Wege der Germanistik in transkultureller Perspektive
Akten des XIV. Kongresses der Internationalen Vereinigung für Germanistik (IVG) (Bd. 11) - Jahrbuch für Internationale Germanistik - Beihefte
Zusammenfassung
Der elfte Band enthält Beiträge zu folgenden Themen:
-Transkulturelle Poetik(en) und ihre edukative Relevanz;
- Paul Celan weltweit. Zur internationalen Rezeption eines Jahrhundertdichters: Literatur, Philosophie, Gedächtniskultur;
-Interkulturalität und Gattung. Interkulturalität und Gattung. Re-Visionen einer vernachlässigten Beziehung in der Literaturwissenschaft;
- Gastmahl, Gastrecht, Abendmahl, Schutzflehende und Schutzbefohlene;
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Transkulturelle Poetik(en) und ihre edukative Relevanz
- Einleitung (Beate Laudenberg (Karlsruhe), Svetlana Arnaudova (Sofia), Mukadder Seyhan Yücel (Edirne))
- Herta Müllers Schreibstrategien aus literaturdidaktischer Perspektive (Svetlana Arnaudova (Sofia))
- West-östliche Begegnung. Interkultureller Unterricht für geflüchtete und deutsche Schüler mit einem interkulturellen Bilderbuch (Annette Kliewer (Bad Bergzabern))
- Translatorische Transformationen in poetologischer Theorie und poetischer Praxis im 21. Jahrhundert (Beate Laudenberg (Karlsruhe))
- Zur poetologischen Bildung der Studierenden in der Auslandsgermanistik (am Beispiel der Türkei) (Ali Osman Öztürk (Konya))
- Transkulturalität in literarischen Texten im Unterricht für Deutsch als Fremdsprache – Theorie und Praxis unter Berücksichtigung des bulgarischen Bildungskontextes (Elena Savova (Sofia))
- Kulturelle und didaktische Potenziale lyrischer Texte in gegenwärtigen DaF-Lehrwerken (Mukadder Seyhan Yücel (Edirne) )
- Paul Celan Weltweit. Zur internationalen Rezeption eines Jahrhundertdichters: Literatur, Philosophie, Gedächtniskultur
- Zur Einführung (Andrei Corbea- Hoisie (Iași), Leonard Olschner (London), Dirk Weissmann (Toulouse))
- I. Celans Werk, das Judentum und die internationale Gedächtniskultur
- „Düsterstes im Gedächtnis, Fragwürdigstes um sich her“. Paul Celans Maximalforderungen an Dichtung und Leben und die Zukunft der Erinnerungskultur (Lydia Koelle (Bonn))
- Emmanuel Levinas, Paul Celan und der Ort der Dichtung (Vivian Liska (Antwerpen))
- „Glauben Sie mir – jedes Wort ist mit direktem Wirklichkeitsbezug geschrieben.“ – Das hermetische Paradox bei Paul Celan im Spiegel seiner epischen Adaption bei Thomas Harlan (Daniela Henke (Gießen))
- Anmerkungen zum Jerusalem-Zyklus von Paul Celan (Larissa Naiditsch (Jerusalem))
- II. Rezeptionsprozesse von Celans Werk im europäischen Kontext
- Celan und die rumänische Avantgarde Glossen zur Rezeption (Laura Cheie (Temeswar))
- Nach der Katastrophe Einblicke in die polnische Rezeption Paul Celans im 21. Jahrhundert (Jadwiga Kita-Huber (Krakau))
- „Ein Dichter, den wir nicht verstehen können“? Zur tschechischen Rezeption von Paul Celan (Petr Pytlík (Brno))
- Die Rezeption Paul Celans im serbischen Sprachraum (Ljiljana Aćimović (Banja Luka))
- III. Transatlantische Rezeptionsformen der Dichtung Celans
- Produktive und kritische Celan-Rezeption in Europa und Nordamerika (Christine Ivanovic (Wien))
- Paul Celan in der brasilianischen Literaturwissenschaft (Juliana P. Perez (São Paulo))
- Übersetzen als langsamer Blick. Erfahrungen aus einem Unterrichtsprojekt zu Paul Celan in Brasilien (Robert Schade (Porto Alegre), Paul Voerkel (Jena))
- IV. Paul Celan transmedial und interdisziplinär
- „Le Méridien, d’après Paul Celan“ Nicolas Bouchauds Bühnen-Adaption der Büchnerpreis-Rede (Evelyn Dueck (Genf))
- Farbaufschüttung, vulkanisch – Bildende Künstlerinnen und Künstler lesen Paul Celan (Amy-Diana Colin (Pittsburgh))
- „Im Herzen des Dichterischen“ Celan als Übersetzer am Bureau international du travail in Genf (Angela Sanmann (Lausanne))
- Aufzeichnungen zur paradoxen Kartizität des Nicht-Kartierbaren bei Celan (Camilla Miglio (Rom))
- Geister-/Geisteswissenschaft – Paul Celan und Yoko Tawada. Mit ein paar Bemerkungen zum Hermes H. C. Artmann (Martin A. Hainz (Eisenstadt))
- Interkulturalität und Gattung. Re-Visionen einer vernachlässigten Beziehung in der Literaturwissenschaft
- Interkulturalität und Gattung. Zur Einführung (Dieter Heimböckel (Esch-sur-Alzette), Iulia-Karin Patrut (Flensburg), Lucia Perrone Capano (Foggia))
- Gattungsmischung als kulturelle Grenzüberschreitung (Eva Wiegmann (Düsseldorf))
- Primatographie, Ethik und Interkulturalität. Tomasellos und de Waals Naturgeschichten der Moral und Ulrike Draesners Sieben Sprünge vom Rand der Welt (Herbert Uerlings (Trier))
- Bemerkungen zu einer interkulturellen Poetik des Epos – mit Blick auf Walt Whitman und Édouard Glissant (Mark-Georg Dehrmann (Berlin))
- Romankunst und Kulturtransfer in diachroner Perspektive (Matthias Bauer (Flensburg))
- Die Reise als narratives Genre und literarische Gattung? (Andreas Käuser (unter Mitarbeit von Xin Yu) (Siegen))
- Robert le Diable. Über Gattungen und Figurenidentität als interkulturelle Momente der Vormoderne (Jörn Bockmann (Flensburg))
- Vom Orient zum Okzident: das „Gesamtkunstwerk“ als theatralische-interkulturelle Ästhetik (Pornsan Watanangura (Bangkok))
- Idylle und Interkulturalität (Melanie Rohner (Bern))
- Die Interkulturalität der Idylle (Jan Gerstner (Bremen))
- „Zuckerrohr von einem Mohrjungen! Willst du Schläge haben?“ Zur Frage der Darstellung von Interkulturalität im Drama am Beispiel von Friedrich Maximilian Klingers Sturm und Drang (Manfred Weinberg (Prag))
- Übersetzung – Nachdichtung – Aneignung: der Weg zum deutschsprachigen Ghasel von Hammer-Purgstall über Goethe zu Rückert und Platen (Stefan Nienhaus (Salerno))
- Antike und koloniale Südräume in Gottfried Benns Werk der frühen und mittleren Schaffensphase. Überlegungen zu einer Geopoetik des Transgressiven (Raluca-Andreea Rădulescu (Bukarest/Tübingen))
- Formationen ‚Europas‘ im Essay. Wissenspoetik und Interkulturalität bei Hugo von Hofmannsthal und Klaus Mann (Reto Rössler (Flensburg))
- Vom Wunsch, ein anderer zu werden. Überlegungen zum interkulturellen Adoleszenzroman (Julian Osthues (Lüneburg), Jennifer Pavlik (Kassel))
- Zwischen zwei Sprachen. Transformation in Gedichten von Yoko Tawada (Meher Bhoot (Mumbai))
- Interkulturelle Gattungstransfers und -transformationen zwischen Europa und der Türkei am Beispiel des Schelmenromans (René Perfölz (Berlin), Swen Schulte Eickholt (Paderborn))
- Gastmahl, Gastrecht, Abendmahl, Schutzflehende und Schutzbefohlene
- Gastmahl, Gastrecht, Abendmahl, Schutzflehende und Schutzbefohlene. Einführende Bemerkungen zu Thema und Tagung (Evelyn Deutsch-Schreiner (Graz))
- Geteiltes Essen in Ingeborg Bachmanns Wüstenbuch: Ein Beispiel interkultureller Empathie? (Emma Margaret Linford (Bonn))
- „Mein Freund, lass uns essen und trinken, denn dabei wird uns warm ums Herz“: Ein Sonderfall der Gastfreundschaft in Bachmanns Hörspiel Die Zikaden (Rita Svandrlik (Florenz))
- Willkommen. Eine Kultur in der Krise oder Simon Verhoevens Familie Hartmann. (Gabriele C. Pfeiffer (Graz))
- „Am Stammtisch der Einheimischen…“. Peter Turrinis Blick auf das Thema Integration (Federica Rocchi (Florenz/Perugia))
- Ambivalenz der Gastfreundschaft in Grillparzers Trilogie Das Goldene Vlies (Alessandra Schininà (Catania/Ragusa))
- Das Gastmahl wird zum Massaker: Elfriede Jelineks Rechnitz (Der Würgeengel) als grauenvolle Umkehrung von Leben und Tod (Britta Kallin (Atlanta))
- Schweine am Wort. Das Schwein als das Andere in Elfriede Jelineks Theatertext Lärm. Blindes Sehen. Blinde Sehen! (Susanne Teutsch (Wien))
- Menschenfresser und dramatisches Menü. Machtverhältnisse in Libuše Moníkovás Caliban über Sycorax (Jelena U. Reinhardt (Perugia))
- Das pervertierte Gastmahl – Senecas Thyestes und der Tabubruch (Karin Wurzinger (Graz))
- Reihenübersicht
Einleitung
Seit poetologische Normen ihre Verbindlichkeit eingebüßt haben, beantwortet nicht nur die Literaturtheorie Fragen nach den Bedingungen, Darstellungsformen und Funktionen von Dichtung. Auch AutorInnen nehmen am poetologischen Diskurs teil, sei es werkimmanent oder in Interviews, Essays und anderen Formen. Der Austausch über Literatur erhält seit Mitte des 20. Jahrhunderts seinen besonderen Ort an Universitäten durch die Einrichtung von Poetik-Professuren und -Dozenturen, die Lehrende wie Studierende mit den Literaturschaffenden zusammenbringt.
Aufgrund der zunehmenden Bedeutung multikultureller Schreibweisen und der entsprechend ausgewiesenen Literatur werden in der Forschung in jüngster Zeit ganz unterschiedliche Poetiken der Migration diskutiert und durch die Bezeichnungen entweder positiv (z.B. „Poetik der Bewegung“, Ette 2005) oder eher negativ konnotiert (z.B. „Poetik der Marginalität“, Previšić 2009; „Poetik des Nirgendwo“, Simić 2015). Darüber hinaus erhielten sogenannte MigrationsschriftstellerInnen neben unspezifisch ausgeschriebenen Poetik-Vorlesungen eine explizit auf ihre Erfahrungen zugeschnittene Plattform, zunächst an der Universität Dresden als Chamisso-Poetikdozentur (2001–2011), dann an der Universität Hamburg als Gastprofessur für Interkulturelle Poetik (2011–2016).
Da Literaturtheorien nicht zuletzt auch einem Bedürfnis nach (Selbst-)Vergewisserung entspringen, sind sie für Lehr-/Lernkontexte von großem Interesse. Die in alphabetischer Reihenfolge angeordneten Beiträge zeigen daher aus verschiedenen Blickwinkeln und teilweise auch anhand von empirischen Untersuchungen die Potenziale auf, die eine Berücksichtigung von poetologischen Äußerungen im Erst-, Zweit- oder Fremdsprachenunterricht in Schule und Hochschule entfalten könnte.
Anhand von Texten von Herta Müller führt Svetlana Arnaudova vor, wie in Literaturseminaren an der Universität hermeneutisches Lesen und poststrukturalistische Interpretationsmodelle praktiziert werden können, um die Studierenden für die Ästhetik literarischer Texte zu sensibilisieren. Dabei werden neben dem Verzicht auf ein logozentrisches Denken die Performativität und die Materialität der Sprache in den Blick genommen und am Beispiel von Herta Müllers transkulturellen Schreibweisen ethnozentrisches Denken und Begriffe wie „Heimat“ und „Gedächtnis“ hinterfragt.
←13 | 14→Der Beitrag von Annette Kliewer reflektiert Unterrichtsversuche mit dem Bilderbuch „Prinzessin Sharifa und der mutige Walter“ von Mehrdad Zaeri in einer heterogenen Klasse mit dem Ziel, auch die Interessen von Kindern mit Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache einzubeziehen, die selbst Fluchterfahrungen haben. Dabei wird zweierlei deutlich: Zum einen dass auch ein Deutschunterricht, der Stereotype von Orient und Okzident in Literatur und Unterricht zu überwinden versucht, in interkulturelle Fallen des Orientalismus tappen kann; zum anderen dass eine Berücksichtigung von postkolonialen Theorien von Nutzen sein kann.
Mit Blick auf die Hochschullehre und den Deutschunterricht in der Migrationsgesellschaft zeigt Beate Laudenberg in ihrem Beitrag, wie poetologische Äußerungen für die Textrezeption genutzt werden können. Dazu wählt sie mit Yoko Tawada und José F.A. Oliver zwei Persönlichkeiten aus, die in vielfältiger Weise Auskunft über ihr Schreiben geben. Welches didaktische Potenzial ihrer ars poetica innewohnt, wird am Beispiel von Translation und Transformation vorgeführt.
Ali Osman Öztürk stellt am Beispiel der Türkei eine Befragung zur poet(olog)ischen Bildung von Studierenden der Auslandsgermanistik vor und diskutiert die Ergebnisse, die über die individuellen und ausbildungsbedingten Voraussetzungen hinaus geringe Lektüre-Erfahrung und mangelndes Verständnis belegen. Abschließend unterbereitet Öztürk Vorschläge, wie diese Lücken sich durch eine Optimierung der Ausbildung beheben ließen.
Elena Savova untersucht, welches ästhetische und didaktische Potenzial die Transkulturalität in der deutschsprachigen Literatur im DaF-Unterricht zu entfalten vermag. Neben Lehrplänen, Textsammlungen und Fachliteratur für Deutsch als Fremdsprache berücksichtigt sie Befragungen mit Lehrenden und Lernenden, um zu zeigen, wie der Umgang mit Translingualität in literarischen Texten für den DaF-Unterricht im bulgarischen Bildungskontext als auch länderübergreifend didaktisch fruchtbar gemacht werden kann.
Um kulturelle und didaktische Potenziale geht es auch im Beitrag von Mukadder Seyhan Yücel, die die Auffassung und den Stellenwert von lyrischen Texten in aktuellen DaF-Lehrwerken verschiedener Sprachniveaus untersucht. Als weiter zu verfolgende Ergebnisse dieser Analyse ist festzuhalten, dass die Anzahl und die Vielfalt der lyrischen Textsorten erstaunlich gering sind und dass das Sprachniveau kein ausschlaggebender Maßstab für den Einsatz von Lyrik in DaF-Lehrwerken darstellt.
Beate Laudenberg, Svetlana Arnaudova, Mukadder Seyhan Yücel
Herta Müllers Schreibstrategien aus literaturdidaktischer Perspektive
Abstract: Im Fokus des Beitrags stehen die Arbeit an der Sprache von Herta Müller und die expressiven Sprachbilder in ihrer Prosa, mit deren Hilfe die Autorin verschiedene Welten zu erfassen versucht. Untersucht werden die transkulturellen Verflechtungen und die Entfremdung des Ichs im Werk der Autorin. Der zweite Akzent des Beitrags liegt im literaturdidaktischen Bereich: Es werden Herangehensweisen im Literaturunterricht analysiert, die zum Hinterfragen des Begriffs des Nationalen und zur Sensibilisierung gegenüber literarischen Texten führen.
Keywords: Transkulturalität, Sprachwandel, Mehrsprachigkeit, différance.
1. Einleitung
Die Inkohärenz von Kultur im Zeitalter der Globalisierung bedeutet ein ständiges Aushandeln der eigenen Identität in einer Welt, in der „alle Kulturen hybrid sind“ (Said 1996: 24) und die Auseinandersetzung zwischen Gemeinschaft und Individuum nicht die Folge einer binären Opposition, sondern einer diskursiven Repräsentation ist. Die Texte von Herta Müller sind dabei ein hervorragendes Beispiel für die Hinterfragung von tradierten Begriffen wie Nation, Heimat und Muttersprache. Der Beitrag geht der Frage nach, ob Heimat tatsächlich das ist, was „gesprochen wird“ (Müller, Augen 2003: 30)1, und untersucht die poetische Strategie der Autorin, durch Sprache und Sprachwandel komplexe Begriffe wie Freiheit, Diktatur und Würde zu reflektieren. Untersucht wird eine transkulturelle Schreibweise, auf die die Präsenz des Rumänischen und die sprachlich-kulturelle Strukturierung der Texte hinweisen. Die Interferenzen zwischen der deutschen und der rumänischen Sprache sind auch ein deutliches Indiz für die bewusste Konstruktion von Bildern, die Spuren eines transnationalen Gedächtnisses aufweisen. So erweisen sich literarische Texte als ein besonderes Wissensarchiv. Um sich dessen bewusst zu ←15 | 16→werden, müssen Studierende durch gezielte Verfahren im Literaturunterricht auf literarische Texte sensibilisiert werden. Die Defizite dieser Sensibilisierung erweisen sich während des Studiums als ein immer häufiger auftretendes Problem.
Die Texte von Müller kann man auch für die Einführung in Literaturtheorien benutzen. Dabei wird vorausgesetzt, dass die Studierenden sehr gute Deutschkenntnisse haben: mindestens B2 nach dem Europäischen Referenzrahmen. Es ist hier zu erwähnen, dass bulgarische Germanistikstudierende schon im ersten Studienjahr über diese Deutschkenntnisse verfügen, da beim Germanistikstudium die Beherrschung der deutschen Sprache eine Grundvoraussetzung ist.2 In diesem Beitrag geht es um Magisterstudenten der Germanistik an der St. Kliment-Ochridski-Universität Sofia. Im Rahmen des Magisterprogramms „Sprache-Kultur-Medien“ wurde den Studierenden der Kurs „Literatur und Geschichte. Besonderheiten der literarischen Darstellung historischer Ereignisse“ angeboten, in dem Werke der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur behandelt wurden. Darin nahm die Prosa von Herta Müller einen zentralen Platz ein.
2. Von der Einsprachigkeit zur Mehrsprachigkeit
Zuerst wurden die Studierenden mit dem historisch-politischen und dem autobiographischen Kontext des Schaffens von Herta Müller bekannt gemacht. Danach fiel das Hauptaugenmerk auf die Interpretation einiger ihrer poetologischen Texte und des Romans Reisende auf einem Bein. Die Studierenden wurden zuerst durch ein hermeneutisches Lesen mit Themen und Motiven in Müllers Werk bekannt gemacht und erst danach vertieften sie sich in Fragen der besonderen poetologischen Form der Texte. Herta Müllers Schreiben zeichnet sich durch eine starke Kohärenz aus, wodurch viele ihrer zentralen Ideen zur Literatur und Sprache sowohl in ihrem fiktionalen Werk als auch in ihren poetologischen Texten auftauchen (Vgl. Weissman 2016). So kann man diese Texte sehr intensiv zum Erreichen der oben angeführten didaktischen Ziele im Literaturunterricht verwenden und die Studierenden auf die Komplexität und Reflexivität in Müllers Werk vorbereiten.
Herta Müller schildert in ihren poetologischen Texten den Weg zur Transformation von der Einsprachigkeit zur Mehrsprachigkeit, wobei diese ←16 | 17→Entwicklung auch auf die Transformation in der Weltanschauung der Schriftstellerin verweist: In ihrer Kindheit im banatschwäbischen Dorf sieht die Erzählerin die Einheit von Wort und Ding; dieser Umstand ist den Restriktionen und der Normiertheit der Dorfgemeinschaft geschuldet. Nach dem Erlernen der rumänischen Sprache, nach der Konfrontation der Muttersprache mit einer Anderssprachigkeit erwirbt sie eine andere Sicht auf die Welt, die die Vorstellung einer mit der Sprache verbundenen „ethnozentrischen Festung“ (vgl. Bozzi 2005) und einer festen Bindung zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem zertrümmert. In der Freiheit, rumänische Sprachbilder und Idiome in die deutsche Sprache einzubringen, stellt man nicht nur eine sprachliche, sondern auch eine individuelle Freiheit fest, über die die Unterminierung von festen Sprachnormen und der Weg zu eigenartigen poetischen Sprachschöpfungen erfolgt.
Lilie, crin, ist im Rumänischen maskulin. Sicher schaut DIE Lilie einen anders an als DER Lilie. Man hat es auf Deutsch mit einer Liliendame, auf Rumänisch mit einem Herrn zu tun. Wenn man beide Sichtweisen kennt, tun sie sich im Kopf zusammen. […] Aus der abgeschlossenen Lilie beider Sprachen wurde durchs Zusammentreffen zweier Lilien-Ansichten ein rätselhaftes, niemals endendes Geschehen. Eine doppelbödige Lilie ist immer unruhig im Kopf und sagt deshalb ständig etwas Unerwartetes von sich und der Welt. (Müller, Augen 2003: 25)
Hier manifestiert sich in der Sprache das, was Bhabha als „dritten Ort“ bezeichnet. „Die Liliendame“ und „der Lilienherr“ stehen metaphorisch für zwei Sichtweisen auf die Welt, die an einem dritten Ort, der Imagination, zusammentreffen und Vorstellungen und Bilder ständig aushandeln und ausloten, wobei dieser Prozess im Werden und nie zu Ende gedacht werden kann. Die ständige Aushandlung korrespondiert direkt mit der von Herta Müller in Frage gestellten festen Beziehung zwischen Gegenstand und Bezeichnung und zeigt die Loslösung von vorgeschriebenen Bedeutungen und Normen der Sprachverwendung. Gerade an diesem dritten Ort löst sich das Klammern der Wörter an die Gegenstände in der Dorfsprache auf, die die Erzählinstanz von ihrer Kindheit kennt. Die Freiheit im Umgang mit der Sprache, die neue Horizonte und unerwartete Konnotationen eröffnet, entspricht der Freiheit im Denken. Es erfolgt also eine Dekonstruktion der Sprache, die am Detail, am Gegenständlichen vorgeführt wird.3
←17 | 18→3. Ist Sprache Heimat?
Diese sprachliche Dekonstruktion wird von Germanistikstudierenden der Auslandsgermanistik besonders intensiv rezipiert, weil sie die Sprachcodes von zwei verschiedenen Sprachen beherrschen. Umso interessanter ist dieses Beispiel für bulgarische Studierende, weil es in der bulgarischen Sprache die zwei Vokabeln, entsprechend féminin und masculin, für die gleiche Blume gibt: „liliya“ und „krin“. So können Studierende sogar dreisprachig vergleichen und einsehen, dass Bezeichnendes und Bezeichnetes keine feste Einheit bilden. Insofern wird bei ihnen das ethnozentrische und nationale Denken, das eine Sprache mit einem Staat und einer Kultur verbindet, schon beim Erlernen der deutschen Sprache am Gymnasium aufgelockert, im Germanistikstudium wird diese Erfahrung auch theoretisch belegt. Genauso sachlich und nüchtern wird der Begriff „Heimat“ dekonstruiert. Mit der Heimat „der dörflichen Tugendexperten und dem Staat der Repressalien“ (Müller, Augen 2003: 30) möchte die Erzählerin nichts Gemeinsames haben. Das Sprechen der gleichen Sprache ist kein Merkmal der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Um wirklich dazuzugehören, muss man ein inneres Einverständnis mit den gesprochenen Inhalten haben. Herta Müller zitiert in diesem Zusammenhang einen Satz des KZ-Häftlings und Emigranten Jorge Semprun: „Nicht Sprache ist Heimat, sondern das, was gesprochen wird.“ (ebd.)
Die Beschäftigung mit den poetologischen Texten von Herta Müller ist ein wichtiger Schritt im Literaturunterricht, um die Studierenden auf eine tiefgründige Analyse ihres Romans Reisende auf einem Bein vorzubereiten. So fällt der Akzent auf die besondere Verflechtung von Vergangenheit und Gegenwart sowie auf die Gegenständlichkeit und Körperlichkeit, die eine wichtige Funktion in den expressionistisch geprägten Frühtexten der Autorin spielen. Dabei werden auch die Zerlegung und Verrückung der Sprache selbst unter die Lupe genommen: „Die erinnerte Zeit von damals und die heutige, die ja an jedem nächsten Tag auch schon erinnerte ist, streunt nicht chronologisch durchs Gedächtnis, sondern als Facetten von Dingen. Ich könnte sagen: Ich treffe meine Vergangenwart in der Gegenheit im Hin und Her vom Anfassen und Loslassen.“ (Müller 2003: 107)4
Ein Werbespruch für ein Nachthemd im Zug, in dem die Erzählerin nach Marburg fährt, und das Bild des Nachthemds selbst wecken Erinnerungen, die für lange Lebensabschnitte und erschreckende Erlebnisse stehen: Die Erzählerin schildert das Nachthemd, das ihr ihre Großmutter für das Umsiedeln in die Stadt genäht hat. Das gleiche Nachthemd erinnert sie an eine erschreckende Fahrt im Zug mit zwei Stasiagenten, als sie Todesangst hatte. Später ←18 | 19→schenkte ihr jemand ein ähnliches Nylonhemd aus Ungarn, das sie auf dem Flohmarkt mit Hilfe eines Freundes verkaufen wollte. Der Freund wurde später von der Securitate ermordet. Herta Müller schreibt darüber: „Frappierend wie Überfälle schleppen die Gegenstände von jetzt meine Geschichten von damals herbei. In ihnen sitzt latent das Zeitübergreifende… Je genauer ich Gegenwart betrachte, umso zudringlicher wird sie zum Paradigma für Vergangenes. […] Obwohl ich Inge Wenzel in der deutschen Bahn zum ersten Mal sehe, ist ihr weißes Nachthemd vorbelastet [...].“ (ebd.: 122)
Literarische Bilder übertragen ein transgenerationelles und transnationales Gedächtnis. Das ist eine Erfahrung, die die Studenten mit der Arbeit an diesen Texten machen und die sie aus den Literaturvorlesungen nicht kennen, weil sie literaturhistorisch orientiert sind und daher auf den literarischen Kanon der deutschsprachigen Literatur fokussiert, der jedoch als ein Kanon der Nationalphilologien konzipiert ist. Als Beispiel kann ich noch das Bild „Schnee“ anführen: Die Spuren im Schnee verraten die Mutter der Erzählerin, die nach 1945 in ein sowjetisches Arbeitslager deportiert wurde. Schnee wird später mit Bedrohung assoziiert, als die Erzählerin an einem kalten Februartag Rumänien verlässt und in die Bundesrepublik reist. Ein einziges Wort ruft Erinnerungen hervor, die sich nicht vorbelastete Leser gar nicht vorstellen könnten. So wird den Studierenden auf eine andere Weise die Spaltung zwischen Wort und Bezeichnetem demonstriert.
4. Die Loslösung vom Ganzheitsdenken
4.1 Die Performativität der Sprache
Der Bruch zwischen Sprache und Welt demonstriert auch die existentielle Fremdheit des Subjekts. Die kindliche Erzählinstanz spricht die Pflanzen mit Namen an und stellt fest: „Im Betrug aller falschen Namen vor der richtigen Pflanze tat sich die Lücke ins Leere auf.“ (Müller, Augen 2003: 11) Das Zerstören der Verbindung zwischen Wort und Bedeutung zeigt deutlich auf, dass der Sinn eines Textes erst in unzähligen Bezügen und Unterscheidungen entsteht und dass es, bezogen auf literarische Texte, keine eindeutige Botschaft oder Wahrheit gibt. Dieses dekonstruktivistische Lesen im Sinne von Derridas „différance“ veranschaulicht poststrukturalistische Lesepraktiken am literarischen Text und führt vor, wie im Literaturunterricht unterschiedliche Interpretationsansätze verwendet werden können. Auf die Kluft zwischen Denken und Sprache verweisen die Unzulänglichkeiten des Dorfdialekts, wo es z.B. kein Wort für die Einsamkeit gibt: „Das Wort ‚einsamʻ gibt es im Dialekt nicht, nur das Wort ‚alleinʻ. Und dieses hieß ‚alleenigʻ und das klang ←19 | 20→wie ‚wenigʻ – und so war es auch. (ebd. 12) Solche poetologischen Texte erörtern das, was in den fiktionalen Texten der Autorin erfolgt und bereiten die Studierenden auf eine Lesepraxis vor, die ein anspruchsvolleres Lesen zum Zweck hat. Den Studierenden wird klar gemacht, dass der literarische Text auch viele Leerstellen enthält, wodurch sich Literatur von einem Ganzheitsdenken distanziert. Das wird auch an der Struktur des Romans Reisende auf einem Bein und an der Diskrepanz zwischen der relativ leicht rekonstruierbaren Handlung als Ganzheit und der „Unlesbarkeit“ der einzelnen Sätze veranschaulicht. So kann man den Studierenden auch die Materialität und die Performativität der Sprache vor Augen führen, denn vieles in der Prosa von Herta Müller kommt oft durch Verdichtung und Verrückung zustande. Durch die genaue Analyse der Überlappung verschiedener Interpretationsansätze bestätigt sich die literaturdidaktische Überzeugung, dass „hermeneutisches Lesen und poststrukturalistische Lektüren sich wechselseitig voraussetzen, ohne aufeinander zurückgeführt werden zu können“ (Förster 2012: 241).
Der Text Reisende auf einem Bein eignet sich hervorragend auch für die Erprobung einer handlungsorientierten Methode in Form einer Schreibübung. Die Studierenden sollten sich in die Rolle von Verlagslektoren versetzen und mit 6–7 Sätzen eine kurze Annotation über den Roman verfassen. Sie stellen Ambivalenzen und Widersprüche fest, die die poststrukturalistische Annahme der Ablehnung einer endgültigen Interpretation nachweisen, statt sich auf eine zentrale Botschaft der Erzählung zu fokussieren. Dabei konzentrieren sie sich auf Fragen wie „Wo sind die Irritationsstellen im Roman?“ oder wie Herta Müller sagt: „Kommt es zum stummen Irrlauf im Kopf oder nicht?“ (Müller, Augen 2003: 20)
Die Dekonstruierung einer logozentrischen Sprachbedeutung zeigt auch die soziokulturellen Besonderheiten der Muttersprache der Auslandsdeutschen Irene und ihre Sprachverwirrung durch einen Jargon, in dem die Verbindung zwischen Wort und Bedeutung völlig verlorengeht.
Manchmal sagte Stefan: Das darf doch wohl nicht wahr sein. Oder: ich krieg mich nicht mehr ein. Oder: das isn Ei, was. Zwischen den Sätzen anderer sagte Stefan: Alles klar. Prima. Super. Klasse. […]
Stefan redete von einem Anrufbeantworter.
Wenn jemand dran ist, mit dem du ums Verrecken nicht reden willst, dann gehst du nicht ran.
Ums Verrecken hatte er gesagt. Irene sah in sein Gesicht: Ich werde mich wehren. Nicht so. Mit Verrecken hat das nichts zu tun. (Müller 1989: 116)
Die unterschiedliche Vergangenheit von Stefan und Irene verleiht den Wörtern der gleichen Sprache unterschiedliche Bedeutungen. Stefan gebraucht ←20 | 21→das Verb „Verrecken“ mit einer erstaunlichen Leichtigkeit. Das gleiche Verb ruft in Irene Erinnerungen und Assoziationen hervor, die mit Verfolgung, Leid und Tod verbunden sind, und sie rebelliert sofort gegen Stefans unbekümmerten Umgang mit der Sprache. Für Irene ist jedes Wort erinnerungs- und emotionsbeladen, sie schaut genau auf die Wörter hin, die für sie eine zweite Realität mit unterschiedlichen Konnotationen aufbauen. An dieser Stelle der Interpretation könnte man die Studierenden auffordern, nach anderen soziokulturell gefärbten Beispielen im Text zu suchen und die Funktion der Differenzen, die sich zwischen dem westdeutschen Jargon im Text und den entsprechenden hochsprachlichen Äquivalenten ergeben, zu erörtern. So wird den Studenten vor Augen geführt, dass auch eine Nationalsprache in Bezug auf die Sprachträger soziokulturell sehr aufgefächert sein kann.
4.2 Die postmoderne Konstellation des Subjekts
Der Roman eignet sich hervorragend dazu, die Spaltung des modernen Subjekts auch am Beispiel der Aufspaltung des Erzählmodus zu demonstrieren: Es sieht so aus, als würde die Hauptfigur Irene, um deren Erinnerungen und Befindlichkeiten es geht, aus der gegenwärtigen Situation heraus aus der personalen Perspektive über sich berichten. Dies sorgt für Verwirrung und der Leser weiß nicht, wie er die Erzählinstanz im Roman einordnen soll, es bleibt oft unklar, wer eigentlich erzählt. Die Fragmentierung des postmodernen Subjekts und die Entfremdung des Selbst werden also auch durch narrative Mittel zum Ausdruck gebracht, was für die Studierenden aus literaturdidaktischer Sicht eine andere Möglichkeit zur Sensibilisierung gegenüber der Ästhetik literarischer Texte bedeutet.
Eine Möglichkeit zur Sensibilisierung auf die Poetologie des Textes bietet auch die Interpretation der intertextuellen Verweise im Roman, besonders der Bezug zu Italo Calvinos Roman Die unsichtbaren Städte. Genauso wie die weibliche Figur Irene aus Müllers Text sich jeglicher eindeutigen Interpretation und Vereinnahmung entzieht, genauso resistent verhält sich die gleichnamige Stadt Irene aus Calvinos Text gegenüber den Versuchen des Kublai Khan, die Stadt zu erobern und zu bezwingen. Hier geht es nicht nur um das Gleiten des Signifikats im Falle des Namens, sondern um eine kompliziertere Beziehung zwischen zwei literarischen Texten, wobei der Text von Herta Müller eine Zusatzkodierung erhält und auf einer Metaebene jenseits von Prätext und Folgetext (Middelich-Schulte 1985: 214) eine neue Kodierung entsteht: Durch den intertextuellen Verweis wird Irenes Revolte gegen jegliche Vereinnahmung unterstrichen. In Bezug auf das Literarische verweist Calvinos Text auf die Konstruiertheit von Müllers Roman und auf seine ausgewiesen postmoderne Konstellation, d.h. auf das genuin Literarische.
←21 | 22→5. Fazit
Man konzentriert sich im Unterricht auf das wichtigste Anliegen der Literatur – auf die Beschäftigung mit dem Text selbst und auf die Erforschung seiner ästhetischen Besonderheiten, was seinerseits ein kernphilologisches Anliegen ist. Ich glaube, dass gerade aufgrund der sprachlichen Spezifik die literarische Interpretation moderner Prosa auch im DaF-Unterricht vorstellbar ist. Nach dem Boom der digitalen Medien im Fremdsprachenunterricht in den letzten Jahren werden heute wieder vermehrt literarische Texte eingesetzt. Besonders zur Zeit der Pandemie hat man die Erfahrung gemacht, dass Literatur und die ernsthafte Beschäftigung mit anspruchsvollen oder wie die Studierenden sagen, „nicht einfachen“ literarischen Texten der Verflachung der Lehre und dem „Lost in Links“ entgegenwirkt.
West-östliche Begegnung. Interkultureller Unterricht für geflüchtete und deutsche Schüler mit einem interkulturellen Bilderbuch
Abstract: Deutschunterricht der Migrationsgesellschaft richtet sich an alle SchülerInnen. In der Praxis ist es dabei oft nicht ganz einfach in den Unterricht für alle auch wirklich die Interessen von Kindern einzubeziehen, die selbst Fluchterfahrungen haben, ohne sie wieder indirekt auszugrenzen. Der Beitrag zeigt Unterrichtsversuche mit dem Bilderbuch „Prinzessin Sharifa und der mutige Walter“ von Mehrdad Zaeri für muttersprachlichen und fremdsprachlichen Unterricht. Dabei wird deutlich, dass auch Versuche, Stereotype von Orient und Okzident in Literatur und Unterricht zu überwinden, in interkulturelle Fallen des Orientalismus tappen können: Hier sind vielleicht Verweise auf postkoloniale TheoretikerInnen wie Gayatri Chakravorty Spivak von Nutzen.
Keywords: Flucht, Kinder- und Jugendliteratur, Orient, interkultureller Literaturunterricht.
1. Vorwort: Geflüchtete Kinder in unseren Klassenzimmern
In der bundesdeutschen Öffentlichkeit wurde im Jahr 2015 der problematische Begriff „Flüchtlingswelle“ benutzt. In den Schulen kamen aber nie mehr als 200 000 SchülerInnen an, die schnell integriert werden sollten.1 Oft wurde diese Integration als Problem der „Zugewanderten“ gedeutet. Erst nach und nach wurde der Blick darauf gerichtet, dass diese Zuwanderung auch die „normalen“ Klassen veränderte, dass es eh immer fragwürdiger wurde, nur die „Kinder mit Migrationshintergrund“ in den Fokus zu nehmen. Das Konzept einer „postmigrantischen Pädagogik und Didaktik“ kam auf (vgl. Hill/Yildiz 2018), das die Heterogenität der Klassen insgesamt in den Blick nahm. Der folgende Beitrag zeigt am Beispiel der Arbeit mit einem Bilderbuch, welche Möglichkeiten und Schwierigkeiten ein transkultureller Deutschunterricht für alle birgt.
←23 | 24→2. Interkultureller Deutschunterricht und Kinder- und Jugendliteratur
Obwohl der Deutschunterricht historisch seine Wurzeln in einem Latein- oder Griechischunterricht hat, in dem Übersetzungen die Regel waren, ist es heute ein schwieriges Unterfangen, diesem Unterricht seine multikulturelle Ausprägung wieder zurückzugeben. Deutsch als Muttersprache und Deutsch als Zweitsprache werden als zwei getrennte Herangehensweisen im Schulleben wahrgenommen und wenn Kinder mit Migrationshintergrund sprachlich so weit sind, dass sie an dem „normalen Unterricht“ teilnehmen können, lässt man ihre Bilingualität und Bikulturalität im Schulalltag meistens außer Acht. Das hat aber auch zur Folge, dass einsprachig aufwachsende Kinder von der sie umgebenden Vielfalt kaum etwas mitbekommen. Gerade Heidi Rösch hat hier für den transkulturellen Literaturunterricht wichtige Grundlagen festgehalten: Wie sie betont, ist der Deutschunterricht in der Migrationsgesellschaft – so der Titel ihrer Einführung aus dem Jahr 2017 – für SchülerInnen mit und ohne Migrationshintergrund umzugestalten. Es ginge demnach nicht mehr um die „Berücksichtigung“ oder den „Einbezug“ der Perspektive der MigrantInnen (vgl. Dirim/Eder/Springsits 2013: 122), sondern um die Identität aller SchülerInnen und die Heterogenität der Lerngruppe. Nicht verschiedene Kulturen begegnen sich, sondern hybride Identitäten. Es gibt demnach auch nicht mehr eine statisch verstandene Nationalkultur, an die sich „die Fremden“ bestmöglich anpassen müssen, sondern eine multikulturell zusammengesetzte SchülerInnenschaft. Rösch formuliert das so: Es wird heute nicht mehr ein „defizitorientierter assimilatorischer“ Deutschunterricht für die „anderen“ gefordert, aber auch eine „differenzorientierte Begegnungspädagogik“ reicht nicht aus (vgl. Rösch 2017: 143), letztlich geht es darum, Diversität in einem „Deutschunterricht für alle“ lebendig werden zu lassen.
Details
- Seiten
- 616
- Erscheinungsjahr
- 2022
- ISBN (PDF)
- 9783034346139
- ISBN (ePUB)
- 9783034346146
- ISBN (MOBI)
- 9783034346153
- ISBN (Paperback)
- 9783034336659
- DOI
- 10.3726/b20297
- Open Access
- CC-BY-NC-ND
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2023 (Januar)
- Schlagworte
- Transkulturelle Poetik(en) und ihre edukative Relevanz Interkulturalität und Gattung Vernachlässigten Beziehung in der Literaturwissenschaft
- Erschienen
- Bern, Berlin, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 616 S., 16 farb. Abb., 26 s/w Abb.