 193
  • 4. Zwischenergebnis
  • IV. Zwischenergebnis
  • F. Demokratieprinzip und Urheberrecht
  • I. Voraussetzungen der Aktivlegitimation nach § 97 Absatz 1 UrhG
  • 1. Zustimmung
  • 2. Eigenes berechtigtes Interesse
  • 3. Zwischenergebnis
  • II. Besonderheit der Rechtsposition der staatlichen Stellen
  • 1. Demokratietheoretische Erwägungen und das UrhG
  • a) Netanel: Urheberrecht als demokratiefördernde staatliche Maßnahme
  • i. Urheberrechtlicher Schutzgegenstand
  • ii. Drei Funktionen
  • (1) Produktionsfunktion
  • (2) Strukturfunktion
  • (3) Ausdrucksfunktion
  • b) Einordnung des Ansatzes Netanels
  • i. Produktionsfunktion
  • ii. Strukturfunktion
  • iii. Ausdrucksfunktion
  • c) Dogmatische Übertragbarkeit der Ideen Netanels
  • d) Übertragbarer Inhalt
  • i. Ausschließlichkeitsrecht
  • ii. Schranken
  • iii. Zwischenergebnis
  • 2. Bedeutung der Demokratie für das UrhG
  • III. Lösungsvorschlag: Anpassung des § 97 UrhG
  • G. Ausblick
  • Literaturverzeichnis

←18 | 19→

A. Zusammenhang zwischen Urheberrecht und Demokratie

I. Gang der Untersuchung

Wöchentlich gibt die Bundesrepublik Deutschland militärische Lageberichte über Auslandseinsätze beim Bundesverteidigungsministerium in Auftrag, welche als „Unterrichtungen des Parlaments“ (UdP) Verschlusssachen der niedrigsten Geheimhaltungsstufe „VS – Nur für den Dienstgebrauch“ qualifiziert sind. Die Funke Medien NRW GmbH1 betreibt das Internetportal der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung und beantragte Zugang zu sämtlichen UdP aus den Jahren 2001 bis 2012 nach dem Informationsfreiheitsgesetz des Bundes (IFG).2 Dieses Begehren wurde ihr unter Verweis auf sicherheitsempfindliche Belange der Bundesrepublik versagt. Insofern wird in der Folge in dieser Arbeit davon ausgegangen, dass die Interessen mit denen sich staatliche Stellen auf das Urheberrecht berufen, sicherheitspolitischer Natur sind. Auf unbekannten Wegen gelangte Funke Medien NRW dennoch an einen Großteil der UdP und veröffentlichte einige von diesen sodann als „Afghanistan Papiere“ mit einem Einleitungstext, weiterführenden Links und einer Einladung zur interaktiven Partizipation auf ihrer Website. Gegen diese Veröffentlichung ging die Bundesrepublik Deutschland mit dem Mittel des Urheberrechts gegen die Funke Medien NRW vor und erhob schließlich Klage, der die Instanzen bis zum BGH Recht gaben. Dieser legte dem EuGH Vorlagefragen vor, insbesondere mit Blick auf die Berücksichtigung der EU-Grundrechtecharta (EU-GRCh)3 im Urheberrecht. Auf die Entscheidung des EuGH hat der BGH nun eine Kehrtwende gemacht und die Veröffentlichung der Afghanistan Papiere als von der Freiheit der Tagesberichterstattungsschranke erfasst angesehen.4

Dieser und ähnlich gelagerte Fälle haben es unter dem Schlagwort des „Zensurheberrechts5 zu negativ konnotierter Berühmtheit gebracht. Bei Fällen, die ←19 | 20→mit dem Schlagwort des „Zensurheberrechts“ beschrieben werden, geht es um Konstellationen, in denen durch Instrumente, die das UrhG6 zur Verfügung stellt, die Verbreitung von Information von Seiten des Staates verhindert werden soll. Da es staatliche Stellen selbst sind, die ein Urheberrecht geltend machen, ist die Nähe zur staatlichen Zensur gegeben.

Das Urheberrecht ist dazu bestimmt, dem Urheber zu dienen. Es soll seine verwertungs- und urheberpersönlichkeitsrechtlichen Interessen wahren.7 Es wird in dieser Arbeit näher untersucht werden, ob diese auch ein Geheimhaltungsinteresse umfassen. Hinzu kommt, dass das Urheberrecht den Urheber in Bezug auf die Form eines Werkes schützt, nicht aber die Idee oder einen generellen Stil. Gerade diese Komponenten sollen der Allgemeinheit für weiteres Schaffen zugänglich bleiben. Eine Monopolisierung von Inhalten soll gerade nicht erfolgen.8 Es entsteht vor diesem Hintergrund der Eindruck, dass sich staatliche Stellen nicht aus urheberrechtlich geschützten Interessen auf das Urheberrecht berufen, sondern um unliebsamer Berichterstattung vorzubeugen.

Der Gebrauch eines Rechts zur Unterdrückung des Informationsflusses ist in einem demokratischen Staatsgefüge besonders heikel. So urteilte das BVerfG bereits in den 50er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts in seiner Lüth-Entscheidung, dass die „ständige geistige Auseinandersetzung“, nämlich der „Kampf der Meinungen“, das „Lebenselement“ einer „freiheitlich-demokratische[n] Staatsordnung“ sei.9 Der in der rechtswissenschaftlichen Literatur gängige Vorwurf, das Urheberrecht schränke die freie Rede ein, wiegt daher so schwer, weil die freie Rede schlechthin konstituierend für ein demokratisches System ist.10 Zu einer Demokratie gehört untrennbar eine geistige Auseinandersetzung. Wenn sich nun aber auf das Urheberrecht berufen wird, um bestimmte Dokumente der Öffentlichkeit nicht preiszugeben, dann hindert das Urheberrecht die ←20 | 21→geistige Auseinandersetzung über ebenjene Dokumente. Ist das Urheberrecht also demokratiehindernd?

Die Materie des Urheberrechts ist in vielerlei Hinsicht mit der „geistigen Auseinandersetzung“ verwoben. Einerseits schützt das Urheberrecht die eigene geistige Schöpfung, die in der Regel einen Prozess der geistigen Auseinandersetzung mit bereits Bestehendem voraussetzt. Das entstehende Schutzrecht kann aber, wie in dem oben genannten Beispiel, die geistige Auseinandersetzung mit dem geschaffenen Werk wiederum erschweren. In diesem Zusammenhang wird auch der bereits erwähnte Vorwurf laut, das Urheberrecht schränke die freie Rede ein und würde eine treffendere Bezeichnung als „Zensurheberrecht“ erfahren.11 Allerdings finden sich im UrhG diverse Schranken, die die geistige Auseinandersetzung mit urheberrechtlich geschützten Werken ermöglichen und so den Konflikt in möglichst schonender Weise lösen sollen. Diese Schranken finden ihr Pendant auf EU-rechtlicher Ebene. Nach diesen Regelungen könnte die geistige Auseinandersetzung (mit urheberrechtlichen Werken) nicht nur bedacht, sondern auch gewünscht sein. Und auch der Gewährung des Ausschließlichkeitsrechts selbst sind Argumente immanent, die eine geistige Auseinandersetzung eigentlich fördern können: Basiert nicht auch ein offener und pluraler Meinungsbildungsprozess auf gewissen Schutzrechten, die denen, die diesen Prozess befeuern, Sicherheiten in Form von (Immaterialgüter-)rechten gewährleisten? Hier sei nicht nur an materielle, sondern auch an (urheber-) persönlichkeitsrechtliche Sicherheiten, wie das Namensnennungsrecht gedacht.

Daraus ergibt sich die Frage, ob dem Urheberrecht nicht (auch) ein Zweck immanent ist, welcher das Ziel verfolgt, gesamtgesellschaftliche menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Dabei ist besonders eine Überlegung naheliegend: Urheberrechtliche Werke wirken in ihrer Umwelt und setzen damit unter Umständen die Basis für eine geistige Auseinandersetzung mit dem Werk durch einen Dritten.12 Das Ausschließlichkeitsrecht, welches an dem geistigen Werk erwächst, sichert dabei immaterielle Interessen (zum Beispiel das Namensnennungsrecht) als auch mögliche materielle Interessen (zum Beispiel Lizenzgebühren) des Schöpfers. Die geistige Auseinandersetzung der Bürger untereinander ist wiederum Voraussetzung und Teil eines freien und offenen Meinungs- und Willensbildungsprozesses.13 Der US-amerikanische Rechtswissenschaftler Neil ←21 | 22→Weinstock Netanel vertritt den Ansatz, den Zweck des Urheberrechts beziehungsweise des Copyrights14 nicht nur spezifisch in der geistigen Auseinandersetzung, sondern noch weiter in einer Staatsform, in demokratietheoretischen Erwägungen zu erblicken. Wenn man das Dasein des Urheberrechts demokratietheoretisch begründet, wird man hieraus ebenso ableiten, dass das Urheberrecht (auch) in dem Dienst eines freien und offenen Meinungs- und Willensbildungsprozesses stünde.15 Dieser Ansatz erkennt die Erforderlichkeit des öffentlichen Diskurses in einer Demokratie und strebt daher die Auseinandersetzung mit urheberrechtlich geschützten Werken in der Öffentlichkeit an.16

Die Arbeit ist in zwei Teile gegliedert: In dem ersten Teil der Arbeit (B. und C.) soll erarbeitet werden, ob das UrhG Anhaltspunkte liefert, wonach es nicht nur der möglichst umfassenden Gewährung des Ausschließlichkeitsrechts, sondern auch gesamtgesellschaftlichen Zwecken dient – konkret: der geistigen Auseinandersetzung. Dabei werden zunächst der Schutzbereich des Urheberrechts, sein Regelungszweck, sowie auch bestimmte der geistigen Auseinandersetzung dienende Schrankenregelungen bestimmt. Dieser erste Teil bereitet den Boden für die Argumentation des zweiten Teils (D., E. und F.), der untersuchen wird, ob sich staatliche Stellen mit Blick auf die Erkenntnisse aus dem ersten Teil auf das Urheberrecht berufen dürfen. Diese Frage stellt sich, da sich in den als „Zensurheberrecht“ bezeichneten Fällen staatliche Stellen auf das Urheberrecht berufen und zu vermuten steht, dass diese nie wie ein privater Rechteinhaber agieren, wenngleich jedoch das Urheberrecht auf private Rechteinhaber ausgelegt ist. Bejahendenfalls soll diskutiert werden, ob die Motivation aus der sich heraus auf das Urheberrecht berufen wird und betroffene Interessen der Nutzer einen Unterschied in der Aktivlegitimation machen oder gegebenenfalls machen sollten.

Die Untersuchung wird sich also zu Beginn der Frage widmen, inwiefern die dem Urheber gewährten Rechte verfassungsrechtlich abgesichert sind und was vom Schutzumfang des Urheberrechts umfasst ist (B.). Sodann soll der Blick ←22 | 23→auf die Schranken und speziell auf die Förderung geistiger Auseinandersetzung und damit auch des öffentlichen Informationsinteresses durch das UrhG gelenkt werden (C.). Der zweite Teil geht konkret auf Beispiele des bereits skizzierten Falls als „Zensurheberrecht“ (D.) und die rechtliche Bewertung und mögliche Lösung de lege lata ein (E.). Dem wird sich die Erarbeitung eines Lösungsvorschlags anschließen (F.). Darf sich der Staat des Urheberrechts bedienen, um eine Geheimhaltung sicherzustellen?

II. Begriffsbestimmung

1. Der Urheber in dieser Arbeit

Bei der Interessenlage im Urheberrecht handelt es sich nicht um einen bipolaren und wohl auch nicht um einen tripolaren Interessengegensatz.17 Es steht zu vermuten, dass aufgrund permanent technischen Wandels die Interessenlagen nicht einmal grundsätzlich und deutlich auseinander gehalten werden können, sondern dass man es mit einer diffusen, multipolaren und sich stets verändernden Interessenlage zu tun hat. Dabei gilt es auf der einen Seite die Urheber und auf der anderen Seite die Nutzer zu berücksichtigen, zugleich aber im Blick zu behalten, dass der Urheber im nächsten Moment auch selbst Nutzer und der Nutzer selbst Urheber sein mag.18 In dieser Interessen-Gemengelage werden sich außerdem Verwerter, Verwertungsgesellschaften sowie Leistungsschutzberechtigte wiederfinden. Hervorzuheben sind dabei Intermediäre, die als relativ neue Akteure wahrzunehmen sind.19 Für die grundlegende Herausarbeitung des Zusammenhangs zwischen dem Urheberrecht als Ausschließlichkeitsrecht für Individuen und der im öffentlichen Interesse stehenden geistigen Auseinandersetzung soll die Multipolarität allerdings in dieser Arbeit außer Acht gelassen werden.

2. Geistige Auseinandersetzung

Geistige Auseinandersetzung wird in dieser Arbeit als das Empfangen von Sichtweisen einer anderen Person, sowie die Reaktion darauf verstanden. Letztere kann sowohl in einer innerlichen Überlegung als auch (beziehungsweise oder) in ←23 | 24→einer Antwort darauf zu der ursprünglich diese Sichtweise vertretenden Person, oder aber zu einer Dritten bestehen. Es handelt sich um einen freien Austausch von mindestens zwei Personen über etwa politische, religiöse, kulturelle oder unterhaltende Themen, der in einem Dialog bestehen kann. Der Austausch muss frei sein, denn soweit eine Sichtweise vorgegeben ist, kann die Auseinandersetzung nicht mehr offen sein. „Offen“ bezeichnet in diesem Zusammenhang das Einbeziehen einer jeden möglichen Sichtweise. Zusammenfassend bedeutet „frei“ daher in diesem Zusammenhang einen herrschaftsfreien und, wenn gewünscht, öffentlichen Diskurs.

3. Geistige Auseinandersetzung und Demokratie

Maßstab dieser Arbeit ist die deutsche Rechtsordnung mit ihren internationalen Bezügen. Insofern sind sowohl das Grundgesetz20 als auch die Verträge der Europäischen Union21, und damit auch die EU-GRCh und die EMRK22, entscheidend.

Das Wort Demokratie leitet sich aus dem altgriechischem „Herrschaft des Staatsvolkes“ ab (Volksherrschaften).23 Für die Bundesrepublik Deutschland gibt Artikel 20 Absatz 1 Satz 1 GG die Demokratie als Staatsform vor. Neben dieser normativen Verankerung des Demokratieprinzips finden sich im Grundgesetz aber weitere wesentliche Regelungen, die das Demokratieprinzip ←24 | 25→verfassungsrechtlich konkretisieren. Bereits in Artikel 20 Absatz 2 GG finden sich zwei wesentliche Konkretisierungen des Demokratieprinzips. Satz 1 schreibt die Volkssouveränität vor, denn alle Staatsgewalt soll vom Staatsvolk hergeleitet werden. Satz 2 besagt, dass diese Gewalt durch Wahlen und Abstimmungen ausgeübt wird. Die Ausübung der Macht erfolgt also generell durch das Volk in Wahlen und Abstimmungen und konkret durch demokratisch legitimierte Staatsorgane. Regelungen, welche das Demokratieprinzip ferner konkretisieren, sind beispielhaft Artikel 38 Absatz 1 sowie Artikel 21 GG, welche das Prinzip der demokratischen Repräsentation enthalten. Das Grundgesetz schreibt demnach das Prinzip der mittelbaren (das heißt repräsentativen) Demokratie vor.24 Dementsprechend wird unter dem Begriff „Demokratie“ in dieser Arbeit auch eine Staatsform verstanden, in der alle Staatsgewalt vom Staatsvolk hergeleitet (Volkssouveränität), aber durch demokratisch legitimierte Staatsorgane ausgeübt wird. Es handelt sich um eine repräsentative Demokratie.

Das soeben auf Basis vom Grundgesetz erläuterte Verständnis von Demokratie für die Zwecke dieser Arbeit entspricht auch dem maßgeblichen Rechtsrahmen der Europäischen Union. Denn nach Artikel 10 Absatz 1 des EU-Vertrags beruht auch die Arbeitsweise der Europäischen Union auf der repräsentativen Demokratie. Dies gilt auch, obwohl diese nach Artikel 11 EU-Vertrag durch Elemente der partizipativen, assoziativen und direkten Demokratie ergänzt wird.25 Das Prinzip der (repräsentativen) Demokratie findet sich auch in den europäischen Verfassungstraditionen wieder (siehe Artikel 2 EU-Vertrag).26

Es wird von einer Konnexität zwischen einer freien Kommunikation und einer demokratischen Staatsform ausgegangen, welche ihre Wurzeln nicht erst in den genannten Gesetzestexten, sondern bereits in der Epoche der Aufklärung findet.27 Das Leitbild der freien Bildung einer öffentlichen Meinung ist seither als einer der Eckpfeiler staatstheoretischen Denkens verankert.28 Gemäß dem optimistischen Ideal soll sich in einem freien Kampf und Wettbewerb um ←25 | 26→Meinungen unter Gleichen die Macht der Vernunft durchsetzen.29 Diese Vorstellung geht zwar nicht von zwangsläufig objektiv richtigen Ergebnissen aus, „denn dieser Weg ist a process of trial and error (I. B. Talmon), aber doch so, daß er durch die ständige gegenseitige Kontrolle und Kritik die beste Gewähr für eine (relativ) richtige politische Linie als Resultante und Ausgleich zwischen den im Staat wirksamen politischen Kräften gibt“.30 Ein Kontrollieren durch verschiedene gesellschaftliche Akteure mutet als der beste Weg an, um einen staatlichen Willen zu entfalten.31 Insofern ist die geistige Auseinandersetzung eng mit einer freiheitlich demokratischen Staatsform verwoben.32

4. Freier und offener Kommunikationsprozess

Das demokratische Prinzip ist zwingend mit weiteren Grundvorstellungen verbunden, ohne die es nicht schlüssig gedacht werden kann und die daher mit einem Bekenntnis zur Demokratie in Einklang zu bringen sind. Insbesondere hängt mit einer demokratischen Staatsform die Grundvorstellung zusammen, dass ein gewisses Mindestmaß an politischer Willensbildung gewährleistet ist.33 Die Entscheidungsfindung zur Ausübung der Staatsgewalt – sei sie unmittelbar etwa in Form von Plebisziten oder mittelbar in Form von Wahlen, die ihrerseits Staatsorgane zur unmittelbaren Entscheidung legitimieren – vermag nur dann den wirklichen Willen des Staatsvolks abzubilden, wenn politische Entscheidungen aufgrund eines „freien und offenen Prozesses der Meinungs- und Willensbildung“ getroffen werden können.34 Dieser Grundannahme eilen wiederum zwei weitere Grundannahmen voraus, nämlich sowohl die politische Freiheit als auch die Gleichheit der Staatsbürger.35

←26 | 27→

Die Gewährleistung des freien und offenen Meinungs- und Willensbildungsprozesses, der erst die Ausübung der politischen Meinungsfreiheit, „einem der vornehmsten Rechtsgüter jeder freiheitlichen Demokratie36 ermöglicht, ist für „eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung […] schlechthin konstituierend [ist], denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist.“37 Daher muss mit der Entscheidung für eine demokratische Staatsform zwingend ein herrschaftsfreier öffentlicher Diskurs einhergehen können, welcher durch gewisse Grundrechte die Freiheit der Kommunikation und die Gleichheit der Bürger gewährleistet.38

Der Meinungs- und Willensbildungsprozess innerhalb der Gesellschaft ist durch eine Vielzahl an Akteuren gekennzeichnet. Insbesondere sind hier die Massenmedien, vor allem öffentlich-rechtliche und private Rundfunkanstalten, (Zeitungs-)Verlage, soziale Netzwerke und Intermediäre, aber auch Parteien, Verbände und sonstige Organisationsformen der Bürger, sowie Staatsorgane, aber selbstverständlich ebenso Individuen (wie etwa Blogger) zu nennen. Eine begrenzte Zahl von Kommunikationsströmen beziehungsweise überhaupt eine Standardisierung von Kommunikation lässt sich bei diesen Akteuren nicht festmachen.39 Die zahlreichen Wechselwirkungen, sind alle als geistige Auseinandersetzungen im hier verstandenen Sinne zu klassifizieren.

In der Bundesrepublik Deutschland soll der freie und offene Meinungs- und Willensbildungsprozess durch Artikel 5 Absatz 1 GG, durch die Meinungs-, Informations- und die Pressefreiheit gewährleistet werden.40 Diese sogenannten „Kommunikationsgrundrechte41 weisen einen Doppelcharakter auf. Einerseits ←27 | 28→handelt es sich um klassische Grundrechte im Sinne von Freiheitsrechten des Individuums gegenüber dem Staat. Andererseits fungieren sie im Interesse des demokratischen Prozesses als dienende Freiheiten insgesamt.42 Artikel 5 Absatz 1 GG gewährleistet damit neben der individuellen Kommunikation die öffentliche Meinungsbildung. Allerdings ergibt sich daraus keine „Aufwertung des Grundrechts“ im Verhältnis zur Beschränkung aus Allgemeinwohlbelangen oder aber bei Grundrechtskollisionen. Denn abgesehen von der Menschenwürde kennt das Grundgesetz keine Grundrechtshierarchie.43 Zu beachten ist allerdings mit Blick auf die Informationsfreiheit, dass diese lediglich das Recht beinhaltet, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Einen Anspruch auf Zugang zu nicht allgemein zugänglichen Quellen – auch solche aus staatlichen Stellen –, ist aus der Informationsfreiheit gemäß Artikel 5 Absatz 1 GG nicht herzuleiten und kann sich direkt aus der Verfassung allenfalls im Zusammenhang der Pressefreiheit und dem Demokratie- und Rechtstaatsprinzip ergeben.44

Eine besondere Rolle im Rahmen des freien und offenen Meinungs- und Willensbildungsprozesses kommt den Medien als sogenannte vierte Gewalt im demokratischen Verfassungsstaat zu. „Medien“ werden hier nicht nur im traditionellen Sinn – Rundfunk und Print – verstanden, sondern auch in allen neuen Formen, die sich durch Technologisierung in den vergangenen Jahren entwickelt haben. Denn sie sind es, die Informationen auf- und verbreiten und so für die nötige Bildung des Bürgers sorgen, sodass dieser politische Entscheidungen treffen kann. Hauptsächlich ihnen kommt im demokratischen Gefüge die Aufgabe zuteil, das öffentliche Informationsinteresse zu bedienen. Nur wer unterschiedliche Ansichten kennt, kann diese gegeneinander abwägen. Dafür, dass diese Informationen zu den Bürgern gelangen, sind die Medien zuständig. Ohne sie wäre ein freier und offener Meinungs- und Willensbildungsprozess nicht denkbar.45 Die Selbstbestimmung in der Demokratie kann nur durch ein gewisses Maß an Bildung gesichert sein. Nur der aufgeklärte Bürger kann Macht kontrollieren und insoweit bedingt sich unter demokratietheoretischen ←28 | 29→Gesichtspunkten die Legitimation der Staatsgewalt gegenüber dem Bürger mit der dem Bürger zuteil werdenden Bildung und Information.46

Für die Europäische Union gilt, dass Artikel 11 Absatz 1 EU-GRCh und Artikel 10 Absatz 1 Satz 1 und 2 EMRK eine identische Garantie in Bezug auf die Meinungs- und Informationsfreiheit kennen. Die Rundfunkfreiheit ist in der EU-GRCh durch die allgemeine Medienfreiheit in Artikel 11 Absatz 2 gewährleistet. Im Wesentlichen decken sich die Gewährleistungen des Grundgesetzes und der EU-GRCh mit Blick auf die Kommunikationsgrundrechte.47

5. Öffentliches Interesse und öffentliches Informationsinteresse

Das öffentliche Interesse soll die Belange der Allgemeinheit gegenüber Individualinteressen bezeichnen.48 Es handelt sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der in der Praxis im Einzelfall durch Exekutive und Judikative aus einer Gesamtschau jeweiliger einschlägigen gesetzlicher Regelungen ausgelegt werden muss.

Der durch den Staat zu gewährleistende freie und offene Meinungs- und Willensbildungsprozess wird hauptsächlich durch die Medien ausgefüllt. Im Rahmen dieses Prozesses können zugleich Interessen oder Rechte Betroffener beeinträchtigt werden, beispielsweise Staats- und Betriebsgeheimnisse oder Daten, Urheber- und Persönlichkeitsrechte. Die jeweils Betroffenen haben jedoch diese Eingriffe hinzunehmen, soweit der freie und offene Meinungs- und Willensbildungsprozess, wie er sich in der Berichterstattung wiederfindet, von überwiegenden, rechtlichen Interessen getragen wird. Der auf Seiten der Medien streitende und grundrechtlich in Form der Kommunikationsgrundrechte abgesicherte Legitimationsgrund für einen Eingriff in oben genannte Rechte ist das öffentliche Informationsinteresse.49 Das öffentliche Informationsinteresse ist ein Unterfall des öffentlichen Interesses. In dieser Arbeit ist das öffentliche Interesse in Gestalt des öffentlichen Informationsinteresses von Bedeutung und soll in der unter dieser Ziffer 5 genannten Beschreibung verstanden werden.

←29 | 30→

Das öffentliche Informationsinteresse ist bei der Abwägung miteinander kollidierender Grundrechte entscheidend, denn in Bezug auf die Ausübung der Kommunikationsgrundrechte ist ausschlaggebend, ob sich auf diese zum Zweck der privaten Auseinandersetzung oder zur Bildung der öffentlichen Meinung berufen wird, die, wie gesehen, für die Staatsform der Demokratie entscheidend ist.50

Für die Feststellung, ob ein öffentliches Informationsinteresse besteht, verbietet sich aus Gründen des Zensurverbots eine allgemeingültige Definition.51 Nichtsdestotrotz lassen sich Kriterien nennen, die als Indizien für sein Bestehen herangezogen werden können. So sind zwar die Kommunikationsfreiheiten unabhängig vom Inhalt der Kommunikation geschützt, nichtsdestotrotz kann an bestimmten Inhalten ein höheres Interesse bestehen als an anderen. Bei Informationen, die die politische Willensbildung betreffen, wird eher ein öffentliches Informationsinteresse anzunehmen sein als bei Informationen, die Individuen abseits der Öffentlichkeit oder aber rein kommerzielle Interessen betreffen.52 Ferner kann ein Indiz für das Vorliegen öffentlichen Informationsinteresses in der Relevanz für den freien und offenenen Meinungs- und Willensbildungsprozess selbst liegen, etwa weil ein Vorgang erstmals den Weg in die Öffentlichkeit findet.53

6. Missstand

Unter einem Missstand wird hier ein Zustand verstanden, der nicht der Rechtsordnung entspricht.54 Im Zweifel besteht stets ein öffentliches Informationsinteresse ←30 | 31→über Missstände. Dies besteht aus Gründen der Transparenz und aus Gründen des Korrektivs.55 Mit Blick auf das Transparenzinteresse gilt, dass offengelegte Informationen die Meinungs- und Willensbildung der Bürger beeinflussen. Nur unter Gewährleistung eines gewissen Maßes an Transparenz ist der Bürger aufgeklärt und damit in der Lage, mündig politische Strukturen mitzugestalten.56 Ohne dieses Mindestmaß an durch Transparenz gewährleisteter Aufklärung des Bürgers wäre die verfassungsrechtliche Entscheidung für eine repräsentative Demokratie schwer realisierbar. Die Staatsgewalt kann nur dann vom Volk, also den Bürgern ausgehen, wenn diese über die Handlung staatlicher Institutionen aufgeklärt sind.57 Das Interesse an dem Korrektiv folgt aus dem Interesse an der Transparenz. Sobald die Öffentlichkeit durch transparenten Umgang mit Informationen über Missstände informiert ist, folgt daraus in der Regel das Bestreben den Missstand zu beheben und zu korrigieren.

7. Staatliche Dokumente

Die unter dem Stichwort „Zensurheberrecht“ erfassten Fälle betreffen Dokumente aus privater Hand wie auch aus staatlichen Stellen. Da mit der grundgesetzlichen Entscheidung, den freien und offenen Meinungs- und Willensbildungsprozess durch Artikel 5 Absatz 1 GG zu gewährleisten, auch die grundgesetzliche Entscheidung für eine öffentliche Meinungsbildung und damit einen herrschaftsfreien öffentlichen Diskurs einhergeht, erscheint es besonders pikant, wenn an Dokumenten staatlicher Stellen „Urheberrechte“ zur Vermeidung ihrer Verbreitung geltend gemacht werden. Nicht nur erscheint dies als widersprüchlich im Verhältnis zu oben genannten grundgesetzlichen Bestimmungen. Hinzukommt, dass die Kontrolle der Staatsgewalt durch Verhinderung der Veröffentlichungen – insbesondere solcher staatlicher Stellen – erheblich eingeschränkt wird. Gegenstand dieser Arbeit sollen daher allein solche Dokumente sein, welche ←31 | 32→dem staatlichen Tätigkeitsbereich zuzuordnen sind (in der Folge: staatliche Dokumente). Da staatliche Dokumente eine Nähe zu amtlichen Werken gemäß § 5 UrhG aufweisen, wird auf die gängige Definition von „amtlich“ zurückgegriffen.58 Als „amtlich“ wird ein Werk verstanden, welches auf eine mit der Erfüllung öffentlicher, hoheitlicher Aufgaben betrauten Stelle, zurückzuführen ist.59 Diese in Erfüllung öffentlicher, hoheitlicher Aufgaben betrauten Stellen werden in dieser Arbeit als „staatliche Stellen“ bezeichnet. Einschränkend wird in dieser Arbeit der Begriff „amtlich“ auf solche Dokumente bezogen, die von im Staatsdienst beschäftigten Personen stammen, also etwa Beamten, Richtern, Soldaten und Angestellten im öffentlichen Dienst. Dokumente Dritter, die etwa im Auftrag von staatlichen Stellen erstellt wurden, müssten gesondert untersucht werden, da die Regeln über Urheberrechte in Dienstverhältnissen (§ 43 UrhG) keine Anwendung finden60 und darüber hinaus auch keine Dienstpflichten gegenüber einem Dienstherrn bestehen, sondern ein privatrechtliches Rechtsverhältnis der Auftragsarbeit zugrundeliegen wird.

8. Investigativ-Journalismus im freien und offenen Meinungs- und Willensbildungsprozess

Im Rahmen dieser Arbeit spielt der Investigativ-Journalismus eine wichtige Rolle. Denn die bereits oben unter dem Stichwort „Zensurheberrecht“ bekannt gewordenen Fälle betreffen die Frage, inwiefern Medien, die oftmals durch Investigativ-Journalisten recherchierte oder aber diesen zugespielte Dokumente veröffentlichen können, ohne sich der Gefahr der Urheberrechtswidrigkeit auszusetzen. Daher soll hier ein besonderes Augenmerk auf den Investigativ-Journalismus und seine Rolle im freien und offenen Meinungs- und Willensbildungsprozess gelenkt werden. Investigativ-Journalismus (lat. „investigare“ bedeutet aufspüren, erkunden, erforschen) ist eine Form des Journalismus, der sich umfassend und genau und daher in der Regel langwierig mit der Thematik, über die berichtet werden soll, in Form von Recherche auseinandersetzt. In der Regel handelt es sich thematisch um die Felder Gesellschaft, Politik und Wirtschaft. Durch investigativen Journalismus kann sich eine informierte Öffentlichkeit nicht nur bilden, sondern insbesondere auch ihre Funktion der Kontrolle ←32 | 33→als Staatsgewalt in einer repräsentativen Demokratie wahrnehmen.61 Investigative Journalisten nutzen häufig sogenannte Whistleblower als Quellen. Whistleblower sind Personen, die in ihrem Umfeld (schwerwiegende und erhebliche) Gefahren in gesellschaftlichen, politischen oder wirtschaftlichen Bereich aufdecken.62 Inhaltlich wird in der Regel ein öffentliches Informationsinteresse an dem durch Whistleblower aufgedeckten und durch Investigativ-Journalisten veröffentlichten Gegenständen bestehen. Es besteht daher eine Vermutung, dass der Schutz von Investigativ-Journalisten und ihren Informanten zugleich ein Schutz des freien und offenen Meinungs- und Kommuniktationsprozesses und damit indirekt des Demokratieprinzips ist.

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1 Im Folgenden: Funke Medien NRW.

2 Informationsfreiheitsgesetz vom 5. September 2005 (BGBl. I S. 2722), das zuletzt durch Artikel 44 der Verordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1328) geändert worden ist.

3 Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 14.12.2007 (ABl 2007 C 303/1), konsolidierte Fassung vom 07.06.2016 (ABl 2016 C 202/389).

4 Im Detail zu diesem Fall unter: D.III.2.

5 Beispielhaft: Semsrott, Zensurheberrecht: Formelle Fehler bei einstweiliger Verfügung zum Glyphosat-Gutachten, https://fragdenstaat.de/blog/2019/06/06/zensurheberrecht-landgericht-koln-formelle-fehler/; Kraetzig, Das Urheberrecht als Knebel, https://www.faz.net/einspruch/wie-das-urheberrecht-als-zensurheberrecht-missbraucht-wird-16667102.html?premium (zuletzt abgerufen am 26.05.2022).

6 Urheberrechtsgesetz vom 9. September 1965 (BGBl. I S. 1273), das zuletzt durch Artikel 25 des Gesetzes vom 23. Juni 2021 (BGBl. I S. 1858) geändert worden ist UrhG vom 9. September 1965 (BGBl. I S. 1273), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 28.November 2018 (BGBl. I S. 2014) geändert worden ist.

7 Im Detail unter: B.II.

Details

Pages
302
Year
2022
ISBN (PDF)
9783631887196
ISBN (ePUB)
9783631887202
ISBN (MOBI)
9783631887219
ISBN (Softcover)
9783631880272
DOI
10.3726/b20088
Language
German
Publication date
2022 (October)
Published
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 302 S.

Biographical notes

Lale Fröhlich-Heidemann (Author)

Lale Fröhlich-Heidemann studierte Rechtswissenschaften in Münster und Paris. Sie ist Richterin in der Freien und Hansestadt Hamburg.

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Title: Urheberrecht und Staat