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Haftungsdurchgriffe und ihre Steuerung im russischen Konzernrecht

by Linda Hemmes (Author)
©2022 Thesis 270 Pages

Summary

Die Organisationsform des Konzerns erfreut sich insbesondere in grenzüberschreitenden und globalen Wirtschaftseinheiten größter Beliebtheit. Denn aufgrund der rechtlichen Selbstständigkeit der einzelnen Gliedgesellschaften ermöglicht es ein Konzern, die Haftungsrisiken aus bestimmten Produkten oder Märkten gegenüber der Konzernmutter abzuschotten und deren Haftung für die Auslandsaktivitäten der Tochtergesellschaft zu vermeiden. Gerade im russischen Konzernrecht findet indes in zahlreichen Fällen eine Durchbrechung dieser Haftungstrennung statt, die die Organisationsform des Konzerns gefährdet. Die einzelnen Voraussetzungen des Durchgriffs und deren Folgen sowie die der Konzernmutter zustehenden Steuerungsmöglichkeiten werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit ausführlich beleuchtet.

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungen
  • Einleitung
  • A. Hinführung
  • B. Untersuchungsgegenstand
  • C. Gang der Untersuchung
  • Teil 1 – Grundlagen des russischen Konzernrechts
  • A. Das heutige Recht der Unternehmensgruppe in den russischen Kodifikationen
  • I. Definition der Tochtergesellschaft und erfasste Unternehmensverbindungen
  • II. Zur Strenge der konzernrechtlichen Haftungsregeln
  • 1. Gesamtschuldnerische Haftung der Obergesellschaft für die Verbindlichkeiten ihrer Tochtergesellschaft
  • 2. Subsidiäre Insolvenzhaftung der Obergesellschaft
  • 3. Schadensersatzanspruch der Tochtergesellschaft
  • 4. Haftung der Obergesellschaft als „Kontrollperson“
  • III. Weitere konzernspezifische Regelungen
  • 1. Gesetzliche Zustimmungserfordernisse für Großgeschäfte und Interessiertheitsgeschäfte
  • 2. Mitteilungspflichten
  • 3. Pflichtangebotsregelungen
  • IV. Zwischenresümee
  • B. Besonderheiten des russischen Konzernrechts aufgrund der Kodifikationsgeschichte
  • I. Vom aufgezwungenen Zarenrecht bis zum völligen Fehlen von Kapitalgesellschaften in der Sowjetunion
  • 1. Entwicklung des russischen Konzernrechts vom Zarenreich bis zum Ausbruch der Oktoberrevolution
  • 2. Entwicklung des Konzernrechts während der Phase des Kommunismus
  • II. Anschließender Umbruch und Übergang zu einer neuen Rechtsordnung
  • 1. Erste Phase: Verordnungen und Erlasse durch die Regierung
  • 2. Zweite Phase: Erlass des Zivilgesetzbuches und der Spezialgesetze unter dem Einfluss fremder Rechtsordnungen
  • III. Das heutige russische Konzernrecht
  • 1. Reformversuche des Konzernrechts und erfolgte Reform
  • 2. Geplante Reformen
  • C. Resümee
  • Teil 2 – Reform der konzernrechtlichen Haftungsregeln – Endgültiger Wegfall der Haftungstrennung im Konzern?
  • A. Haftungsvoraussetzungen für die Obergesellschaft als Damoklesschwert?
  • I. Voraussetzungen für die Durchgriffshaftung auf das Vermögen der Obergesellschaft
  • 1. Vorliegen eines Beherrschungsverhältnisses
  • a) Bindung kraft vorherrschender Beteiligung
  • aa) Erforderliche vorherrschende Beteiligung in der GmbH russischen Rechts
  • bb) Erforderliche vorherrschende Beteiligung in der AG russischen Rechts
  • b) Bindung aufgrund eines zwischen den Gesellschaften geschlossenen Vertrages
  • aa) Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge
  • bb) Gesellschaftervereinbarungen als Mittel der Konzernierung?
  • cc) Einbeziehung rein schuldrechtlicher Verträge?
  • dd) Weitere Beherrschungsverträge
  • c) Bindung „auf andere Weise“
  • aa) Doppelmandatschaft bzw. personelle Verflechtung zwischen Ober- und Tochtergesellschaft
  • bb) Ausübung von Druck und faktischer Kontrolle über die Tochtergeschäftsführung
  • cc) Obergesellschaft als „Externe Verwalterin“ der Tochter
  • dd) Weitere Fallgruppen der Konzernierung auf sonstige Weise
  • d) Weitere Voraussetzungen für das Beherrschungsverhältnis
  • e) Zwischenresümee
  • 2. Wegfall des Erfordernisses eines Weisungsrechts der Obergesellschaft?
  • a) Bedeutung des Weisungsrechts grundsätzlich und vor der Gesetzesreform
  • b) Widerspruch zum GmbH- und Aktienrecht
  • aa) Umgang mit Widersprüchen in der Vergangenheit und Übertragbarkeit dieser Grundsätze
  • bb) Auflösung des aktuellen Widerspruchs
  • c) Zwischenresümee
  • 3. Tatsächliche Einflussnahme gegenüber der Tochtergesellschaft
  • a) Tatsächlich erfolgte Weisung
  • b) Zustimmung der Obergesellschaft
  • 4. Haftungsausschlüsse
  • a) Abstimmung im Rahmen von Gesellschafter- oder Aktionärsversammlungen
  • b) Genehmigungsvorbehalte in der Satzung
  • c) Weitere Haftungsausschlüsse
  • d) Zwischenresümee
  • 5. Kausalität zwischen Einflussnahme und Vertragsschluss
  • 6. Rechtsfolge
  • II. Zwischenergebnis
  • B. Verhinderung weiterer Herrschaftsinstrumente im Zuge der Reform?
  • I. Alternative Herrschaftsinstrumente – Haftungsgefahren nach der Reform und Effektivität
  • 1. Gesellschaftervereinbarung
  • a) Effektivität und Durchsetzbarkeit
  • b) Drohende Haftung
  • 2. Personalkompetenz hinsichtlich der Tochtergeneraldirektoren
  • a) Möglichkeit der Bestellung von Generaldirektoren
  • b) Möglichkeit der Abberufung von Generaldirektoren
  • c) Effektivität
  • d) Drohende Haftung
  • 3. Doppelmandatschaft und personelle Verflechtung
  • a) Zulässigkeit und Effektivität
  • b) Drohende Haftung
  • 4. Obergesellschaft als „Externe Verwalterin“ der Tochter
  • 5. Kontrolle über die Tochtergeneraldirektoren durch Festlegung des Handlungsrahmens
  • a) Zulässigkeit und Effektivität
  • b) Drohende Haftung
  • 6. Schaffung von Motivation durch Anreizsysteme für die Tochtergeschäftsleitung
  • 7. Zwischenschaltung weiterer Tochtergesellschaften
  • II. Zwischenergebnis
  • C. Resümee
  • Teil 3 – Einflussnahme- und Kontrollmöglichkeiten zur Eindämmung der Durchgriffshaftung
  • A. Erforderlichkeit von Kontrollmöglichkeiten für die Obergesellschaft
  • B. Einflussnahme- und Weisungsrechte der Obergesellschaft
  • I. Bedeutung der Weisung im russischen Konzern und fehlende rechtliche Auseinandersetzung in Russland
  • II. Zulässigkeit des Weisungsrechts im russischen Recht
  • 1. Weisungsrecht der Obergesellschaft im Rahmen der Gesellschafter- bzw. Aktionärsversammlung
  • a) Weisungsrecht der Gesellschafterversammlung gegenüber dem Generaldirektor einer Tochter- GmbH
  • b) Weisungsrecht der Obergesellschaft gegenüber dem Generaldirektor einer Tochter-GmbH
  • c) Weisungsrecht der Aktionärsversammlung gegenüber dem Generaldirektor einer Tochter-AG
  • d) Weisungsrecht der Obergesellschaft gegenüber dem Generaldirektor einer Tochter-AG
  • 2. Weisungsrecht der Obergesellschaft aufgrund der Satzung oder eines Vertrages
  • 3. Weitere Möglichkeiten der Etablierung eines Weisungsrechts
  • III. Berücksichtigungsfähigkeit des Konzerninteresses
  • 1. Regelungen im Hinblick auf die Obergesellschaft
  • 2. Übertragbarkeit der Regelungen im Hinblick auf die Generaldirektorenhaftung
  • IV. Zwischenresümee
  • C. Folgepflichten und Haftungsgefahren für das Tochterexekutivorgan
  • I. Folgepflicht des Generaldirektors der Tochtergesellschaft
  • II. Drohende Haftung bei Ausführung nachteiliger oder rechtswidriger Weisungen und Prüfungspflichten des Generaldirektors der Tochtergesellschaft
  • 1. Verstoß gegen den Grundsatz des vernünftigen und gewissenhaften Handelns im Interesse der Gesellschaft
  • 2. Prüfpflichten
  • D. Gleichgewicht von Einflussmöglichkeiten und Haftungsgefahren?
  • I. Verhältnismäßigkeit der Haftungsdurchgriffe?
  • II. Erforderlichkeit der Steuerung von Risiken durch die Obergesellschaft
  • E. Resümee und Vorschläge de lege ferenda
  • Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse in Thesen
  • Anhang: Gesetzesauszüge in deutscher Übersetzung
  • Literatur

←14 | 15→

Abkürzungen

a.A.

andere Ansicht

Abs.

Absatz

AG

Aktiengesellschaft

AktG

Aktiengesetz

AktG RUS

Aktiengesetz der Russischen Föderation

Art.

Artikel

Aufl.

Auflage

BB

Betriebs-Berater

bzw.

beziehungsweise

DB

Der Betrieb (Zeitschrift)

CCZ

Corporate-Compliance-Zeitschrift

DRJV

Deutsch-Russische Juristenvereinigung e.V.

DRRZ

Deutsch-Russische Rechtszeitschrift

ECFR

European Company and Financial of Establishment (Zeitschrift)

EGRJuL

Einheitliches Staatliches Register der juristischen Personen

ff.

fortfolgende

FS

Festschrift

FZ

Föderales Gesetz (Federal´nyj Zakon)

GmbH

Gesellschaft mit beschränkter Haftung

GmbHG RUS

GmbH-Gesetz der Russischen Föderation

GmbHR

GmbHRundschau (Zeitschrift)

GWR

Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht (Zeitschrift)

Hrsg.

Herausgeber

Kap.

Kapitel

KSzW

Kölner Schrift zum Wirtschaftsrecht (Zeitschrift)

m.w.N.

mit weiteren Nachweisen

N

Nummer

NJW

Neue juristische Wochenschrift

NN

Nummern

NZG

Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht

OOO

Obščestvo s ograničennoj otvetstvennost´ju (GmbH russischen Rechts)←15 | 16→

Pkt.

Punkt

RF

Russische Föderation

RIW

Recht der internationalen Wirtschaft (Zeitschrift)

Rn.

Randnummer

ROW

Recht in Ost und West: Zeitschrift für Ostrecht und Rechtsvergleichung

RUB

Russischer Rubel

RUS

Russland

u.a.

und andere

VDRW

Vereinigung für deutsch-russisches Wirtschaftsrecht

WiRO

Wirtschaft und Recht in Osteuropa (Zeitschrift)

ZeuP

Zeitschrift für Europäisches Privatrecht

ZfU

Zeitschrift für Umweltpolitik & Umweltrecht

ZGB

Zivilgesetzbuch

ZGB RUS

Zivilgesetzbuch der Russischen Föderation

ZGR

Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht

ZHR

Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht

←16 | 17→

Einleitung

A. Hinführung

Russland ist mit dem Verstand nicht zu begreifen, mit der gewöhnlichen Elle nicht zu messen; Russland hat einen besonderen Charakter, an Russland kann man nur glauben.1

Der russische Markt war trotz der langanhaltenden und immer gravierender werdenden politischen Schwierigkeiten seit der Revolution auf dem Maidan in Kiew2 und der andauernden Wirtschaftskrise3 noch lange Zeit von Interesse für Investoren.4 Nach wie vor halten viele namhafte deutsche Unternehmen an ihrer Investitionstätigkeit in Russland fest5 und haben zumindest in den letzten Jahren erneut Standorte in der Russischen Föderation errichtet6. Hierfür bedienen sie sich insbesondere der Organisationsform des Konzerns und erwarten aufgrund der ihnen aus Deutschland und den europäischen Mitgliedstaaten bekannten juristischen Selbstständigkeit der Tochtergesellschaft eine entsprechende Haftungssegmentierung auf dem russischen Markt. Die russische Tochter soll das ausländische unbekannte Gebiet mit ihrem eigenen Vermögen und ihren eigenen Leitungsorganen unabhängig von ihrer deutschen Muttergesellschaft ergründen und das Unternehmen in Russland bekannt machen,7 ohne dass bei dieser Unternehmung die Gefahr besteht, dass die Mutter für die Verpflichtungen der tausende Kilometer weit entfernten Tochtergesellschaft einstehen muss. Auf diese Weise kann der Investor durch den Einsatz einer russischen ←17 | 18→Tochtergesellschaft auf dem russischen Markt Vertrauen schaffen und sein Risiko zugleich kalkulieren.8

Auch die Mehrheit aller russischen Gesellschaften ist Teil eines Konzernverbunds,9 womit die Organisationsform des Konzerns ebenso für die russische Unternehmenspraxis von großer Bedeutung ist.10 So hat der Konzern nicht nur grenzüberschreitend, sondern auch innerhalb der Grenzen der Russischen Föderation den entscheidenden Vorteil, dass einzelne Gliedgesellschaften, entsprechend dem deutschen Recht, aufgrund der Haftungstrennung grundsätzlich als „abgeschottete Risiko- und Haftungsräume“ wirken.11 Das bietet den Nutzen, dass russische Unternehmen bestimmte Unternehmensbereiche auf mehrere Tochtergesellschaften auslagern und die Haftungsgefahr auf diese beschränken können.

Ein Blick in die russischen gesellschaftsrechtlichen Bestimmungen verdeutlicht allerdings, dass die rechtliche Selbstständigkeit juristischer Personen und das Trennungsprinzip12 zwar entsprechend dem deutschen Verständnis fest im russischen Recht verankert sind13, eine Haftungstrennung dagegen nicht zwangsläufig damit verbunden werden kann. Vielmehr ordnen die wenigen russischen konzernrechtlichen Bestimmungen14 unter anderem für Fälle, in denen die Muttergesellschaft ihre Tochtergesellschaft zu einem Rechtsgeschäft angewiesen hat oder einem solchen auch nur zugestimmt hat, die Einstandspflicht der Muttergesellschaft gegenüber den Gläubigern der Tochter an.15 Liegen die ←18 | 19→Haftungsvoraussetzungen vor, müssen die Gläubiger nicht zunächst versuchen, sich bei der Tochtergesellschaft – ihrem eigentlichen Vertragspartner – zu befriedigen,16 sondern können die Leistung unmittelbar von der Muttergesellschaft verlangen.17 Durch die Ermöglichung eines solchen Durchgriffs auf das Vermögen der Muttergesellschaft wird die vorgesehene Haftungstrennung der Gesellschaften durchbrochen und die Tochtergesellschaft verliert ihre Funktion als Haftungsschott18. Wenn die Muttergesellschaft jedoch das Risiko ihrer Auslandsaktivitäten oder bestimmter Unternehmensbereiche nicht mehr auf ihre Tochtergesellschaft auslagern kann, besteht die Gefahr, dass sie derartige Investitionen beschränkt oder sogar vollständig unterlässt.

Die Gefahr eines Haftungsdurchgriffs droht dabei insbesondere auch der deutschen Muttergesellschaft. So ist hinsichtlich internationaler Konzernstrukturen anerkannt, dass auf die beherrschte Gesellschaft stets ihr eigenes Personalstatut19 und somit nach der in Russland gemäß Art. 1201 ZGB RUS geltenden Gründungstheorie auf in Russland gegründete Tochtergesellschaften russisches Recht anzuwenden ist.20 Auch im Hinblick auf die Beziehung zwischen den in einem Abhängigkeitsverhältnis befindlichen Unternehmen ist zum Schutz der Minderheitsgesellschafter und Gläubiger der abhängigen Gesellschaft – als dem klassischen Schutz des Konzernrechts – stets das Recht der abhängigen Gesellschaft und damit ebenfalls das russische Recht anzuwenden.21 Nach Art. 1202 Pkt. 2 ZGB RUS ist russisches Recht außerdem zwingend in Fragen betreffend die Haftung der Gesellschafter für die Verpflichtungen der juristischen Person und folglich insbesondere im Hinblick auf die Durchgriffshaftung anzuwenden.22

Doch trotz der in den letzten Jahren erfolgten Bemühungen der russischen Politik, den eigenen Markt insbesondere auch für ausländische Investoren ←19 | 20→attraktiver zu gestalten und mehr produzierende Industrie im eigenen Land anzusiedeln23, erfolgte im Zuge einer Gesetzesreform des russischen Zivilgesetzbuches im Jahr 201424 eine weitere Verschärfung der konzernrechtlichen Haftungsregeln in Russland25, die wie dargestellt auch deutsche Konzernmütter treffen kann. Denn während vor der Reform noch ein Weisungsrecht der Muttergesellschaft gegenüber ihrer Tochtergesellschaft erforderlich war, um einen Durchgriff auf das Vermögen der Tochtergesellschaft zu ermöglichen, wurde diese Tatbestandsvoraussetzung ersatzlos gestrichen. Darüber hinaus soll seit der Gesetzesreform bereits die bloße Zustimmung der Muttergesellschaft zu einem Rechtsgeschäft für einen Haftungsdurchgriff ausreichen. Warum sich Russland erneut für ein solch strenges Haftungsregime entschieden hat, während sich der Blickwinkel in der Europäischen Union vermehrt dem Konzernrecht als enabling law nähert26 und ob die russischen Regeln tatsächlich „nicht überschaubare Haftungsrisiken“ für die Konzernmutter27 darstellen und eine dezentrale Konzernierung praktisch verhindern, soll in der vorliegenden Arbeit untersucht werden. Ebenso soll angesichts der strengen Haftungsregelungen der Frage nachgegangen werden, ob das russische Recht der Muttergesellschaft als Gegenstück zum Haftungsregime die Möglichkeit eröffnet, ihre Tochter nach ihren Vorstellungen zu leiten und ihre Handlungen zu bestimmen, um etwaige Haftungsrisiken zumindest gezielt steuern zu können. Sofern das russische Konzernrecht auch diesen Weg verhindert, läuft die Konzernmutter Gefahr, für Verbindlichkeiten einstehen zu müssen, deren Existenz sie unter Umständen nicht ←20 | 21→beeinflussen kann. Mangels einer Möglichkeit der Haftungsbeschränkung und Risikosteuerung wird jedoch auch ihr Interesse schwinden, unternehmerische Risiken einzugehen und innovative Investitionen zu tätigen.

B. Untersuchungsgegenstand

Da sich die meisten bislang erschienenen wissenschaftlichen Arbeiten auf dem Gebiet des russischen Konzernrechts und zu Fragen der Durchgriffshaftung im russischen Kapitalgesellschaftsrecht auf den Blickwinkel des Minderheiten- und Gläubigerschutzes konzentrieren28, soll in der vorliegenden Untersuchung ein Schwerpunkt auf der Frage liegen, ob das russische Recht einen sicheren Rechtsrahmen bietet, der es der Muttergesellschaft ermöglicht, den Konzern zu leiten. Zur Beantwortung dieser Frage kommt es neben anderen Haftungsgefahren für die Konzernmutter entscheidend auf die Frage an, wann für sie tatsächlich das Risiko besteht, neben ihrer Tochtergesellschaft für deren Verbindlichkeiten einstehen zu müssen, und folglich auf die Frage, unter welchen Voraussetzungen im Einzelfall eine Durchbrechung der Vermögenstrennung erfolgt. Besonders zu berücksichtigen ist im Rahmen dieser Untersuchung die im September 2014 erfolgte Gesetzesreform, die zu einer Verschärfung der konzernrechtlichen Haftungsregeln führte. Die neu eingeführten Tatbestandsvoraussetzungen und die Auswirkungen der Änderungen auf die Praxis wurden bislang nur wenig diskutiert.29 Die vorliegende Untersuchung setzt sich daher eingehend mit den einzelnen Voraussetzungen auseinander und versucht, Antworten auf offene Fragen zu finden und unbestimmte Rechtsbegriffe auszulegen.

Ebenso sollen die der Konzernmutter zur Verfügung stehenden Steuerungsmöglichkeiten untersucht werden, wobei insbesondere der Frage nachzugehen ist, ob der Muttergesellschaft das Recht zusteht, die russische Tochtergesellschaft im übergeordneten Konzerninteresse zu leiten und Weisungen an diese zu erteilen. Sofern die speziellen konzernrechtlichen Normen keine Antworten auf diese Fragen liefern können, sollen Vorgaben des allgemeinen russischen Gesellschafts- und Zivilrechts herangezogen werden. Zu berücksichtigen sind hierbei ←21 | 22→das russische Zivilgesetzbuch30, das allgemeine gesellschaftsrechtliche Vorschriften enthält31, sowie das russische Aktiengesetz32 und das GmbH-Gesetz33. So sind es auch im russischen Recht insbesondere die Kapitalgesellschaften,34 namentlich die Aktiengesellschaft und die Gesellschaft mit beschränkter Haftung russischen Rechts,35 die für die Konzernbildung von Bedeutung sind36.

C. Gang der Untersuchung

Um einen Überblick über das russischen Konzernrecht zu erhalten und ein Verständnis für die hier geregelten Grundsätze zu entwickeln, die sich grundlegend vom deutschen Recht der Unternehmensgruppe unterscheiden, widmet sich der erste Teil dieser Arbeit einer Darstellung seiner Grundlagen. Hierzu gehört neben einer Untersuchung des grundsätzlichen russischen Verständnisses von einem Konzern – bzw. einem Mutter-Tochter-Verhältnis – auch eine Analyse der konzernspezifischen Regelungen. Zu untersuchen ist an dieser Stelle, was das russische Recht im Zusammenhang mit der Unternehmensgruppe regelt, wie ←22 | 23→umfangreich diese Regelungen sind und insbesondere, wie sich der Grundsatz der Durchgriffshaftung in das gesamte Regelungskonzept einfügt. Da dem russischen Gesellschafts- und Konzernrecht im Rahmen seiner Entwicklung 70 Jahre sozialistische Planwirtschaft und Kommunismus im Wege standen und sich das heutige Rechtssystem erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entwickeln konnte, ist darüber hinaus zu untersuchen, wie sich diese Besonderheit der russischen Rechtsentwicklung auf das heutige Rechtssystem ausgewirkt hat und welche Rechtsordnungen das russische Konzernrecht maßgeblich beeinflusst haben. So hatte der russische Gesetzgeber im Rahmen der Neuordnung des Rechtssystems die Möglichkeit, sowohl auf eigene Rechtsquellen als auch auf ausländische – bereits vollständig entwickelte – Vorschriften zurückzugreifen. Möglicherweise können aus den Erkenntnissen über die geschichtliche Entwicklung im Nachgang Aufschlüsse darüber gezogen werden, wie das heutige russische Konzernrecht zu verstehen und auszulegen ist.

Im zweiten Teil soll hieran anschließend die Durchgriffshaftung als grundlegender Teilaspekt des russischen Konzernrechts untersucht werden. Denn es ist gerade die Ermöglichung des Gläubigerdurchgriffs auf die Muttergesellschaft, die dazu führt, dass die Tochtergesellschaft ihre abschottende Wirkung verliert und eine Haftungs- und Risikosegmentierung, die so grundlegend für die Konzernführung ist, verhindert wird. Um die Ausmaße der Durchgriffshaftung zu verstehen und die Gesetzesänderungen nachvollziehen zu können, sollen daher in einem ersten Schritt die Tatbestandsvoraussetzungen untersucht und die Änderungen detailliert analysiert und bewertet werden. Insbesondere der Wegfall des Weisungsrechts der Muttergesellschaft gegenüber ihrer Tochter als Haftungsvoraussetzung führt dazu, dass scheinbar mehr Sachverhalte von der Konzernhaftung erfasst werden. So haben bislang viele Unternehmen die schriftliche Fixierung eines Weisungsrechts vermieden, um eine mögliche Haftung auszuschließen.37 Stattdessen wurden alternative Herrschaftsinstrumente etabliert, die weitestgehend haftungsfrei durchgeführt werden konnten und eine Konzernleitung ermöglichen sollten. Ob diese alternativen Herrschaftsinstrumente nunmehr ebenfalls der Durchgriffshaftung unterliegen und damit im Zuge der Reform verhindert wurden, soll daher anschließend ebenfalls überprüft werden. Sofern dies der Fall ist, stellt sich im Anschluss die Frage, ob der Muttergesellschaft im russischen Recht eine Möglichkeit gegeben wird, die neu eröffneten Haftungsrisiken zu steuern. Hierfür ist eine Kontroll- und ←23 | 24→Einflussmöglichkeit erforderlich, die es der Muttergesellschaft ermöglicht, auf die Handlungen ihrer Tochtergesellschaft Einfluss zu nehmen und diese zu kontrollieren, um Haftungsgefahren selbst steuern zu können. Aus diesem Grund schließt die vorliegende Arbeit im dritten Teil mit einer Untersuchung der Frage, ob bzw. welche Einflussnahme- und Kontrollmöglichkeiten zur Verfügung stehen, um das bestehende Risiko eines Durchgriffs kontrollieren und abschätzen zu können sowie um zu verhindern, dass die Tochtergesellschaft Geschäfte abschließt, für die die Muttergesellschaft eine Haftung übernehmen muss. Hierfür ist insbesondere zu untersuchen, ob und in welchem Umfang der Muttergesellschaft ein Weisungsrecht gegenüber ihrer Tochtergesellschaft zustehen kann. Da die Etablierung eines Weisungsrechts in der Vergangenheit zum Zwecke des Ausschlusses einer Haftung häufig vermieden wurde und eine etablierte Praxis daher bislang fehlt, ist auch diese Frage nicht abschließend geklärt. Insbesondere die Frage, ob die Muttergesellschaft ihre Tochter im übergeordneten Konzerninteresse leiten kann, soll daher eingehend untersucht werden. Abschließend folgt eine Bewertung des Gleichgewichts von Einflussnahme- und Kontrollmöglichkeiten sowie bestehenden Haftungsgefahren.


1 Tschutjew, Fjodor; zitiert nach: Schmitt, Strategische Projekte, S. 13.

2 Politische Fragen sollen im Folgenden außer Betracht bleiben; einen guten Überblick über den rechtspolitischen Rahmen verschaffen jedoch Steininger, WiRO 2018, 46, 46 ff; Wedde, RIW 2018, 351, 351 f.; ders., RIW 2019, 346, 346 f.

3 Vgl. auch Zielke, WiRO 2016, 225, 225.

4 Vgl. zum Interesse deutscher Investoren in Russland Shkliarov, Russland als Firmenstandort, S. 9; vgl. auch Plagemann, Die russische Aktiengesellschaft, S. 2.

5 Schmeil-Moore, WiRO 2018, 1, 1; Wedde, RIW 2018, 351, 351.

6 So etwa das Unternehmen BMW, vgl. russland.capital, BMW eröffnet Niederlassung in Kaliningrad, 12.1.2018, https://www.russland.capital/bmw-eroeffnet-niederlassung-in-kaliningrad.

7 Vgl. hierzu Steininger/Oljenik, Ost/Letter 1/2014, S. 1 bereits für die Repräsentanz, die allerdings keine selbstständige juristische Person darstellt.

8 Plagemann, Die russische Aktiengesellschaft, S. 33.

9 Vgl. hierzu Schramm, Kieler Ostrechts-Notizen 3/2007, S. 14, wobei für Russland keine gesicherten Zahlen vorliegen; vgl. auch Šitkina, Pravovoe regulirovanie ėkonomičeskoj zavisimosti, Chozjajstvo i pravo 2010, N 8; dies., in: Šitkina, Korporativnoe pravo. Učebnyj kurs, Tom 1, S. 460.

10 Ebenso Telke, Russisches Konzernrecht, S. 21.

Details

Pages
270
Year
2022
ISBN (PDF)
9783631888384
ISBN (ePUB)
9783631888391
ISBN (MOBI)
9783631888407
ISBN (Softcover)
9783631884492
DOI
10.3726/b20125
Language
German
Publication date
2022 (October)
Published
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 270 S.

Biographical notes

Linda Hemmes (Author)

Linda Hemmes studierte Rechtswissenschaften an der Ruprecht-Karls Universität Heidelberg. 2022 erfolgte die Promotion, ebenfalls an der Ruprecht-Karls-Universität.

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Title: Haftungsdurchgriffe und ihre Steuerung im russischen Konzernrecht