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Demokratien und ihre gefährdete Zukunft

by Hubert Kiesewetter (Author)
©2022 Monographs 728 Pages

Summary

In diesem Buch wird die wechselvolle Geschichte von Demokratien von der Antike bis heute behandelt. Die zentrale Ausgangsfrage besteht darin, ob Demokratien in der Lage waren und sind, Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenwürde sowie materiellen Wohlstand für den größten Teil ihrer Bevölkerungen zu verwirklichen. Um zu überprüfen, wie weit diese Forderungen in verschiedenen Staaten erfüllt wurden, behandele ich zuerst die athenische 'Demokratie', die ich wegen ihrer fehlenden demokratischen Institutionen 'Polykratie' nenne. Danach untersuche ich die Entstehungsbedingungen der ersten modernen Demokratie auf unserem Globus, den USA, die wegen ihrer frühen Errichtung im 18. Jahrhundert bis heute mit demokratischen Mängeln zu kämpfen haben. Die übrigen Kapitel gehen detailliert auf einzelne Ausprägungen von Regierungen und Parteien in Deutschland, Europa und der Welt ein und offerieren realistische Lösungen für gefährdete Demokratien.

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Kapitel 1: Einleitung: Was ist Demokratie?
  • 1.1 Begriffe und Definitionen
  • 1.2 Politische Inhalte
  • 1.3 Das Ideal einer Demokratie
  • 1.4 Die Funktionsweisen der Demokratie
  • 1.5 Die gefährdete Zukunft von Demokratien
  • Kapitel 2: Die antidemokratische athenische Polykratie
  • 2.1 Die historische Entstehung
  • 2.2 Die militärischen Auseinandersetzungen
  • 2.3 Das Ende der athenischen Polykratie
  • 2.4 Die Ungleichheit unter den Athenern
  • 2.5 Die Sklaverei und die Mordlust
  • 2.6 Die geringe territoriale und bevölkerungsmäßige Größe Athens
  • Kapitel 3: Die erste Demokratie der Welt – die USA
  • 3.1 Land der Hoffnung und Zukunft
  • 3.2 Der Kampf um die Unabhängigkeit
  • 3.3 Die Entstehung einer demokratischen Verfassung
  • Kapitel 4: Die Grundrechte der Staatsbürger
  • 4.1 Die Würde und Freiheit des Menschen
  • 4.1.1 Todesstrafe, Abtreibung, Sterbehilfe
  • 4.1.2 Menschenwürde oder Staatsräson?
  • 4.1.3 Freiheit als Lebensrecht
  • 4.2 Die Gleichheit vor dem Gesetz
  • 4.2.1 Absolute Gleichheit gibt es nicht
  • 4.2.2 Freiheit rangiert vor Gleichheit
  • 4.2.3 Verstößt die Beschneidung gegen den Gleichheitsgrundsatz?
  • 4.3 Die Glaubens-, Meinungs- und Pressefreiheit
  • 4.3.1 Ist die Kirchensteuer demokratisch?
  • 4.3.2 Trennung von Staat und Kirche
  • 4.3.3 Sind Kopftücher oder Mohammed-Karikaturen mit der Meinungs- und Pressefreiheit vereinbar?
  • 4.3.4 Massive Verletzungen der Pressefreiheit
  • 4.4 Der Schutz der Ehe und der Familie
  • 4.4.1 Die Schutzfunktion des Staates
  • 4.4.2 Die Verantwortung der Eltern
  • Kapitel 5: Die Parteien und das Wahlsystem
  • 5.1 Der Pluralismus der Parteien
  • 5.1.1 Der absolute Parteienpluralismus
  • 5.1.2 Das Mehrparteiensystem
  • 5.1.3 Das Zweiparteiensystem
  • 5.2 Parteiendemokratie und Volkssouveränität
  • 5.2.1 Der Parteienstaat
  • 5.2.2 Die Parteienfinanzierung
  • 5.2.3 Die Beteiligung von Parteien an Medienunternehmen
  • 5.2.4 Die Parteienverbote
  • 5.2.5 Volkssouveränität im Widerstreit
  • 5.2.6 Direkte Demokratie als Lösung politischer Probleme?
  • 5.3 Der Lobbyismus der Verbände
  • 5.3.1 Die Strompreise in Deutschland
  • 5.3.2 Das deutsche Gesundheitswesen
  • 5.3.3 Die einflussreiche Waffenlobby
  • 5.3.4 Verstrickungen und Werterelativismus von Politikern
  • 5.4 Verhältnis- oder Mehrheitswahlrecht?
  • 5.4.1 Die historische Entwicklung
  • 5.4.2 Allgemeine, freie und gleiche Wahlen
  • 5.4.3 Vor- und Nachteile der Wahlsysteme
  • 5.4.4 Das ungerechtfertigte Kinderwahlrecht
  • 5.4.5 Plädoyer für ein Mehrheitswahlrecht
  • Kapitel 6: Das Regierungssystem
  • 6.1 Die Stellung des Regierungsoberhauptes
  • 6.1.1 Der britische Premierminister
  • 6.1.2 Der US-Präsident
  • 6.1.3 Der französische Präsident
  • 6.1.4 Der deutsche Bundeskanzler
  • 6.2 Parlament und Regierung
  • 6.2.1 Entstehung des Parlamentarismus
  • 6.2.2 Die demokratische Gewaltenteilung
  • 6.2.3 Das Parlament als Kontrollinstanz
  • 6.3 Die Repräsentation der Abgeordneten
  • 6.3.1 Die Bezüge der Abgeordneten
  • 6.3.2 Der Mangel an Transparenz
  • 6.4 Zentralismus oder Föderalismus?
  • 6.4.1 Historische Einordnung
  • 6.4.2 Die Mängel des deutschen Föderalismus
  • 6.4.3 Die Reformbedürftigkeit des Föderalismus
  • 6.4.4 Das regionale Subsidiaritätsprinzip
  • Kapitel 7: Die Innen- und Außenpolitik
  • 7.1 Die innere Sicherheit
  • 7.1.1 Gewaltkriminalität in einem veränderten sozialen Umfeld
  • 7.1.2 Der „Terrorismus“ der Roten Armee Fraktion (RAF)
  • 7.1.3 Die Sicherheitsfolgen des 11. September 2001
  • 7.2 Polizei und Militär
  • 7.2.1 Der Aufbau einer Polizei in der BRD
  • 7.2.2 Die Problematik des Schusswaffengebrauchs
  • 7.2.3 Veränderte Aufgabengebiete im Kalten Krieg
  • 7.2.4 Die Adenauersche Wiederbewaffnung
  • 7.2.5 Die Bundeswehr als Verteidigungsarmee?
  • 7.2.6 Veränderte Aufgabenstellungen nach 1990
  • 7.3 Die Europäische Union
  • 7.3.1 Die europäische Friedensordnung
  • 7.3.2 Der gemeinsame Binnenmarkt
  • 7.3.3 Die demokratischen Mängel in Europa
  • 7.4 Demokratische Gefahren der Globalisierung
  • 7.4.1 Brauchen wir globale Märkte?
  • 7.4.2 Die Konflikte mit Nationalstaaten
  • 7.4.3 Die politische Macht des Internationalen Währungsfonds
  • 7.4.4 Aktuelle Gefahren der Globalisierung
  • Kapitel 8: Resümee
  • 8.1 Der unflexible Parteienstaat
  • 8.2 Das undemokratische Gewicht ökonomischer Interessen
  • 8.3 Das Demokratiedefizit der Europäischen Union
  • Bibliographie
  • Personenregister
  • Reihenübersicht

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Kapitel 1

Einleitung: Was ist Demokratie?

Wenn man einen nicht politisch aktiven und nicht politikwissenschaftlich ausgebildeten Menschen danach fragt, was man wohl als einen wesentlichen Inhalt von Demokratie ansehen könnte, dann erhält man gewöhnlich die ausweichende Antwort, es sei die regelmäßige Wahl der Politiker bzw. die Mehrheitsentscheidung oder das Mehrheitsprinzip, denn Demokratie heiße ja eigentlich ‚Herrschaft des Volkes‘. Es wird sogar von politologisch geschulten Fachleuten behauptet: „Das Mehrheitsprinzip ist insgesamt nicht nur mit demokratischen Prinzipien vereinbar, es ist Funktionsbedingung der Demokratie.“1 Die hier präferierte Aussage besteht darin, dass Wahlen nur ein sekundäres Merkmal einer entscheidenden Funktion von Demokratie seien, nämlich was Karl Popper bereits vor 1945 als definitive Abwahl bzw. Auswechselung einer Regierung mit friedlichen Mitteln bezeichnete.2 Diese Ansicht löst bei Laien erst einmal ungläubiges Erstaunen aus. Und wenn man dann noch hinzufügt, dass Mehrheitsentscheidungen eigentlich wenig mit demokratischen Strukturen zu tun haben, weil sie nicht nur in totalitären Systemen, sondern auch in undemokratischen Organisationen, wie z. B. Schützenvereinen oder religiösen Gemeinschaften praktiziert werden, ist man im wesentlichen Zentrum einer Diskussion, welche Inhalte die moderne Demokratie kennzeichnen. Ich habe bewußt den Begriff ‚Inhalte‘ gewählt, da ich von Begriffsstreitigkeiten über die wahre Demokratie oder gar über das Wesen der Demokratie wenig angetan bin und sie lieber vermeide.3

Der heute beliebte Ausdruck ‚Demokratie‘ wurde und wird häufig für politische Systeme gebraucht – wie z. B. die Deutsche Demokratische Republik oder die Demokratische Republik Kongo4 –, die nach meiner Auffassung höchst undemokratisch waren und sind. Deshalb kann ich auch nicht Gerhard Leibholz beipflichten, ←17 | 18→der „kapitalistische“, „planwirtschaftliche“, „sozialistische“ und „kommunistische“ Demokratien nebeneinanderstellt,5 denn diese verfügen nicht über grundsätzliche Inhalte von echten Demokratien. Von dem bedeutenden britischen Politiker Winston Churchill (1874–1965) ist der vielzitierte Ausspruch überliefert, den er in einer Rede vor dem britischen Unterhaus am 11. November 1947 vorgetragen haben soll: „Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.“ Wir können diese ambivalente Ansicht auch so auslegen, weil sie sich in negativer Weise über diese Regierungsform äußerte: „Wahrscheinlich störten diesen großen Mann die Beschränkungen, die das Parlament, die Wahlen, die Parteien und so weiter seiner Machtausübung auferlegten. Das geht vielen großen und weniger großen Männern so, aber genau dies ist der Grund, warum die Demokratie eine so zivilisierte Regierungsform ist.“6 Winston Churchill wollte wohl vor allem darauf hinweisen, dass Demokratie keine unverbesserliche Staatsform ist und ständig reformiert werden muss, um sich gegenüber anderen Herrschaftssystemen zu behaupten.

1.1 Begriffe und Definitionen

Wie wir noch genauer sehen werden, sind die inhaltlichen Verwirrungen über die politische Staatsform in Athen des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. vor allem dadurch entstanden, weil man glaubte, man könne auf die Frage ‚Was ist Demokratie?‘ „eine befriedigende, das tiefere Wesen dieser eigenartigen und einzigartigen Staatsform treffende Antwort nur dann finden, wenn vorher geklärt ist, was Demokratie ursprünglich war und sein wollte“.7 Es geht hier also nicht eigentlich um eine ←18 | 19→Wortbestimmung, wie man die Inhalte von Demokratien korrekt bezeichnen kann, sondern vor allem darum, welche Institutionen und Verfahrensweisen Demokratien aufweisen sollen, um das höchstmögliche Mass an Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Wohlstand für die Bürger einer demokratischen Gesellschaft zu verwirklichen. In der allgemeinen Vorstellung und in den Köpfen vieler Politologen oder Journalisten spukt noch immer die „Männer machen Geschichte“-Ideologie herum, d. h. dass es in einer Demokratie vor allem auf die politischen Persönlichkeiten ankomme: „Es herrscht ein Wettbewerb von Männern und ein Konflikt von Vorschlägen und diese konstruieren den vertrautesten Aspekt der Politik.“8

Diese mentale Verdrängung von Institutionen durch Personen führt zu einem erschreckenden Vorgang, wie eine im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung im Sommer 2008 durchgeführte Studie belegt, dass nämlich jeder dritte Bundesbürger – in Ostdeutschland waren es sogar rund 53 % – unseren Politikern nicht mehr zutraut, die anstehenden Probleme zu lösen und 40 % nicht mehr daran glauben, dass Demokratie überhaupt noch funktionieren kann. Bei Politikern, Lehrern, Bildungsinstitutionen und gesellschaftlichen Organisationen müssten eigentlich die demokratischen Alarmglocken schrillen, wenn die ablehnende Distanz zu einem freiheitlichen politischen System in einem Ausmaß zunimmt, dass eine große Zahl von Bundesbürgern bereit ist, der Demokratie den Rücken zu kehren. Da hilft es auch wenig weiter, wenn man so randständige Interessenorganisationen wie Sport- oder HobbyVereine in das scheinbare Zentrum demokratischen Verhaltens zu rücken versucht und ihnen „eine demokratieförderliche Wirkung auf das politische Gefüge des Staates insgesamt“9 einräumt.

Die historischen Ausprägungen von Demokratien seit dem 18. Jahrhundert haben zu einer solchen institutionellen – und manchmal verwirrenden – Vielfältigkeit von demokratischen Gesellschaftssystemen geführt, dass man m. E. nicht mehr von der Demokratie reinen Typs sprechen kann. Man vergleiche etwa nur die USA mit der Schweiz, Frankreich mit Deutschland oder Japan mit Indien, dann erkennt man sofort, dass diese Demokratien sich in vielfältiger Hinsicht gründlich voneinander unterscheiden und eigentlich als unterschiedliche demokratische Systeme angesehen werden müssen. Historische Besonderheiten, der langfristige Einfluss von Traditionen und Mentalitäten, die wirtschaftliche und soziale Ausgangslage bei Gründung einer demokratischen Regierungsform, die territoriale Größe oder das vorhergehende Regierungssystem sowie vieles andere mehr haben großen Einfluss auf die ←19 | 20→institutionellen und funktionalen Ausprägungen der entsprechenden Demokratie ausgeübt. In der heutigen Realität können wir ganz verschiedene Demokratien antreffen, deren Institutionen sich zum Teil erheblich unterscheiden, die selten ausgetauscht werden können. Deshalb führt es uns bei der exakten Untersuchung inhaltlicher Fragen, die Demokratien betreffen, überhaupt nicht weiter, wenn wir fordern: „Um Demokratie zu analysieren, ist es zuerst notwendig, sie zu definieren.“10

Der europäische Typ von ‚Demokratie‘, wie er sich in den letzten 50 Jahren vor der Jahrtausendwende herausgebildet hat, kann ungefähr so beschrieben werden: „Viele westliche Demokratien sind der Regierungsform nach Parlamentarismen, in denen nach einem ausgeklügelten Auszählungsverfahren Repräsentanten gewählt werden, die über die Repräsentierten herrschen, aber keinesfalls Staaten, in denen das Volk persönlich über sich selbst herrscht oder gar herrschaftsfreie Gesellschaften. Die Macht geht nur vom Volk aus und damit von ihm weg. Die Herrschenden nehmen für sich in Anspruch, im Sinne des Volkes zu entscheiden; gewiß aber wird über und keineswegs durch das Volk geherrscht.“11 Die volksdemokratischen Bewegungen scheinen dagegen im 21. Jahrhundert größere Zustimmung gerade bei jüngeren Menschen hervorrufen zu können, weil sie scheinbar ein größeres Mitbestimmungsrecht der Wähler ermöglichen.

Wenn wir eine solche definitorische Abgrenzung wie die von Klaus Kunze akzeptieren, dann müssen wir mit allem Nachdruck bestreiten, „daß die Athener eine Demokratie hatten“12 oder dass unsere politische Tradition, „soweit sie demokratisch ist, auf Athen zurückgeführt werden kann“.13 Denn ein gewähltes Parlament oder eine parlamentarische Vertretung des demokratischen Volkes hat es erst in unvollständigen Ansätzen in England seit dem 17. Jahrhundert und eigentlich erst seit der föderalen Gründung der USA gegeben. Wir müssen sogar noch weitergehen, als ←20 | 21→alle historischen Versuche, „aus der Antike konkrete Handlungsmuster für die Gegenwart bzw. Zukunft zu entwickeln, mit Skepsis“14 zu betrachten, sondern sie schlichtweg ablehnen. Denn eine solche antike Staatsform widerspricht nicht nur unserer demokratischen Vorstellung, sondern auch vollständig den demokratischen Inhalten, wie wir unten noch genauer sehen werden.

Hier soll jedoch keine historische Beschreibung der verschiedenen Ausprägungen von Demokratien gegeben, sondern ein keineswegs in allen Einzelheiten ausgearbeitetes Modell analysiert werden, wie eine Demokratie im 21. Jahrhundert konstruiert sein könnte und sollte, um den demokratischen Staatsbürgern ein hohes Ausmass von Freiheit und Sicherheit zu gewährleisten, das zur größtmöglichen Selbstverwirklichung in einer globalisierten Welt beitragen kann. Im methodischen Vordergrund stehen dabei die institutionellen Strukturen, auf denen jede rationale Demokratie beruhen soll und von nüchternen Menschen getragen werden muss, damit sie nicht in irrationale Schwärmerei oder vordergründige Symbolpolitik ausartet.15 Man könnte dieses Modell als ideal bezeichnen, wenn damit nicht zwei falsche Assoziationen verbunden werden, nämlich zum einen, dass wir uns einer „idealtypischen Maximal-Demokratie“16 annähern wollten, zum anderen, dass auf ganz konkret-empirische Institutionen und Verfahrensweisen von Demokratien nicht eingegangen würde.17 Mit anderen Worten: Auf dieses ideale Modell könnte ein Staat, der vor der wichtigen Frage steht, wie er hier und heute eine echte Demokratie aufbauen und konstruieren soll, ebenso zurückgreifen wie bereits existierende Demokratien, um ihre demokratischen Institutionen und Verfahrensweisen zu verbessern und zu reformieren.

Um zu zeigen, dass je nach politischer Interessenlage und Schwerpunktsetzung die Definitionen von Demokratie sich so stark unterscheiden, dass wir kaum noch übereinstimmende Gemeinsamkeiten erkennen können, werde ich hier einige solcher Definitionen anführen, ohne eine inhaltliche Bewertung abzugeben. Sie sind ohne ←21 | 22→irgendwelche Systematik oder einer politischen Absicht zusammengestellt worden, sondern stellen eine beliebige Auswahl aus einer wahllosen Lektüre für den langen Zeitraum seit dem Zweiten Weltkrieg bis heute dar und sollen hier auch nicht besonders interpretiert werden. Das eigentliche Anliegen, das damit verbunden wird, besteht lediglich darin, zu verdeutlichen, dass Definitionen nicht mit einer inhaltlichen Auseinandersetzung gleichgesetzt werden dürfen, sondern mehr oder weniger brauchbare Kürzel darstellen:

„Demokratie bedeutet Herrschaft der Mehrheit. In der freiheitlichen Demokratie ist aber die Herrschaft der Mehrheit durch die rechtsstaatlichen Grundsätze beschränkt.“

„Demokratie ist eine Sache der Vernunft – sie kann nicht von Gefühlen und Stimmungen leben.“

„Die Demokratie ist eine attraktive Regierungsform für die Mehrheit, die der Regierung untersteht, ohne selbst an der Regierung beteiligt zu sein, und das ist in jedem Land eine riesige Mehrheit.“

„Für die hier angestrebten Zwecke genügt es festzuhalten, daß unter Demokratie eine von Werten (z. B. Freiheit, Gleichheit, Alternative in der Herrschaftsbestellung, also Wahlen und deswegen Auswahlmöglichkeit, d. h. Parteien usw.) geprägte, sich durchaus in der Zeit wandelnde Lebensform zu verstehen ist, zu der zugleich, wenn auch mit ihr nicht identisch, eine Herrschaftsorganisation treten muß, die die Lebensform Demokratie regelt und steuert, d. h. in deren Rahmen die Demokratie sich vollzieht, Herrschaft eingerichtet, kontrolliert und abgelöst wird.“

„Demokratie ist ein System politischer Herrschaft. Staatsgewalt wird im Zeichen der Demokratie nicht aufgehoben, sondern dem Volk zugeordnet und durch das Volk legitimiert.“

„Wir bezeichnen heute mit Demokratie ein Regierungssystem, das vom Willen des gesamten Volkes getragen ist, so daß sich Staat und Gesellschaft, Regierende und Regierte miteinander identifizieren können.“

„Die Demokratie ist eine Staatsverfassung von Klein- und Flächenstaaten, in der die Herrschaft auf der Basis politischer Freiheit und Gleichheit sowie auf der Grundlage weitreichender politischer Beteiligungsrechte aller erwachsenen Staatsangehörigen mittel- und unmittelbar aus dem Staatsvolk hervorgeht, in offenen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen erörtert und unter Berufung auf das Interesse der Gesamtheit oder der Mehrheit der Stimmberechtigten ausgeübt wird, und zwar unter dem Damoklesschwert der Abwahl der Regierenden durch das Volk oder dessen Vertreter in regelmäßig stattfindenden allgemeinen, freien, gleichen, ←22 | 23→fairen Wahlen bzw. in parlamentarischen Abstimmungen über Regierungswechsel.“

„Die Volksherrschaft bildet das Wesen der Demokratie. Die Staaten, die in ihren Verfassungen ausdrücklich die Herrschaft des Volkes bekräftigen sowie in den entsprechenden Staatsorganen diese verwirklichen, reiht man der Definition nach zu den Demokratien.“

„Die Demokratie als Staatsform tritt im Allgemeinen in Situationen auf, in denen die Machtmittel in der Gesellschaft relativ gleichmäßig verteilt sind – es wird dabei immer noch große Unterschiede geben, aber in der Tendenz ist die Machtverteilung in Demokratien eindeutig weniger polar als in Autokratien.“

„Demokratie als Staatsform ist egalitär kontrollierte und legitimierte Repräsentation durch eine frei gewählte und selbständig entscheidende Volksvertretung.“

„Demokratie ist eine rechtsstaatliche Herrschaftsform, die eine Selbstbestimmung für alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger im Sinne der Volkssouveränität ermöglicht, indem sie die maßgebliche Beteiligung von jenen an der Besetzung der politischen Entscheidungspositionen (und/oder an der Entscheidung selbst) in freien, kompetitiven und fairen Verfahren (z. B. Wahlen) und die Chancen einer kontinuierlichen Einflussnahme auf den politischen Prozess sichert und generell eine Kontrolle der politischen Herrschaft garantiert.“

„Demokratie ist eine ‚Lebensform‘, die den Anspruch der Inklusion in das öffentliche Leben ebenso umfasst wie rationale Problembewältigung... Demokratie ist Bestandteil jener Sozialintegration, die unabkömmlich zum Menschen gehört, sie ist Teil unserer Identität.“18

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1.2 Politische Inhalte

Wir können somit klar erkennen, dass unterschiedliche Definitionen, was Demokratie ist oder sein soll, uns wenig darüber aussagen, wie eine Demokratie funktionieren und welche Institutionen sie aufweisen soll, um von anderen politischen Systemen abgegrenzt werden zu können. Erst wenn wir konkret danach fragen, wie sich z. B. (totalitäre) Diktaturen von (parlamentarischen) Demokratien unterscheiden, können wir uns über die demokratischen Inhalte ein besseres und genaueres Bild machen. Deshalb halte ich es für ein verwirrendes Wortspiel, das zur weiteren Klärung des Sachverhalts nicht das Geringste beiträgt, wenn von „bürgerlicher“, „sozialistischer“ oder „totalitärer“ Demokratie gesprochen wird, die sich durch in wenigen Händen konzentriertes Privateigentum an Produktionsmitteln, das gemeinwirtschaftliche Eigentum an Produktionsmitteln in einem zentralisierten Staat oder durch die von einem Führer bestimmte völkische Einheit unterscheiden sollen.19 Alle diese Herrschaftsformen verabsolutieren eine einzige Funktion der ökonomischen oder politischen Macht und können deshalb eher als monolitische Systeme denn als Demokratien angesehen werden. Einige knappe Beispiele für diese politische Spannbreite können die Unterschiede vielleicht etwas verdeutlichen:

In Diktaturen gibt es keine freien, gleichen und geheimen Wahlen. In Diktaturen gibt es nicht mehrere, miteinander konkurrierende politische Parteien. In Diktaturen gibt es keine rechtliche Gleichheit vor Gerichten. In Diktaturen gibt es keine einklagbare Glaubens-, Meinungs- und Pressefreiheit. In Diktaturen gibt es keine unantastbaren Eigentums- und Vertragsrechte. In Diktaturen gibt es keine individuellen Persönlichkeitsrechte gegenüber der Staatsmacht und kein striktes Verbot der Todesstrafe. Wenn trotzdem im Jahr 2013 – außer in China und Nordkorea, für die es keine Angaben gibt – 1.925 Menschen in 57 Staaten zum Tode verurteilt wurden und 23.392 Verurteilte in Todeszellen auf ihre Hinrichtung warteten, dann verdeutlichen diese Zahlen, dass auch in angeblich demokratischen Staaten diktatorische Maßnahmen angewendet werden. In Diktaturen gibt es nicht die freie Entscheidung, einen selbstgewählten Beruf auszuüben oder ein kapitalistisches Unternehmen zu gründen. In Diktaturen gibt es nicht die politische Möglichkeit, den Diktator auf friedliche Weise abzusetzen. Wir könnten diese Liste beliebig fortsetzen, doch es ist vielleicht bereits deutlich geworden, dass das Demokratische in einer Demokratie gegenüber anderen Gesellschaftssystemen – etwa Absolutismus, Diktatur, Faschismus, Nationalsozialismus, Totalitarismus oder Tyrannei – klar abgegrenzt ←24 | 25→werden kann, ohne auf die begriffliche Frage „Was ist Demokratie?“ genauer einzugehen.

Wie schwierig es jedoch z. B. ist, in Demokratien wie den USA, die sich vor über 220 Jahren eine demokratische Verfassung gegeben haben, nachträglich moderne humanitäre Elemente einzubauen, erkennt man an der in vielen amerikanischen Bundesstaaten weiter praktizierten Todesstrafe oder an dem freizügigen Waffenrecht, das jedes Jahr Zehntausenden von Menschen das Leben kostet. Noch im Juni 2008 hat die überwiegende Mehrheit der Richter des obersten Gerichtshofes der USA, der Supreme Court, unter ausdrücklicher Berufung auf den am 3. November 1791 eingefügten 2. Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung das geforderte Verbot des Besitzes von Handfeuerwaffen untersagt. Dieser Zusatzartikel, dessen verfassungsrechtliche Auslegung vom Supreme Court bis heute unterblieben ist, lautet: „Da eine gut ausgebildete Miliz für die Sicherheit eines freien Staates erforderlich ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden.“ Ob die hoffentlich richtige Aussage des Generalsekretärs von Amnesty International, Salil Shetty, nicht zu optimistisch ist, bleibt abzuwarten: „Der langfristige Trend ist klar – die Todesstrafe wird zu einer Sache der Vergangenheit.“20

Noch 1983 konnte ein US-Amerikaner – wohl ohne heftige Kritik seiner Landsleute befürchten zu müssen – schreiben: „Amerika hat jedoch immer eine besondere Verantwortung für die westliche Freiheit gehabt – es war immer die letzte und größte Hoffnung der demokratischen Bestrebungen unserer Zivilisation“.21 Nach den mit umfassendem Wissen und unkontrollierter Duldung der US-Regierung betriebenen Folterungen und Tötungen von Gefangenen im Irak (Abu Ghraib) und in Guantánamo kann die besondere freiheitliche Verantwortung nicht mehr mit so großen Buchstaben geschrieben werden – wie auch die demokratischen Hoffnungen auf das amerikanische Vorbild inzwischen gestorben sind. Nach gründlichen Untersuchungen von Amnesty International wurden 2008 weltweit in 25 Staaten mindestens 2.390 Menschen hingerichtet, im Iran 346, in Saudi-Arabien 102 und in den USA immerhin noch 37 Menschen. In China mindestens 1.718, d. h. trotz der Vergabe von angeblich friedlichen Olympischen Sommerspielen an Peking hatte sich die geschätzte Zahl der Hinrichtungen gegenüber 2007 fast vervierfacht. In 52 Staaten wurden mindestens 8.864 Männer und Frauen zum Tode verurteilt, während in 138 Staaten die Todesstrafe mittlerweile entweder abgeschafft ist oder nicht mehr vollstreckt wird.22 Bis 2018 ist die Zahl der Hinrichtungen weltweit auf 690 ←25 | 26→Menschen gesunken, davon mindestens 253 im Iran und 149 in Saudi-Arabien, und in 142 Staaten wird die Todesstrafe nicht mehr vollstreckt. Amnesty International beziffert die Höhe der Exekutierten in China auf mehrere Tausend, gibt jedoch keine Zahlen an, weil die statistischen Angaben der chinesischen Führung unzuverlässig seien.

Demokratie, so wurde immer wieder betont, sei die bewusste Bändigung der politischen Macht durch Institutionen, durch Gesetze und vor allem durch das Volk. Wenn wir allerdings moderne demokratische Wohlfahrtsstaaten betrachten, dann hat sich in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts eine solche Machtfülle in der Politik und in der Wirtschaft angehäuft, dass man sich schwer vorstellen kann, wie die alten Formen von Demokratien oder das wählende und/oder protestierende Volk diese politische und ökonomische Macht noch so zügeln können, dass vor allem seine Interessen berücksichtigt werden. Wirkungsvolle Kontrollinstanzen, die Machtmißbrauch, Korruption oder Vetternwirtschaft bei Politikern verhindern, wollen die Betroffenen selten selbst einrichten – und das Bundesverfassungsgericht ist dazu nicht in der Lage. Wirtschaftliche Ungleichheiten hat es im Zeitalter der Industrialisierung, d. h. im undemokratischen bzw. autoritären Deutschland vor allem im 19. Jahrhundert,23 noch in viel größerem Maße gegeben, doch die schleichende Zunahme von Korruption und Betrug droht die ethischen Fundamente von Demokratien auszuhöhlen.

Es wäre m. E. allerdings das Unklügste, gegenüber diesen unethischen Mächten zu kapitulieren oder zu resignieren bzw. das gewachsene Vertrauen in die Demokratie und ihre demokratischen Institutionen zu verlieren.24 Denn es hat sich in der Vergangenheit auch gezeigt, dass Demokratien – wenn auch oft nur schwerfällig und zögernd – zu institutionellen Reformen fähig sind und ein drohender Machtverlust durch häufigere Abwahl von Politikern oder der gewählten Regierung etwas bewirken kann. Trotzdem ist, besonders in krisenhaften Zeiten, die latente Gefahr tatsächlich vorhanden, dass die extreme Kompliziertheit der politischen und ökonomischen Sachverhalte sowie die Grössenordnungen der Staatshaushalte und der ←26 | 27→Unternehmensumsätze dazu führen können, dass die eigentlichen Aufgaben von Demokratien, nämlich die individuelle Freiheit und den materiellen Wohlstand des Volkes zu erhöhen, untergraben wird. Nach dem plötzlichen Zusammenbruch der meisten kommunistischen Herrschaftssysteme hat zwar eine beliebige Begrifflichkeit von formaler Demokratie weltweit einen unerwarteten Siegeszug angetreten, doch man kann vielleicht auch sagen, dass ‚Demokratie‘ erneut der „mißbrauchteste aller politischen Begriffe“25 geworden ist.

Eine andere Gefahr liegt m. E. in der veralteten Auffassung, die der Staatsrechtslehrer und Bundesverfassungsrichter Gerhard Leibholz (1901–1982) vertreten hat, dass in einer modernen Demokratie das Volk „die oberste, universale, finale, kurzum souveräne Entscheidungsinstanz“26 sei, von der sich alle politische Gewalt ableite. Wie wir noch sehen werden, wurde diese Vorstellung weder im klassischen Athen praktiziert noch in der amerikanischen Demokratie, auch wenn gerne folgende Aussage von Abraham Lincoln (1809–1865) zitiert wird: „Democracy is rule of the people, by the people, for the people“. Dass noch 1933 den Athenern des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. unterstellt wurde: „They developed a system which provided for the government of the people, for the people, and by the people“,27 zeigt m. E. schlaglichtartig, wie wenig die institutionellen Grundvoraussetzungen von modernen Demokratien verstanden worden sind. Wir müssen uns deshalb sorgfältig Gedanken darüber machen, wie diese institutionellen Strukturen und die politischen Machtverhältnisse in einer modernen Demokratie so austariert werden können, dass eine funktionierende Demokratie erhalten bleibt oder errichtet werden kann. Die politische Kontrolle bzw. die kritische Volkssouveränität muss gestärkt werden – allerdings nicht durch einen weiteren Ausbau der direkten Demokratie, wie wir später sehen werden –, damit die politischen und ökonomischen Machtpotentiale in demokratischen Schranken gehalten werden können. Doch wie könnte dieses Programm in einer modernen Demokratie aussehen? Es ist das eigentliche Thema dieses Buches, demokratische Lösungsvorschläge dafür zu präsentieren, ohne dass ich mich irgendwelchen Illusionen – lediglich einer vagen Hoffnung – darüber hingäbe, dass diese reformerischen Vorschläge oder auch nur einige davon einmal verwirklicht würden.

Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass es in dieser historiographischen Arbeit nicht darum geht, eine umfassende oder vollständige Theorie der Demokratie zu präsentieren, noch darum, die verschiedenen demokratischen Institutionen und politischen Verhaltensweisen in allen ihren Einzelheiten zu analysieren. Die ←27 | 28→teilweise heftige Kritik an Fehlverhalten in modernen Demokratien und ihren politischen Repräsentanten richtet sich gegen die institutionellen und finanziellen Auswüchse, die mit einer völlig unangemessenen Aufblähung der politischen Ministerien und bürokratischen Verwaltungen sowie der intransparenten Parteienfinanzierung und der stark gestiegenen Abgeordnetendiäten seit den 1950er Jahren einhergegangen sind und die unsere Demokratie eher bedrohen als sie zu stabilisieren. Die politischen Parteien haben sich vom Volkswillen weitgehend unabhängige Bollwerke errichtet und innerparteiliche Kritik wird als unerwünschte Nestbeschmutzung angesehen, weil die unbedarften Wähler die eigentlichen Aufgaben von Demokratie aus den wohlstandsgeblendeten Augen verloren haben. Der ständige Ruf nach regionalen oder nationalen Volksabstimmungen zeigt nur zu deutlich, dass das parlamentarische System sich ungeheuer schwertut, sowohl auf nationaler, europäischer oder internationaler Ebene akzeptable Problemlösungen anzubieten und durchzusetzen. Die massive Zunahme radikaler linker wie rechter Parteien in verschiedenen europäischen Staaten verdeutlicht die steigende Unzufriedenheit vieler kritischer Wähler mit den etablierten Parteien, die ihre vielgelobte Volksnähe zu verlieren scheinen. Um keine zu großen Mißverständnisse über die eigentlichen Zielsetzungen, die diesem Buch zugrunde liegen, aufkommen zu lassen, möchte ich drei Ziele kurz umreißen:

1.3 Das Ideal einer Demokratie

Obwohl ich in den einzelnen Kapiteln auf konkrete Institutionen und Verfahrensweisen in Demokratien eingehe – vor allem auf diejenigen in der Bundesrepublik Deutschland seit 1949 – sowie ihre inhärenten Stärken und selbstverschuldeten Schwächen an konkreten politischen Beispielen erläutere, ist das ganze Buch doch als ideales Modell einer Demokratie konzipiert. Ideal bezeichnet in diesem konkreten Fall allerdings keine Utopie oder eine phantastische Konstruktion, sondern eine in die politische Realität überführte bzw. überführbare demokratische Institutionenlehre. Deshalb stimme ich mit der idealistischen Ansicht von Giovanni Sartori überein, dass, „wenn Ideale konstruktiv sein sollen, ... sie mit den einschlägigen Tatsachen in Wechselwirkung stehen und sie erklären28 müssen. ‚Ideale Demokratie‘ soll auch nicht heißen, eine politische Ordnung vorzuschlagen, die keine vermeidbaren Fehler aufweist und keine institutionellen Veränderungen benötigt, denn auch eine ideale Demokratie als politische Herrschaftsform kann niemals reibungslos funktionieren, weil denkende Menschen fehleranfällig sind und die veränderte Zukunft nicht voraussehen können. Ökonomische und politische Zukunftsforscher sind zwar überall gefragt, doch meistens sind ihre längerfristigen Prognosen weit von der Realität entfernt, weil unvorhersehbare Ereignisse, wie z. B. die ←28 | 29→Corona-Pandemie, von keinem ‚Hellseher‘ vorausbestimmt werden konnte. Hans Klein formuliert diese Fehleranfälligkeit von Menschen auf eine anschauliche Art: „Bildungsgrad, Einkommenshöhe, ausgewiesener wirtschaftlicher, kultureller oder gesellschaftlicher Erfolg – nichts von alledem feit vor politischer Irrtumsfähigkeit und vorrangiger Wahrnehmung unmittelbaren Eigen- oder Gruppeninteresses.“29 Irrationaler Autoritätsglaube ist der größte Feind einer lebendigen Demokratie und intellektuelle Überheblichkeit von Politikern gegenüber einfachen Staatsbürgern ist eine akute Gefahr für ein friedliches Weiterbestehen von abstrakten Gleichheitsgrundsätzen verpflichteten Demokratien.

In einer modernen Demokratie müssen meistens politische Kompromisse geschlossen werden, d. h. auch, dass ihre verfassungsmäßigen Institutionen Mischformen sind und nicht nach einem unveränderbaren Prinzip gestaltet werden können. Wir können jedoch der idealistischen Forderung zustimmen: „Wir müssen das Vollkommene verlangen und uns nach dem Vollkommenen einrichten, weil wir sonst auch das Unvollkommene nicht erreichen.“30 Viele gesellschaftliche Gruppen stellen jedoch uneinlösbare Maximalforderungen und untergraben damit den relativen Kompromißcharakter von Demokratien, was durch anonyme Hetzkampagnen in sozialen Netzwerken zu einer realen Bedrohung eines harmonischen und toleranten Zusammenlebens ausarten kann. Ich habe berechtigte Zweifel, ob Politiker in den meisten heute existierenden Demokratien die politische Kraft und den demokratischen Mut haben, diejenigen Reformen einzuleiten, die für ein friedliches Zusammenleben und einen angemessenen Lebensstandard nötig wären. Um die vorhandenen Unvollkommenheiten der jeweiligen Demokratien dem konstruierten Ideal anzupassen, möchte mein Modell ein hochgestecktes Ziel formulieren. Es könnte dazu dienen, als praktikable Vorlage für diejenigen Staaten herangezogen zu werden, die nach dem plötzlichen Ende der weltweiten Polarität zwischen demokratischem Kapitalismus und planwirtschaftlichem Kommunismus daran gehen, ihr gesellschaftliches Staatswesen in eine parlamentarische Demokratie umzuwandeln. Ob ein solches Demokratie-Ideal einmal verwirklicht wird oder nicht, darüber kann ich keine überprüfbare Aussage treffen, doch mein explizites Ziel ist es, die institutionellen Grundstrukturen davon herauszuarbeiten, wie es in der politischen Realität aussehen könnte. Deshalb ist es für meine demokratischen Überlegungen unerheblich, ob eine schöne Theorie, wie Walter Lippmann glaubte, von einer rücksichtslosen Bande brutaler Tatsachen totgeschlagen wird.

←29 | 30→

1.4 Die Funktionsweisen der Demokratie

Eine moderne Demokratie ist ein sehr kompliziertes Geflecht von Institutionen, Parteien, Staatsbürgern, Unternehmen, Wirtschaftsorganisationen, gesellschaftlichen Gruppen und öffentlichen Massenmedien bzw. zwischen Regierenden und Regierten. Um dieses spannungsreiche Netzwerk in einem einigermaßen politischen Gleichgewicht zu erhalten, d. h. bürgerkriegsähnliche Konflikte zu vermeiden und den individuellen Schutz der betroffenen Menschen vor politischer Willkür zu gewährleisten, bedarf es weit mehr als wohlklingende Parteiprogramme, allgemeine Wahlen oder möglichst preiswerte Güter und Dienstleistungen. Diese Demokratien benötigen ein spannungsgeladenes und spannungsentladendes Austarieren von unterschiedlichen Standpunkten, also einen kritischen Meinungspluralismus, der von der rationalen Überzeugung getragen wird, dass niemand für sich absolute Wahrheiten in Anspruch nehmen kann und darf. Der permanente Entscheidungsdruck auf handelnde Politiker, für vielfältige Fragen und akute Probleme angemessene Lösungen zu durchdenken, vorbereiten zu lassen und umzusetzen, führt m. E. oft zu falschen Prioritätentscheidungen, weil das politische Gestrüpp viel zu dicht geworden ist und eigentlich die politischen Prozesse entschleunigt werden müssten, wozu Zeit und Muße fehlt.

Demokratien werden keinen dauerhaften Bestand haben, wenn politische Parteien und gewöhnliche Staatsbürger hauptsächlich daran interessiert sind, aus diesem labilen System möglichst viele materielle Vorteile herauszuschlagen, denn trotz verbürgter Rechte kommt es wesentlich darauf an, seine Pflichten gegenüber der sozialen Gemeinschaft zu kennen und zu praktizieren, nicht nur zu Corona-Zeiten. Die größte Gefahr für eine funktionierende Demokratie besteht m. E. in dem leichtfertigen Versuch der bewußten oder unbewußten Manipulation der Bürger durch Parteien und Medien, durch aufreizende Sensationsberichte und werbeträchtige Propagandainformationen sowie durch anonym verbreitete Verschwörungstheorien, deren empirischer Gehalt minimal ist. Denn viele Lösungsansätze unserer heutigen politischen und ökonomischen Probleme sind für den demokratischen Laien nicht nachvollziehbar, d. h. er/sie muss sich bei der inhaltlichen Urteilsbildung auf das veröffentlichte Extrakt von Experten verlassen und verlassen können. In diesem fast chaotischen Gewirr von medialen und elektronischen Angeboten ist der gewöhnliche Empfänger von politischen und wirtschaftlichen Informationen nicht nur machtlos, sondern er ist gewissermaßen einer geringen Zahl von hochspezialisierten Experten ausgeliefert, was dem egalitären Grundgedanken von Demokratie widerspricht, weil demokratische Mehrheits- und das Gleichheitsprinzipien verletzt werden.

Auf welche Art und Weise diese vorhandenen Spannungen zwischen Regierung und Staatsvolk aufgrund von technisch und wissenschaftlich höchstkomplizierten Vorgängen zumindest verringert werden können, soll in den folgenden Kapiteln ←30 | 31→untersucht werden. Wenn nämlich eine erhebliche Diskrepanz zwischen öffentlichem Expertenwissen und dem einfachen Verständnis der Staatsbürger über längere Zeit hinweg zu groß wird, muss sich als gravierende Folge politische Apathie und ablehnende Gleichgültigkeit gegenüber den demokratischen Strukturen einstellen. Das persönliche Interesse an politischen Informationen verringert sich parallel zur individuellen Betroffenheit, d. h. wenn der gewöhnliche Wähler nicht mehr versteht, was Politiker ihm als sinnvoll anempfehlen, wird seine vorhandene Bereitschaft abnehmen, sich damit zu beschäftigen. Die bewußte Falschinformation der öffentlichen Meinung durch Parteien und Medien, wie sie immer wieder national wie international vorkommt, scheint mir deshalb eine größere Gefahr für Demokratien zu sein als vorübergehende Nichtinformiertheit, da erstere bei den Bürgern eine generelle Ablehnung und tiefes Mißtrauen hervorruft. Wir können deshalb teilweise mit der demokratietheoretischen Ansicht von Giovanni Sartori übereinstimmen, dass „das ganze Gebäude der Demokratie letzten Endes auf der relativen Fairneß, Unparteilichkeit oder Richtigkeit der der Öffentlichkeit gelieferten Informationen ruht“.31

Es ist jedoch zusätzlich darauf hinzuweisen, dass diese interessegeleiteten Informationssysteme Demokratien freiheitlicher funktionieren als alle anderen Regierungssysteme, die wir kennen, selbst wenn sie nicht vollkommen sind. In ökonomischen oder politischen Krisenperioden verstärkt sich dagegen eine gefährliche Tendenz, nämlich autoritären Regimen eine größere Entscheidungskompetenz zuzutrauen als schwerfällig agierenden Demokratien. Allerdings können historische Beispiele klar belegen, dass politische Machthaber in Einparteiensystemen ihre angemaßten Entscheidungskompetenzen eher missbrauchen als sie zum materiellen Wohl ihrer Untergebenen zu benützen. Eine definitive Entscheidung darüber, ob wir in Demokratien in den besten aller Welten leben, wie Karl Popper glaubte, der zwei fürchterliche Weltkriege durchlitten hat, scheint mir nachrangig gegenüber der aktuellen Forderung zu sein, dass die praktizierte Politik in Demokratien an dem sozialen Wohl der Bürger ausgerichtet bleibt, selbst wenn es nicht für alle gleichermaßen verwirklicht werden kann. Demokratien haben es ermöglicht, die politische Macht so zu verteilen und zu zügeln, dass demokratische Staatsbürger frei von lähmender Angst vor politischer Unterdrückung und gesellschaftlicher Ungleichbehandlung – wenn auch nicht frei von wirtschaftlichen Gefahren – sich selbst verwirklichen und entfalten können. Die angesprochene Frage zu beantworten, wie diese politische Partizipation der Menschen in einer Demokratie verbessert werden kann, ist ein weiteres Ziel dieser Arbeit.

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1.5 Die gefährdete Zukunft von Demokratien

Der dramatische Zusammenbruch bzw. das allmähliche Verschwinden kommunistischer Gesellschaften und Planwirtschaftssysteme seit 1989 in Europa hat das politische Herrschaftssystem ‚Demokratie‘ vor neue, unvorhersehbare Herausforderungen gestellt. Nicht nur, dass die politische, wirtschaftliche und militärische Rivalität zwischen den zwei großen Blöcken Westlicher Kapitalismus und Östlicher Kommunismus nun weitgehend der blockfreien Vergangenheit angehört, sondern der vielgerühmten Demokratie gehört nun scheinbar die alternativlose Zukunft in unserem globalisierten Weltsystem. Ich sage bewusst scheinbar, denn was bisher an sogenannten neuen Demokratien oder demokratischen Staaten entstanden ist, verfehlt das Ideal unserer Demokratie in vieler Hinsicht. Zwar hat Francis Fukuyama in seinem aufsehenerregenden Buch Das Ende der Geschichte die vielumstrittene These vertreten, dass sich nach dem vollständigen Zusammenbruch des Kommunismus weltweit „ein bemerkenswerter Konsens über die Legitimität der liberalen Demokratie als Regierungssystem herausgebildet“32 habe und ahistorisch behauptet, „das Ideal der liberalen Demokratie ist nicht verbesserungsbedürftig“. Die reale Entwicklung seit 1991 wird ihn wohl inzwischen eines Besseren belehrt haben, denn Demokratie ist nicht nur gleich Demokratie, sondern unsere westlichen Demokratien sind vielleicht stärker gefährdet als jemals zuvor. Ich kann deshalb Fukuyamas eindimensionale Ansichten nicht teilen, weswegen es als ein weiteres Ziel meiner Überlegungen angesehen wird, auf die akuten Gefahren von zukünftigen Demokratien hinzuweisen und realisierbare Vorschläge dafür zu unterbreiten, wie sie verbessert werden können.

Diese bedrohten Demokratien sollen mit politischen Fehlentscheidungen konfrontiert werden, die heutige Politiker regelmäßig begehen und die sich deshalb eine rigorose Kritik gefallen lassen müssen. Wir brauchen ja nicht das oft verwendete Menetekel einer terroristischen Bedrohung durch islamische Mörderbanden an die angsterfüllte Wand zu malen, um erkennen zu können, dass Demokratien von innen ausgehöhlt werden können, weil Politiker machtversessen sind und ihre eigentlichen Aufgaben vernachlässigen. Ebensowenig kann ich die negative Einschätzung eines italienischen Denkers akzeptieren, der etwa um die gleiche Zeit wie Fukuyama schrieb: „Die auf der Ebene der internationalen Beziehungen von der Demokratie und den Garantien der Spielregeln Ausgeschlossenen erleiden eine ähnliche ←32 | 33→Verletzung der Rechte im Inneren der kapitalistischen Metropole.“33 Denn der nicht nur von Marxisten und Kommunisten so oft verdammte Kapitalismus ist kein geeignetes Objekt, um die demokratischen Fehler auf ihn abzuwälzen, denn kapitalistische Systeme können ohne demokratische Strukturen glänzend funktionieren – siehe China oder Russland im 21. Jahrhundert. Realistischer scheint mir dagegen folgende Ansicht zu sein, die kurz nach dem Ersten Weltkrieg geäußert wurde, auch wenn sie m. E. der religiösen Komponente ein zu starkes Gewicht einräumt: „So löst sich die Frage der Fortdauer der Demokratie in die Frage auf, ob die Menschheit an Weisheit und Tugend zunimmt, und damit hängt die Frage zusammen, was die Religion in Zukunft sein wird, da diese für die feineren und empfindlicheren Geister die hinter der Moral stehende bewegende Kraft war.“34

Selbst wenn viele unterentwickelte Staaten oder Entwicklungsländer vor 1990 nur rudimentäre demokratische Strukturen aufgewiesen haben, so lag diese mangelhafte weltweite Verbreitung von Demokratien selten an den internationalen Beziehungen oder an fehlender Unterstützung durch die internationale Weltgemeinschaft. Die wohlstandsgesättigte Welt hat zweifellos gegenüber kolonialisierten Gebieten eine schwere Schuld auf sich geladen, doch einer der tieferliegenden Gründe für die demokratische Rückständigkeit in diesen wenig industrialisierten Staaten war eine oft unkritische Bereitwilligkeit der dortigen staatlichen Regierungen, nach der Entkolonialisierung sozialistische oder kommunistische Herrschaftssysteme zu errichten; meistens als Einparteienstaat. Damit haben sie ein unfreies Gesellschaftssystem akzeptiert, in dem die formale Gleichheit vor die individuelle Freiheit gesetzt wurde, ohne den industriellen Wohlstand zu erhöhen. Schließlich wurden beide Werte verloren, die Freiheit und der Wohlstand, weil auch eine annähernde ökonomische Gleichheit ein effektives Wirtschaftssystem voraussetzt, das kaum durch eine zentralistische Planwirtschaft zu erreichen ist. Ebenso werden die unrealistischen bzw. idealistischen Träumereien von einer angeblichen Identität von Staat und Gesellschaft, die der gefährlichen Illusion huldigen, erst dann, „wenn wir die Demokratie als Gesellschaftssystem verwirklicht haben, kann auch die neue Menschheitsgemeinschaft des Geistes Wirklichkeit werden“,35 hier abgelehnt.

Echte oder ideale und zukünftige Demokratien müssen ganz bestimmte Institutionen besitzen und rechtliche Regeln beinhalten, wie sie in den folgenden Kapiteln beschrieben und analysiert werden, um den überall lauernden Gefahren, sie ←33 | 34→auszuhöhlen oder zu unterwandern, wirkungsvoll begegnen zu können. Schon die bisherigen Demokratien haben aus Rechten und Pflichten sowohl der Politiker als auch der Wähler bestanden, die teilweise im Konsens, teilweise in Konflikten bestätigt oder verändert werden konnten. Doch dadurch wurde nicht verhindert, dass durch eine unverantwortliche Aufblähung der Staatseinnahmen und -ausgaben demokratische Strukturen und rechtliche Freiheiten immer stärker verwässert wurden und die steuerzahlenden Staatsbürger nunmehr einem mächtigen, reformunwilligen Staatsapparat gegenüberstehen, der einen großen Teil der eingenommenen Steuermilliarden ohne wirkungsvolle Kontrolle bzw. unterbindende Eingriffe verausgabt. Die Europäische Union hat m. E. bei der institutionellen Förderung von Demokratisierung in den einzelnen Mitgliedsstaaten ebenfalls versagt bzw. schwerwiegende Fehler begangen, weil sie auf vielen politischen und ökonomischen Ebenen einem überholten zentralistischen Modell huldigt, das wirkungsvolle demokratische Kräfte in den Regionen der Einzelstaaten erlahmen läßt. Selbständig agierende Regionen stehen einer planerischen Gleichmacherei nicht nur feindlich gegenüber, sondern deren gelegentliche Anstrengungen, eigene Konzepte durchzusetzen, werden durch eine endlose Brüsseler Gesetzesflut weitgehend konterkariert.

Die gegenseitige Austragung von auftretenden Konflikten, d. h. die argumentative Suche nach politischen Kompromissen, gehört ganz entscheidend zur modernen Demokratie und sollte viel stärker in das öffentliche Bewußtsein der Staatsbürger gerückt werden, als es in einer kritikarmen Konsens- oder Harmonie-Demokratie üblich ist. Von vielen Politikern wird allerdings der vordergründige Eindruck erweckt und vor allem in Wahlkampfzeiten propagiert, dass in einem demokratischen Staat die rationale Austragung von politischen Konflikten eigentlich nur die seltene Ausnahme sei und alle besser an einem solidarischen, gemeinsamen Strang zögen. Man kann dieses konfliktvermeidende Harmoniebedürfnis auch so ausdrücken: „Konsens ist ein Ideal der Herrschaftslosigkeit, nicht demokratischer Herrschaft.“36 Die rationale Lösung von politischen Konflikten muss allerdings ebenfalls nach akzeptierten Regeln erfolgen, die die menschliche Würde des jeweiligen Kontrahenten nicht verletzen, was in politischen Kontroversen leider allzu selten der Fall ist und durch das Internet zur anonymen Farce wird. Und dabei sollte man nicht, wie schon öfters geschehen, zu schnell auf eine Mehrheitsregel pochen, denn kritische und sachliche Diskussionen sind demokratiestärkend und spannungsgeladen. Wenn es sich um wichtige politische Fragen handelt, kann ein effektiver Kompromiß oder ein rationaler Konsens nur schwer erreicht werden, wenn ein schnelles Ergebnis gefordert ist, deshalb ist demokratische Geduld gefordert.

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Neben politischen Diskussionen und dem schwierigen Prozess der Kompromißfindung benötigen Demokratien ein bestimmtes Maß an gemeinsamer Übereinstimmung in grundlegenden Wertüberzeugungen oder in der politischen Kultur.37 Diese eigentlich selbstverständliche Forderung wird heute zu einem gesellschaftsspaltenden Keil, da selbst unser ehemaliger Bundespräsident Joachim Gauck die scheinbar tolerante Ansicht vertreten hat, der Islam gehört zu Deutschland, was zumindest die unangemessene Assoziation erweckt, dass eine zweitausenjährige Tradition des christlichen Abendlandes durch ein paar Millionen Menschen islamischer Religion nicht mehr als überragender Leitwert anerkannt werden soll. Eine ideologische Spaltung der Gesellschaft, wie wir sie in den letzten Jahren in den USA verfolgen konnten, kann demokratischen Traditionen nur abträglich sein, selbst wenn ‚heilige‘ Schwüre abgegeben werden. Auch wenn man wie ich unmenschlichen Exzessen im Christentum äußerst kritisch gegenübersteht, kann kaum bestritten werden, dass es die europäische Geschichte tiefgreifend beeinflusst und bereichert hat, tiefgreifender jedenfalls als der Islam. Wenn dieser Minimalkonsens in ethischen Grundfragen in der Gesellschaft nicht vorhanden ist, dann erhöht sich bei schweren politischen und/oder ökonomischen Krisen die rechts- oder linksextreme Gefahr, dass die Demokratie unterminiert wird oder gar scheitert, wie nach dem Ersten Weltkrieg in Italien, Deutschland und Spanien zu beobachten war. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als in vielen Staaten demokratische Institutionen errichtet wurden, stellten sich nach ökonomischen Verwerfungen ebenfalls gesellschaftliche Krisenphänomene ein, doch was wir gegenwärtig erleben, droht die demokratischen Strukturen nach und nach auszuhöhlen.38


1 Andrea Kirsch: Demokratie, Baden-Baden 2008, S. 30. Dass Demokratie auch ohne Mehrheitsprinzip funktionieren kann, sieht man allein an der nicht mehr so seltenen Existenz von Minderheitsregierungen. Auf diese Fragen gehe ich im II Kapitel näher ein. Die Literaturangaben werden im ganzen Buch verkürzt zitiert und können im Literaturverzeichnis vollständig erschlossen werden.

2 Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft. Bd. I, Tübingen 2003, S. 149, schrieb über den politischen Vorteil der demokratischen Kontrolle, dass wir uns Regierungen „ohne Blutvergießen, zum Beispiel auf dem Weg über allgemeine Wahlen, entledigen können“.

3 Auch Joseph A. Schumpeter: Kapitalismus, Tübingen/Basel 2005, S. 374, glaubte, man müsste „zuerst das Wesen der Demokratie erforschen“.

4 Weil Joseph Kabila, der Sohn des früheren kongolesischen Diktators Laurent-Désiré Kabila, am 21. August 2006 nach einer umstrittenen Wahl zum Präsidenten von Kongo erklärt wurde, glauben

5 Vgl. Gerhard Leibholz: Zum Begriff (1956), Karlsruhe 1967, S. 147. Leibholz hat die inhaltliche Unhaltbarkeit dieser Zusammenstellung m. E. deshalb nicht erkannt, weil er „die Gleichheit als das ‚Kardinalprinzip‘ der Demokratie“ (ebd.) angesehen hat. Jacob L. Talmon: Die Ursprünge, Köln/Opladen 1961, glaubte, dass liberale und totalitäre Demokratien seit dem 18. Jahrhundert nebeneinander existierten.

6 Ralf Dahrendorf: Die Krisen, München 2002, S. 9. Dahrendorf war davon überzeugt, „dass die Demokratie auf nationalstaatlicher Ebene eine vorzügliche Regierungsform war und immer noch ist“ (S. 12).

7 Hans Erich Stier: Die klassische Demokratie, Köln/Opladen 1954, S. 8. Es ist m. E. bezeichnend, dass Stier nicht die demokratischen Institutionen, sondern den militärischen Führer ins Zentrum seines angeblich demokratischen Herrschaftssystems rückte: „Ist nicht die demokratische Staatsform, recht verstanden, die einzige, in der die wirklich bedeutende Persönlichkeit, nunmehr unbehindert durch das Hofschranzentum, die Hofintrigen und die Günstlingswirtschaft der Monarchie, zur vollen Entfaltung ihrer Kräfte und Fähigkeiten im Dienste des Gemeinwohls zu kommen vermag?“ (S. 17).

8 So Bertrand de Jouvenel: Reine Theorie, Neuwied/Berlin 1967, S. 161. Nach Jouvenel muss sich das Studium politischer Dynamik auf den zielstrebigen Politiker konzentrieren: „Hier ist ein Held für uns, ein Mann, der die Zukunft herbeizaubert, ein Schöpfer.“ (S. 209).

9 Sigrid Roßteutscher: Undemokratische Assoziationen, Wiesbaden 2008, S. 63. Es scheint mir ebenfalls keinen realistischen Sachverhalt wiederzugeben, wenn man glaubt: „In seiner Gesamtheit jedoch ist das Vereinswesen eher Resonanzboden und Verstärker der dominanten politischen Kultur als ein Katalysator demokratischer Umbrüche.“ (S. 70).

10 Barry Holden: The Nature, London 1974, S. 1 (Meine Übersetzung). Ich halte deswegen auch wenig von dem vermittelnden Vorschlag von Friedrich A. von Hayek: Recht, Tübingen 2003, S. 347, wegen des Missbrauchs des Wortes Demokratie „die Bezeichnung Demarchie für das Ideal heranzuziehen, für das ursprünglich Demokratie eingeführt wurde“ (Hervorhebungen im Original).

11 Klaus Kunze: Der totale Parteienstaat, Uslar 1998, S. 7. Bezogen auf die bundesrepublikanische Wirklichkeit bedeutet diese Definition: „Deutschland ist heute der Regierungsform nach ein demokratischer Parlamentarismus, nicht aber eine parlamentarische Demokratie.“ (S. 11. Hervorhebungen im Original).

12 Kurt A. Raaflaub: Introduction zu ders. u. a.: Origins, Berkeley/Los Angeles 2007, S. 12 (Meine Übersetzung). Raaflaub verstrickt sich allerdings in eklatante Widersprüche, wenn er wenig später schreibt, „that the Athenian democracy can be claimed only to a very limited extent as an ancestor of modern democracy”, doch „democracy and the democratic idea still originated in Greece” (S. 13).

13 Paul Cartledge: Democracy, in ebd., S. 156 (Meine Übersetzung und Hervorhebung).

14 So in der Einleitung zu den von Klaus Stüwe und Gregor Weber herausgegebenen Texten: Antike und moderne Demokratie, München 2004, S. 14 f. Skeptisch gegenüber der inhaltlichen Vergleichbarkeit der antiken mit westlichen Demokratien ist auch Richard Saage: Demokratietheorien, Wiesbaden 2005, S. 40 ff., der allerdings schreibt: „Die attische Demokratie ist ebenso wie die moderne Demokratie zu ihrem Funktionieren auf eine politische Kultur angewiesen, die regulativ auf ihre Institutionen zurückwirkt.“ (S. 42).

15 Ich halte deshalb die Ansicht von Josiah Ober: Mass, Princeton (N.J.) 1990, S. 338, für eine grobe Verkennung der eigentlichen Funktionen von modernen Demokratien aufgrund von antiken Analogien: „Athenian democracy – like all other forms of political organization – was predicated on and functioned through a network of symbols.“ (Hervorhebung von mir).

16 Colin Crouch: Postdemokratie, Bonn 2008, S. 29.

17 Giovanni Sartori: Demokratietheorie, Darmstadt 2006, S. 55, schreibt: „Es gibt keinen Widerspruch zwischen einer realistischen Erkenntnis und einem demokratischen Bekenntnis.“ Dieser theoretischen Auffassung kann ich mich voll und ganz anschließen.

18 Die Zitate entstammen in der entsprechenden Reihenfolge chronologisch den Abhandlungen von Ernst Friesenhahn: Parlament und Regierung, Berlin 1958, S. 16; Theodor Geiger: Demokratie ohne Dogma, München 1964, S. 348; Arnold J. Toynbee: Die Zukunft des Westens, München 1964, S. 47; Heinz Rausch: Das parlamentarische Regierungssystem, Stuttgart 1971, S. 11 (Hervorhebungen im Original); Josef Isensee: Grundrechte und Demokratie, Bonn 1981, S. 13; Wilhelm Korab: Tradition und Demokratie, Berlin 1982, S. 127; Manfred G. Schmidt: Demokratietheorien, Wiesbaden 2008, S. 19; Klaus Littau: Wenn die Regierenden versagen, Frankfurt am Main 1999, S. 66; Hanno Scholtz: Effiziente politische Aggregation, Opladen 2002, S. 69; Paul Kirchhof: Entparlamentarisierung der Demokratie? Wiesbaden 2004, S. 361; Hans-Joachim Lauth: Demokratie und Demokratiemessung, Wiesbaden 2004, S. 100 (Im Original ganz kursiv gesetzt); Emanuel Richter: Die Wurzeln der Demokratie, Weilerswist 2008, S. 16.

19 Vom marxistischen Standpunkt, der von dem Klassengegensatz zwischen Kapitalisten und Arbeitern ausgeht, konnte dieses Sammelsurium nur heißen: Ä'LHSROLWLVFKH'HPRNUDWLHLVWIUGDV3UR letariat eine unentbehrliche Waffe, ein gewaltiges Mittel, seinen Einfluß im Staate zur Geltung zu bringen und seine Massenanziehung zu verstärken.“ (So Max Adler: Politische oder soziale Demokratie, Berlin 1926, S. 11. Hervorhebung im Original).

20 Zitiert von Michael Donhauser: Zahl der Hinrichtungen gestiegen. In: Donaukurier, Nr. 72. Donnerstag, den 27. März 2014, S. 2.

21 Benjamin Barber: Starke Demokratie, Hamburg 1994, S. 16 (Hervorhebungen von mir).

Details

Pages
728
Year
2022
ISBN (PDF)
9783631884195
ISBN (ePUB)
9783631884201
ISBN (Hardcover)
9783631884188
DOI
10.3726/b19926
DOI
10.3726/b19983
Language
German
Publication date
2022 (October)
Published
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 728 S., 2 s/w Abb.

Biographical notes

Hubert Kiesewetter (Author)

Hubert Kiesewetter studierte Ökonomie, Philosophie, Geschichte und Wissenschaftstheorie in Frankfurt am Main, Kiel, an der London School of Economics und in Heidelberg. 1973 Promotion in Philosophie an der Universität Heidelberg und 1985 Habilitation in Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Freien Universität Berlin. Gastprofessuren in Urbana-Champaign (Illinois) 1986/87, am St. Anthony’s College Oxford 1989/90 und an der Université de Paris IV-Sorbonne 1994 sowie Konrad-Adenauer-Professor an der Georgetown University in Washington, D.C. 1987/88. Von 1990 bis 2004 Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

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