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Spracharbeit mit Geflüchteten

Empirische Studien zum Deutscherwerb von Neuzugewanderten

by Karin Birkner (Volume editor) Britta Hufeisen (Volume editor) Peter Rosenberg (Volume editor)
©2022 Edited Collection 412 Pages
Open Access

Summary

Der im Gefolge der Fluchtbewegungen ab 2015 entstandene Forschungsfokus Geflüchtete in der GAL e.V. adressiert Forschungserfordernisse rund um Deutscherwerb und Integration unter den spezifischen Bedingungen von Flucht und Migration. Die Beiträge nehmen gelingende Erwerbsprozesse des Deutschen – als eine zentrale Voraussetzung für Integration und Partizipation – in den Blick: von Sprachförderung, Übergangsmanagement, Heterogenität, bildungssprachlichen Kompetenzen bis hin zu positiven Projekterfahrungen, und zwar in verschiedensten Bereichen wie der Schule, der Universität, am Arbeitsplatz oder im Ehrenamt.

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Karin Birkner / Britta Hufeisen / Peter Rosenberg Einleitung: Spracharbeit mit Geflüchteten – neue und bleibende Aufgaben
  • Themenschwerpunkt (I) Sprachförderung und Integration
  • Aspekte der sprachlich-kommunikativen Integration von Geflüchteten in der Arbeitswelt (Ibrahim Cindark / Santana Overath)
  • Mit oder ohne Unterricht? Erfolgsgeschichten geflüchteter Studierender und Studieninteressierter (Tamara Zeyer / Dietmar Rösler)
  • Chancen und Grenzen des integrativen Modells für die Spracharbeit mit neu zugewanderten SchülerInnen. Ein ethnographischer Einblick in eine Hamburger Stadtteilschule (Simone Plöger)
  • Themenschwerpunkt (II) Heterogenität
  • Zum Bildungshintergrund von Geflüchteten aus Eritrea und Somalia (Katharina Braunagel)
  • Sprachenbiografien junger Geflüchteter aus Syrien, Iran und Afghanistan (Johanna Holzer)
  • Mehrsprachige Unterrichtselemente in Vorbereitungsklassen (Stefanie Bredthauer / Nora von Dewitz)
  • Technikunterricht in Sprachlernklassen: Handlungs- und Produktorientierung im fachsensiblen Sprachunterricht (Sarah Olthoff)
  • Themenschwerpunkt (III) Bildungssprachliche Kompetenzen
  • Geflüchtete, Migranten oder Jugendliche mit DaZ? Zwischenergebnisse aus dem Projekt ForEST (Magdalena Michalak / Evelina Winter)
  • Entwicklung der mündlichen Erklärkompetenz bei Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteigern mit Erstsprache Arabisch in der Sekundarstufe I (Simone Lotter)
  • Mündliche Literatur. Zur Bildungssprachlichkeit illiterater Menschen (Katharina Brizić / Necle Bulut / Yazgül Șimșek / Verena Blaschitz)
  • Auf dem Weg zum selbstständigen Lernen – Sprachlernberatungen zur Unterstützung eigenständiger Schreiblernprozesse von Studienanwärter*innen mit Fluchterfahrung (Melanie Brinkschulte / Swetlana Meißner)
  • Themenschwerpunkt (IV) Projekte – Ideen – Konzepte: Ausblicke auf die Spracharbeit mit Geflüchteten
  • Digitale und analoge Best Practice in der Sprach- und Integrationsförderung. Erkenntnisse aus dem Projekt „Lernen – Lehren – Helfen“ (Jörg Roche / Patrick Zahn)
  • Ein Modell für Berufs- und Fachorientierung von Anfang an (Ellinor Haase / Bärbel Kühn / Geoff Tranter)
  • Pilotprojekt „Schreibförderung in studienvorbereitenden C1-Sprachkursen“ für Geflüchtete und ihre digitale Vermittlung (Brigitta Völkel)
  • PROFI in MINT: Stärkung der Region mit und durch geflüchtete Akademiker/innen (Thorsten Parchent)
  • Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
  • Reihenübersicht

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Karin Birkner / Britta Hufeisen / Peter Rosenberg

Einleitung: Spracharbeit mit Geflüchteten – neue und bleibende Aufgaben

1. Der Hintergrund

Im Gefolge der Fluchtbewegungen ab 2015 sammelte sich im Kontext der GAL-Jahrestagung 2016 eine Gruppe von Interessierten um Britta Hufeisen, um u.a. zu eruieren, welche Forschungserfordernisse rund um den Deutscherwerb und die Integration unter diesen spezifischen Migrationsbedingungen adressiert werden müssten. Fragestellungen rund um das Thema „Spracharbeit mit Geflüchteten“ lassen sich nur unzureichend in einzelnen Sektionen oder Symposien abbilden – so die Überlegungen –, sie liegen vielmehr quer zur GAL-Struktur und müssen fächer- und disziplinenübergreifend bearbeitet werden. Um dem gerecht zu werden, ersann der GAL-Vorstand das Format „Forschungsfokus“, was sich mittlerweile bewährt und etabliert hat. Ein Forschungsfokus ist ein an aktuellem Bedarf orientierter, zeitlich befristeter, aber kontinuierlicher Arbeitskontext, der seine Kooperationsformen ebenfalls je nach Bedarf und unabhängig von der GAL-Sektionenstruktur gestaltet. Im Falle des Forschungsfokus Geflüchtete war das ein offenes Netzwerk aus Nachwuchswissenschaftler*innen und arrivierten Linguist*innen, die sich regelmäßig zu Workshops trafen, um sich über laufende Studien und Qualifikationsarbeiten auszutauschen. Bis zur pandemiebedingten Unterbrechung solcher netzwerkaffinen Veranstaltungen fanden fünf Treffen statt, die einen intensiven fachlichen Austausch in einer offenen, sachorientierten und angenehmen Diskussionsatmosphäre ermöglichten. Es wurde immer wieder deutlich, dass die Deutschkompetenz von Geflüchteten eine der zentralen Voraussetzungen für soziale Integration und gesellschaftliche Partizipation ist. Somit gilt es, die besonderen Rahmenbedingungen für die sprachliche Arbeit im Kontext von Flucht zu reflektieren, vom Umgang mit Heterogenität im Unterricht bis zu den sprachlichen Erfordernissen für gelingende Integration, und zwar auf allen Ebenen unseres Bildungssystems, wie in ←9 | 10→der Schule, der Universität, am Arbeitsplatz oder im ehrenamtlichen Engagement. Darüber hinaus legt die Spracharbeit mit Geflüchteten eine Reihe von grundsätzlichen Fragen in den Bereichen Sprachvermittlung, Spracherwerb und Migration offen, die schon lange auf Lösungen warten.

2. Der Sammelband

Der vorliegende Sammelband bietet dem GAL-Forschungsfokus Geflüchtete eine Plattform, um Forschungsergebnisse mit wissenschaftstheoretischen, forschungsmethodischen und anwendungsorientierten Bezügen zu teilen und Ausblicke auf neue Forschungsfragen zu geben, die aus der Arbeit erwachsen. Er präsentiert einen Ausschnitt der Arbeiten, die seit 2016 entstanden sind und vom Austausch im Netzwerk begleitet wurden. Unter Bezug auf die Trias Theorie – Anwendungsorientierung – Praxis sollen beispielhaft und verallgemeinerbar Konsequenzen für die Sprach- und Fachdidaktik, die Unterrichtspraxis und -methodik gezogen werden, unter Berücksichtigung der Spezifika des schulischen, universitären und außerinstitutionellen Lernens. Dabei gibt es keine linguistischen, spracherwerbstheoretischen oder forschungsmethodischen Festlegungen, sondern angesichts drängender gesellschaftlicher und humanitärer Fragen gilt eine akademisch akzeptierte, aber auf die Lösung der Probleme gerichtete pragmatische Orientierung.

Die Publikation ist in vier inhaltliche Schwerpunkte untergliedert:

(I)Sprachförderung und Integration: Welche Unterstützungsmaßnahmen erleichtern den Übergang vom Sprachenunterricht in die Regelklasse, ins Studium oder in das Arbeitsleben? Wie sehen die Rahmenbedingungen aus, die bestehen bzw. benötigt werden, um den Herausforderungen zu begegnen? Wie kann die fachliche Qualifikation in Schule und Berufsvorbereitung mit dem Deutscherwerb auf niedrigem Sprachniveau vereinbart werden? Welche Formen und Medien bieten Lösungen für die verschiedenen Alters- und Niveaustufen?

(II)Heterogenität: Wie prägt sich Heterogenität im Sprachenunterricht mit Geflüchteten aus und wie sieht erfolgreicher Unterricht für solchermaßen vielfältige Lerngruppen aus? Dabei geht es um Fragen der Lehr- und Lerntraditionen ebenso wie um Mehrsprachigkeit und ←10 | 11→Bildungserfolg sowie um die spezifischen Herausforderungen für Lehrende, einen produktiven Umgang damit zu finden.

(III)Bildungssprachliche Kompetenzen: Welches sind die spezifischen Bedarfe und Konzepte für die Vermittlung von Bildungssprache und wie lässt sich ein Kompetenzzuwachs messen? Bildungs- und Berufssprache sind angesichts des hohen Anteils erwerbsfähiger Erwachsener unter den Geflüchteten von herausragender Relevanz, für die berufliche wie auch die soziale Integration. Welchen Nutzen hat eine Metaperspektive, d.h. der Blick auf das, was an Kompetenzen sinnvollerweise angestrebt wird, für den Spracherwerbsverlauf der Lernenden? Wie lässt sich das Verhältnis von sprach(en)sensiblem Fachunterricht und fächersensiblem Sprach(en)unterricht bestimmen?

(IV)Erfahrungsberichte, Projekte, Konzepte: Im letzten Schwerpunkt kommen weniger empirische Studien zu Wort als vielmehr Praxiserfahrungen und daraus resultierende Einsichten, die auch Ausblicke auf die zukünftige Entwicklung der Sprachenarbeit mit Geflüchteten erlauben bzw. weiterhin bestehende Forschungslücken aufzeigen. Vier Projekte berichten aus den Bereichen Fachorientierung im Sprachunterricht, Unterstützung Ehrenamtlicher bei der Sprachvermittlung, Schreibförderung und Erfahrungen der Verbindung von Berufsvorbereitung, Sprachlehre und Arbeitsmarktnetworking im MINT-Bereich.

3. Die Beiträge im Einzelnen

Der Sammelband umfasst 15 Beiträge, die sich den genannten 4 Themenschwerpunkten zuordnen lassen.

Themenschwerpunkt (I): Sprachförderung und Integration

1.Den Einstieg in den Band übernimmt der Beitrag von Ibrahim Cindark und Santana Overath, der „Aspekte der sprachlich-kommunikativen Integration von Geflüchteten in der Arbeitswelt“ beleuchtet. In einer breit angelegten Datenerhebung, die Sprachstandserhebungen, Ethnographie und Gesprächsforschung trianguliert, werden Spracherwerb einerseits und sprachliche Interaktion andererseits ←11 | 12→zusammengebracht, um Prozesse des Wissenserwerbs und des Wissenstransfers zu beleuchten. Der erste Teil berichtet von einer zweistufigen Sprachstandserhebung des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache (IDS) in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut. Im ersten Schritt wurden sozial-biografische und (mehr-)sprachliche Merkmale einer Stichprobe aus Teilnehmenden an Integrationskursen erfasst. Deren Sprachstand wurde am Kursende in einem zweiten Schritt in einer mündlich zu bewältigenden Aufgabe gemessen. Dabei erwies sich, dass das in Deutschland für den Einstieg in die Arbeitswelt zugrunde gelegte Niveau B1, das in nicht mehr als 6 Monaten Integrationskurs erreicht werden soll, lediglich einem Bruchteil der Getesteten attestiert werden konnte, ein Befund, der – wenn auch in unterschiedlicher Quantität – auch schon in anderen Studien vorgelegt wurde. Der Beitrag fragt nun weiter, wie sich mangelnde mündliche Kompetenz im Berufsalltag auswirkt bzw. wie am Arbeitsplatz mit Sprachbarrieren im Deutschen umgegangen wird. Zu diesem Zweck wurden verschiedene Begleitstudien durchgeführt, bspw. im Rahmen einer Maßnahme der Bundesagentur für Arbeit. Hier legen die herausgearbeiteten mehr bzw. weniger gelingenden Arten des Umgangs der Ausbildenden mit unzureichenden Sprachkenntnissen nahe, dass deren kommunikative Kompetenz à la longue eine erhebliche Rolle bei Gelingensprozessen spielt. Eine weitere, ethnographische Langzeitstudie begleitete 7 Studierende mit Fluchthintergrund über einen Zeitraum von 3 Jahren. Der Beitrag nimmt damit die andere Seite der Interaktionsdyade in den Blick und zeigt anhand der Fallanalyse eines Studierenden mit Fluchthintergrund im Betriebspraktikum, welchen Anteil seine Reparaturverfahren und der Adressatenzuschnitt am Gelingen der Interaktion haben. Diese Prozesse verweisen auf notwendige interaktionale Kompetenzen als unabdingbare Voraussetzung für Wissenserwerb bzw. -transfer auf Seiten aller Beteiligten.

2.Die Frage nach gelingendem Spracherwerb liegt auch dem Beitrag von Tamara Zeyer und Dietmar Rösler zugrunde. Unter dem Titel „Mit oder ohne Unterricht? Erfolgsgeschichten geflüchteter Studierender und Studieninteressierter“ werden zwei Faktoren in den Mittelpunkt ←12 | 13→des Beitrags gestellt: zum einen die – seit längerem vernachlässigte – Perspektive auf „Lernertypen“, d.h. auf die individuellen Eigenschaften von Personen, die sich positiv auf den Spracherwerb auswirken. Zum anderen wird gefragt, ob die mannigfaltigen außerunterrichtlichen Lerngelegenheiten im Zuge der Digitalisierung eine Neubetrachtung des Erwerbserfolgs mit Blick auf das Individuum verlangen. Das nimmt das Projekt an der Universität Gießen auf der Grundlage von Interviews mit studierfähigen Geflüchteten in Angriff, deren Deutscherwerb besonders erfolgreich verlaufen ist. Sie arbeiten Strategien heraus, die die Geflüchteten selbst als Erfolgsfaktoren für relevant erachten. Dabei tritt die besondere Rolle zu Tage, die Apps und anderen digitalen Tools zugesprochen wird. Zugleich aber wird deutlich, dass diese im Unterricht viel zu wenig eingesetzt werden, mutmaßlich auch aufgrund von mangelnder digitaler Kompetenz auf Seiten der Lehrenden (vgl. a. Roche/Zahn, in diesem Band). Es ist anzunehmen, dass durch die mangelnde Verknüpfung von mediengestütztem individuellem Lernen und dem Lehren in Bildungsinstitutionen wertvolles Potenzial verschenkt wird.

3.Simone Plöger beleuchtet Chancen und Grenzen des integrativen Modells für die Spracharbeit mit neu zugewanderten SchülerInnen. Ein ethnographischer Einblick in eine Hamburger Stadtteilschule. Im Mittelpunkt des Beitrags steht die 5. und 6. Jahrgangsstufe einer Hamburger Stadtteilschule, in der eine sehr frühe integrative Beschulung in Regelklassen mit additivem Sprachunterricht stattfindet. Methodisch greift die Studie, die im Rahmen des ethnographischen Projekts SpraBü durchgeführt wurde, auf teilnehmende Beobachtung und Interviews sowie die Auswertung durch die „Reflexive Grounded Theory“ zurück. Unter Bezugnahme auf das Investment-Modell der Sprachlernforschung nach Darvin/Norton 2015, das ein Wirkungsgefüge der Faktoren Identity, Ideology und Capital vorsieht, werden die Ergebnisse sodann theoretisch reflektiert. Angereichert mit zahlreichen Unterrichtsbeobachtungen und Interviewbeispielen, diskutiert der Beitrag abschließend das Modell der frühen Regelklassenintegration und analysiert seine Stärken und Schwächen.

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Themenschwerpunkt (II): Heterogenität

4.In ihrem Beitrag „Zum Bildungshintergrund von Geflüchteten aus Eritrea und Somalia“ geht Katharina Braunagel der für die Spracharbeit mit Geflüchteten wichtigen Frage nach, aus welchen Bildungssystemen diese kommen, konkret: welche Lehr-Lern-Erfahrungen diese Sprachlerner*innen mitbringen. Der Beitrag beschäftigt sich mit Geflüchteten aus Eritrea und Somalia und deren Bildungshintergrund; die Darstellung basiert methodisch auf Dokumentenanalysen und Befragungen von Lehrenden, Expert*innen und Lernenden. Im Fokus stehen dabei die Hochschulsysteme, auch um aufzuklären, welche Faktoren dafür verantwortlich sein könnten, dass Geflüchtete aus Eritrea und Somalia nur in geringer Zahl mit Erfolg an deutschen Hochschulen studieren. Angesichts der schwierigen Datenlage bezogen auf die genannten Länder lautet eine tentative Antwort, dass die Studieninteressierten aus eher hierarchischen Bildungskulturen mit lehrkraftzentrierten Lehr-Lern-Methoden kommen, in denen das Auswendiglernen und Reproduzieren von Wissen die größte Rolle spielen. Daher bereitet die an deutschen Hochschulen geforderte Eigeninitiative in interaktiven Lehr-Lern-Formen oft Schwierigkeiten. Gering ausgebildete Literacy – trotz oraler Mehrsprachigkeit – wird zudem für die Beschäftigung mit wissenschaftlichen Textsorten mitunter zum Problem. Der Beitrag bietet eine Reihe von wertvollen Hinweisen, insbesondere für die hochschulische Sprach- und Bildungsarbeit mit Geflüchteten.

5.Johanna Holzer untersucht Mehrsprachigkeit aus der Perspektive von Sprachenbiografien junger Geflüchteter aus Syrien, Iran und Afghanistan, die bereits seit einigen Jahren in Deutschland leben. Zudem reflektiert sie den Mehrwert der Methode der „Sprachbiografieforschung“, wenn es darum geht, Einblick in mehrsprachige Lebenswelten und die Herausforderungen des Deutscherwerbs aus der Perspektive von jungen Geflüchteten (zwischen 17 und 27 Jahren) zu erhalten. In leitfadengestützten, teilstandardisierten Interviews werden die biographischen Eckdaten des Spracherwerbs, aber auch die Motivation, Lernopportunitäten und -strategien, Selbst- und Fremdpositionierungen im Umgang mit Sprachen erhoben und mithilfe von MAXQDA ausgewertet. Im ←14 | 15→Sprachgebrauch und in den Spracheinstellungen spiegelt sich der biographische Bruch in Folge der Flucht in vielfältigen Facetten. Es zeigt sich u.a., dass das Zentrum-Peripherie-Modell nach Franceschini (2001) geeignet ist, um die Dynamik und Veränderlichkeit in den Haltungen der Befragten zu erfassen. Insgesamt betrachtet, erweisen sich sprachenbiografische Erhebungen als gewinnbringende Methode, die mehrsprachige Lebenswelt der jungen Geflüchteten zu erforschen, um sie in Bildungskonzepten in Rechnung stellen zu können.

6.Sprachenvielfalt im Unterricht gilt zwar seit geraumer Zeit als Chance, erweist sich aber auch in der Praxis oft als Herausforderung. Letzteres gilt insbesondere für sehr heterogene Klassen, wie sie in den sog. Vorbereitungsklassen gegeben sind; ihnen widmen sich Stefanie Bredthauer und Nora von Dewitz in ihrem Beitrag „Mehrsprachige Unterrichtselemente in Vorbereitungsklassen“. Anhand von Daten aus dem Forschungsprojekt „VeRbinden: Übergänge von Vorbereitungs- in Regelklassen“ am Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache erforschen sie mittels Expert*inneninterviews die Erfahrungen mit mehrsprachigkeitsdidaktischen Konzepten. Grundsätzlich erweisen sich diese in der Regel für homogen-mehrsprachige Lerngruppen entwickelten Unterrichtselemente auch in Vorbereitungsklassen als geeignet für eine an der heterogenen, migrationsbedingten Mehrsprachigkeit der Kinder und Jugendlichen orientierte Didaktik; in einigen Bereichen besteht jedoch Verbesserungspotenzial. So erweist sich Forschung zur Erweiterung schriftbasierter Fertigkeiten (Lesen, Schreiben) und mündlicher Präsentation von Ergebnissen sowie zum Einbezug von Sprachlernstrategien in diesen heterogen-mehrsprachigen Gruppen als dringendes Desiderat. Die Interviews zeigen aber auch, dass bereits viele Lösungen gefunden wurden – wo die einen Lehrkräfte Probleme sehen, haben die anderen bereits gute Lösungen gefunden! Diese gilt es didaktisch zu reflektieren und zu verbreiten.

7.Sarah Olthoff berichtet in ihrem Beitrag Technikunterricht in Sprachlernklassen: Handlungs- und Produktorientierung im fachsensiblen Sprachunterricht von einer Pilotstudie, in der sie erprobt, inwiefern 10- bis 15-jährige Geflüchtete mit geringen Sprachkenntnissen des Deutschen von diesem Ansatz profitieren. Der Technikunterricht bietet sich ←15 | 16→für die Integration von handlungs- und produktorientiertem Sprachunterricht geradezu an. So wurden an einer Integrierten Gesamtschule Niedersachsens Unterrichtsmaterialien zum Thema „Papierschöpfen“ verwendet, die mit multisensorischen Zugängen kombiniert wurden, um so sprachungebundene Selbstwirksamkeitserfahrungen mit einer auf dem Sprachstand der Lernenden angemessenen Sprachaneignung zu verbinden. Einer Kontrollgruppe wurde die Lerneinheit nur fachtheoretisch vermittelt. Die Ergebnisse bestätigen die Annahme einer positiven Wirkung von Handlungs- und Produktorientierung auf den Spracherwerb, insbesondere aber auf die Motivation der Lerner*innen und ihr Sozial- und Lernverhalten.

Themenschwerpunkt (III): Bildungssprachliche Kompetenzen

8.Magdalena Michalak und Evelina Winter berichten in ihrem Beitrag Geflüchtete, Migranten oder Jugendliche mit DaZ? über Zwischenergebnisse aus dem Projekt ForEST an der Universität Erlangen-Nürnberg. ForEST steht für Formative Evaluation von SPRINT (Sprachförderung Intensiv), d.h. die dreijährige wissenschaftliche Begleitung des Sprachförderangebots an bayerischen Realschulen für besonders leistungsstarke neu zugewanderte Schüler*innen (vgl. auch Lotter, in diesem Band). ForEST widmet sich der dringenden Aufgabe, Instrumente zur ressourcenorientierten Erfassung des Kompetenzzuwachses zu erstellen, u.a. um die Maßnahmen evaluieren und ggfs. optimieren zu können. Im Mittelpunkt des Beitrags steht der Erwerb der bildungssprachlichen Kompetenzen im Deutschen aus längsschnittlicher Perspektive am Beispiel argumentativer Texte. Aufgrund des multifaktoriellen Unterrichtsgefüges, nicht zuletzt aber auch der heterogenen Voraussetzungen und Lebensbedingungen der Untersuchungsgruppe erweist sich ein Mixed-Methods-Ansatz dabei als notwendig. Zur ausdifferenzierten Erfassung der (auch minimalen) Fortschritte anhand von Schreibproben werden sprachliche Handlungsschemata definiert, für die sowohl eine konzeptionelle Dimension (Positionieren, Begründen, Überzeugen etc.) als auch ihre sprachliche Realisierung bestimmt wird. Durch den Einsatz verschiedenster Erhebungsinstrumente können darüber hinaus Erkenntnisse über Gelingensbedingungen des Förderangebots, auch aus der Perspektive der Lehrenden, erfasst werden.

←16 | 17→9.Simone Lotter befasst sich in ihrem Beitrag „Entwicklung der mündlichen Erklärkompetenz bei Seiteneinsteiger*innen mit Erstsprache Arabisch in der Sekundarstufe I“ mit Geflüchteten in der 6.–7. Jahrgangsstufe, die sich im Übergang aus einer sog. „Deutschklasse“ in den Regelunterricht befinden. Um sich am Unterrichtsdiskurs beteiligen zu können, müssen die Seiteneinsteiger*innen Diskursarten wie das Erklären oder Argumentieren an ihr schulisches Vorwissen anpassen, zielsprachlich organisieren und angemessen versprachlichen. Im Fokus dieser Studie steht die Entwicklung der bildungssprachlichen Erklärkompetenz, gemessen zu zwei Zeitpunkten (am Anfang und am Ende des Schuljahres). Als Datengrundlage dienen elizitierte mündliche Handlungserklärungen von 70 Seiteneinsteiger*innen aus dem Korpus ForEST (Formative Evaluation von SPRINT; vgl. a. Michalak/Winter, in diesem Band) sowie einer Vergleichsgruppe von 13 ebenfalls überwiegend mehrsprachigen Regelschüler*innen (6. Klasse). Für die Auswertung wurde ein Modell von Erklärsequenzen konzipiert, das über die sprachlichen Mittel hinausgeht und zwei Oberkategorien bestimmt: „Konzeptionell-inhaltliche Dimension“ (Einführen des Themas, Handlungselemente nennen/aufzählen/definieren/exemplifizieren, Handlungsschritte realisieren, Handlungen begründen, abschließen) und „Perspektiveneinnahme“ (Adressatenorientierung, generalisierende Perspektive). Die Ergebnisse belegen, dass die Seiteneinsteiger*innen bereits schulische Erklärkompetenzen mitbringen und diese im Zuge der Teilnahme am Regelunterricht kontinuierlich ausbauen.

Details

Pages
412
Year
2022
ISBN (PDF)
9783631867709
ISBN (ePUB)
9783631875841
ISBN (Hardcover)
9783631856673
DOI
10.3726/b19582
Open Access
CC-BY
Language
German
Publication date
2022 (October)
Keywords
Spracherwerb Integration Flucht Mehrsprachigkeit DiDaZ Bildungssprache Heterogenität Digitale Lehre
Published
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 412 S., 41 S/W-Abb.

Biographical notes

Karin Birkner (Volume editor) Britta Hufeisen (Volume editor) Peter Rosenberg (Volume editor)

Karin Birkner ist Professorin für Germanistische Linguistik an der Universität Bayreuth und vertritt den «Forschungsfokus Geflüchtete» im Vorstand der Gesellschaft für angewandte Linguistik (GAL e.V.). Britta Hufeisen ist Professorin für Sprachwissenschaft – Mehrsprachigkeit an der Technischen Universität Darmstadt und außerdem Leiterin des dortigen Sprachenzentrums. Peter Rosenberg ist Senior Lecturer für Sprachwissenschaft: Sprachgebrauch und Sprachvergleich an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder).

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