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Wege der Germanistik in transkultureller Perspektive

Akten des XIV. Kongresses der Internationalen Vereinigung für Germanistik (IVG) (Bd. 9) - Jahrbuch für Internationale Germanistik - Beihefte

von Laura Auteri (Band-Herausgeber:in) Natascia Barrale (Band-Herausgeber:in) Arianna Di Bella (Band-Herausgeber:in) Sabine Hoffmann (Band-Herausgeber:in)
©2022 Konferenzband 622 Seiten
Open Access

Zusammenfassung

Der Begriff der Transkulturalität steht hier im Fokus. Es geht um die Verflechtung der Darstellung in verschiedenen Medien sowie um die Bedeutung mancher Orte, so des Mittelmeerraums, für die Vermittlung zwischen Kulturen.
Der neunte Band enthält Beiträge zu folgenden Themen:
- Transkulturalität der Religion in Prosatexten der Gegenwart;
- Ästhetisch-narrative Strategien der Transkulturalität in Literatur und Film;
- Strategien der Avantgarde. Kontinuitäten seit 1910;
- Der Mittelmeerraum in Pilger- und Reiseberichten als Schmelztiegel der Kulturen;
- Germanistik im Mittelmeerraum – sprachpolitische Perspektiven in Forschung und Lehre

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Transkulturalität der Religion in Prosatexten der Gegenwart
  • Transkulturalität der Religion in Prosatexten der Gegenwart. Eine Einleitung (Isabelle Stauffer (Eichstätt))
  • Die Transkulturalität der Jenseitsräume bei Lewitscharoff und Lewitscharoff/Hartmann (Veronika Born (Eichstätt))
  • Gesten der Vergegenwärtigung. Wiederlesen als transkultureller Akt bei Emmanuel Carrère und Dimitré Dinev (Daniel Kazmaier (Saarbrücken/Metz))
  • Islamdiskurse in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Christoph Gellner (Zürich))
  • „So sehr wollte er an die Wahrheit seiner Worte glauben“ – Transkulturelle Konstellationen zwischen Säkularisierungskritik, Unverfügbarkeit und symbolischer Gewalt bei Ilija Trojanow (Ludmila Peters (Paderborn))
  • Das Eigene ist das Fremde und das Fremde das Eigene: Religionen im Migrationskontext bei Meral Kureyshi und Navid Kermani (Isabelle Stauffer (Eichstätt))
  • „Ein fehlbarer Engel am Tag des Jüngsten Gerichts“: Die Transkulturalität von Religion und Kunst in Nava Ebrahimis Der Cousin (Lisa Baumgartner (Eichstätt))
  • Davids Psalmen. Zu Kamel Daouds transkultureller Poetologie in Zabor oder die Psalmen (2017/ 19) (Christiane Dätsch (Ludwigsburg))
  • Ästhetisch- religiöse Räume der Übersetzung und Transkulturalität bei Zafer Şenocak (Saniye Uysal Ünalan (Izmir))
  • Die Transkulturalität der Religion in Mirjam Presslers Nathan und seine Kinder (Chiara Conterno (Bologna))
  • Jüdisches Selbstverständnis in den Kriminalromanen von Alfred Bodenheimer (Gerhard Langer (Wien))
  • Religiöse Verflechtungen. Zu Stephan Thomes Roman Gott der Barbaren (2018) (Martina Wagner-Egelhaaf (Münster))
  • Ästhetisch-narrative Strategien der Transkulturalität in Literatur und Film
  • Ästhetisch-narrative Strategien der Transkulturalität in Literatur und Film. Eine Einleitung (Simonetta Sanna (Sassari), Lena Wetenkamp (Trier), Barbara von der Lühe (Berlin))
  • Transkulturalität in Stefanie Zweigs fiktionalen Afrikaromanen (Christine Arendt (Mailand))
  • „Ich frage mich manchmal, wer mein Regisseur ist“ – Imagination und Intermedialität in Yoko Tawadas Das nackte Auge (Hiltrud Arens (Missoula))
  • Franz Seitz’ Wälsungenblut (Yahya Elsaghe (Bern))
  • Ästhetisch-narrative Strategien der Transkulturalität im Film Almanya – Willkommen in Deutschland (Yuhuan Huang (Guangzhou))
  • Wort, Bild, Stimme – Erzählperspektive in Literatur und Film (Andrey Kotin (Zielona Góra))
  • Kann die Kehrseite der Geschichte überhaupt erzählt werden? Strategien Schwarzer deutscher Frauen, (sich in) die Geschichte (ein) zu schreiben. (Catarina Martins (Coimbra))
  • Hans Keilson, Der Tod des Widersachers: Die ästhetische Grenzerfahrung des Fremden (Simonetta Sanna (Sassari))
  • Die filmische Adaption des Märchens Hänsel und Gretel – Unter besonderer Berücksichtigung der Transmedialität (Sinae Lee (Seoul))
  • Tschick: Transkulturalität und Transmedialität bei Wolfgang Herrndorf und Fatih Akin (Vera Stegmann (Bethlehem))
  • Intermediale Transformationen von Tim und Struppi – Überlegungen zum Phänomen der Grenzüberschreitung in der Comicverfilmung (Shipra Tholia (Varanasi))
  • Palermo Shooting: Wim Wenders’ Variation zum Thema Italienische Reise (Francesca Tucci (Palermo))
  • Intermedialität als Konzept deutscher Autorenfilmer am Beispiel von Alexander Kluges Nachrichten aus der ideologischen Antike. Marx – Eisenstein – Das Kapital (Barbara von der Lühe (Berlin))
  • Strukturelle Gewalt intermedial – Franz Kafkas Proceß und Orson Welles’ filmische Adaption (Lena Wetenkamp (Trier))
  • Der „gute Deutsche“. W. G. Sebald im Interview (Paul Whitehead (Mainz))
  • Strategien der Avantgarde. Kontinuitäten seit 1910
  • Einleitung (Lore Knapp (Bielefeld), Sarah Pogoda (Bangor))
  • Avantgardistischer Klassizismus Zum Verhaltnis von Moderne und Avantgarde in Gustav Landauers Asthetik (Demian Berger (Zürich))
  • „Das ist bitterster Kunsternst.“ Die Polemik Herwarth Waldens im Kontext der Avantgarde (Anne Katrin Lorenz (Mainz))
  • „Die Tendenz der Materie selber“: Rancière, Brecht und die Avantgarde (Roman Kowert (Berlin))
  • Wie die Avantgarde die Jahrhunderte überschreitet.Bernd Alois Zimmermanns Oper nach Lenz’ Die Soldate (Susanna Werger (Brüssel))
  • Wiederholung, Bearbeitung, Nachträglichkeit. Zur Pantomime zwischen historischer und Neoavantgarde am Beispiel Peter Handkes (Mathias Meert (Brüssel))
  • Dada, RAF, Semiotext(e) – Verhandlungen der deutschen Avantgarde bei Chris Kraus (Julian Preece (Swansea))
  • Zum Ineinander von Sprache und Erfahrung. Fluxus, Dada und Zufall im deutsch-walisischen Blog Verifiktion (Sarah Pogoda (Bangor), Lore Knapp (Bielefeld))
  • Der Mittelmeerraum in Pilger- und Reiseberichten als Schmelztiegel der Kulturen
  • Einleitung (Hans- Christoph Graf v. Nayhauss (Karlsruhe), Aleya Khattab (Kairo), R. Rossella Pugliese (Rende))
  • Pädagogische Geometrisierung der Sicht und Autonomisierung des ästhetischen Urteils: Karl Philipp Moritz’ Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788 (1792–1793) zwischen Empfindung und Wahrnehmung im heuristischen Rahmen der Neuroästhetik (Andrea Benedetti (Urbino))
  • Jerusalem - Zentrum der Welt. Notizen zum Bild Jerusalems in deutschsprachigen Pilgerberichten des 15. Jahrhunderts (Maria E. Dorninger (Salzburg))
  • Reiseanekdoten als Muster kultureller Interaktionen: Carsten Niebuhrs Begegnungen im südöstlichen Mittelmeerraum (Giulia Frare (Triest))
  • Transitorische mediterrane Zugehörigkeiten. Die euro-afrikanische Odyssee des Leo Africanus (Aleya Khattab (Kairo))
  • Das Bild von Fès in Titus Burckhardts Werk Fès, Stadt des Islam und Hugo von Hofmannsthals Reisebericht Fèz, Reise im nördlichen Afrika (Mohammed Laasri (Fès))
  • Sonninis Reise nach Griechenland und der Türkei (1801) und Bartholdys Bruchstücke zur nähern Kenntniß des heutigen Griechenlands (1805). Zu zwei Quellen E.T.A. Hoffmanns (Stefan Lindinger (Athen))
  • Fürst Pücklers Fremdwahrnehmungen rund ums Mittelmeer (Hans-Christoph Graf v. Nayhauss (Karlsruhe))
  • Sizilien als Reiseziel des kulturhistorischen Erbstudiums und der Selbsterkenntnis im Text und Bild der baltischen Reisenden des 18. und 19. Jahrhunderts: Michal Jan Borch und Carl Gotthard Grass (Ivars Orehovs (Riga))
  • Tra due mari – Der etwas andere Reisebericht. Die „Stiefelspitze“ Italiens im Spiegel des Werkes von Carmine Abate (R. Rossella Pugliese (Rende))
  • Kulturgrenzen im multikonfessionellen Gebiet. Reisebeschreibungen aus dem 19. Jh. zum Amselfeld und über Montenegro (Miodrag M. Vukčević (Belgrad))
  • Germanistik im Mittelmeerraum – sprachpolitische Perspektiven in Forschung und Lehre
  • Germanistik im Mittelmeerraum – sprachpolitische Perspektiven in Forschung und Lehre. Eine Einleitung (Georg Pichler (Alcal. de Henares), Hebatallah Fathy (Kairo / Bonn), Ana Margarida Abrantes (Lissabon), Elke Sturm-Trigonakis (Thessaloniki))
  • Germanistik ohne Grenzen – Möglichkeiten einer länderübergreifenden Zusammenarbeit in Südeuropa und im Mittelmeerraum (Georg Pichler (Alcalá de Henares), Elke Sturm-Trigonakis (Thessaloniki))
  • Korrespondenzregionen grenzüberschreitender Germanistiken? Mittelmeer- und Ostseeraum (Frank Thomas Grub (Uppsala))
  • Skylla oder Charybdis? Dilemmata der Internationalen Germanistik im Mittelmeerraum (Elke Sturm-Trigonakis (Thessaloniki), Charis-Olga Papadopoulou (Thessaloniki))
  • Literarische Inseln als Forschungs- und Unterrichtsthema der Germanistik im Mittelmeerraum (Katrin Dautel (Malta))
  • Politische Philologie: Zum Thema Migration in Forschung und Lehre (Kathrin Schödel (Malta))
  • Die Germanistik in Ägypten um die mediterrane Literatur erweitert. Eine Reform im Rahmen der nachhaltigen Bildung (Riham Tahoun (Kairo))
  • Vom Élysée-Vertrag 1963 bis zum Aachener Vertrag 2019: Die französische Germanistik und ihre Studiengänge als „Schutzgebiet“? (Bénédicte Terrisse (Nantes))
  • Die Einführung der zweiten Fremdsprache in der griechischen Primarschule: Vision und Wirklichkeit (Sofia Avgerinou (Athen))
  • Angewandte Literatur- und Kulturwissenschaft als Perspektive für die griechische Germanistik (Aglaia Blioumi (Athen))
  • Hybrider Unterricht – ein neues Paradigma? Eine Studie am Beispiel von DaF-Lernenden an der Universität (Ingrid Cáceres-Würsig (Alcalá de Henares))
  • Fluchtmigrationen – Senthuran Varatharajahs neue Narrative aus sprach- und literaturwissenschaftlicher Perspektive im Germanistikstudium in Italien (Lucia Perrone Capano (Foggia), Beatrice Wilke (Salerno))
  • Von der Hybridität der Diskurse zu den Diskursen der Hybridität im postkolonialen Roman: Uwe Timms Morenga (Ali Aberkane (Algier))
  • Reihenübersicht

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Transkulturalität der Religion in Prosatexten der Gegenwart

Herausgegeben von Chiara Conterno, Isabelle Stauffer

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Transkulturalität der Religion in Prosatexten der Gegenwart. Eine Einleitung

Religion und Religiosität finden gegenwärtig eine neue und unerwartete Beachtung in Medien und Öffentlichkeiten europäischer Gesellschaften. Die weltweite Politisierung von Glaubensgemeinschaften und die wichtige Rolle der Religion in Identitätsdiskursen können als Indikatoren dafür dienen, dass die Säkularisierungswelle, welche seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges viele Länder Europas erfasst hatte, nicht das Normalvorbild für die Modernisierung aller Kulturen ist, sondern ein Sonderweg (vgl. Habermas 2009: 120–121). In einem Zeitalter globaler Migration und digitaler Vernetzung kann sich auch Europa einer Revitalisierung der Religion nicht entziehen, zumal dadurch ausgelöste Probleme – religiöse Konflikte in einer pluralen Gesellschaft oder religiös motivierte terroristische Anschläge – mitten in Europa stattfinden. Das bedeutet, dass Europa sich der Herausforderung einer postsäkularen Gesellschaft stellen muss, in der weltliche und religiöse Gruppen ihre Beiträge zu kontroversen Themen in der Öffentlichkeit gegenseitig ernst nehmen müssen (Habermas 2009: 116–117). Auf der Ebene wissenschaftlicher Analyse muss der einfache Gegensatz von Religion und Säkularität einer komplexeren Betrachtung multipler Säkularitäten und multipler Religiositäten in transkultureller Perspektive weichen (vgl. Burchardt/Wohlrab-Sahr/Middell 2015).

Von der Literatur als einer „ausgezeichneten Form der Selbstbeobachtung von Gesellschaften“ (Böhme 1998: 480) müssen wir annehmen, dass sie diese Entwicklungen thematisiert. Nach religiös motivierten Anschlägen steht Religion in der Literatur unter dem doppelten Vorbehalt, dass die Religion Gewalt auslösen, aber auch überwinden oder zähmen kann (vgl. Braun 2016, 202). Insbesondere im Bereich der Missionierung wird die Verbindung von Religion und kolonialen Machtverhältnissen deutlich: So lieferten biblische Sprache und Vorstellungswelten „paradoxerweise gleichzeitig die Blaupause für koloniale Projekte und Genozide der Moderne, aber auch für antikolonialen Widerstand.“ (Burkhardt/Wiesgickl 2016: 70) Zugleich birgt die Literatur ein besonderes Potential im Umgang mit Religion: „Die literarische Beschäftigung mit der Religion [ist] gewissermassen a priori eine Wendung gegen Orthodoxie und Fundamentalismus, weil die Religion in ein ästhetisch-literarisches Spiel integriert und nicht als Hort ewiger Wahrheiten verstanden wird.“ (Hofmann 2017: 49)

←13 | 14→Wie Georg Langenhorst und Silke Horstkotte für die deutschsprachige Literatur zeigen konnten, wenden sich seit den 1990er Jahren zahlreiche literarische Texte wieder Glaubensfragen zu (vgl. Horstkotte 2012: 267; Langenhorst 2009: 9). Sogar die jüngere Kinder- und Jugendbuchliteratur nimmt Anteil an einer „neuen Unbefangenheit religiösen Sprechens“ und eröffnet „interreligiöse Perspektiven“ (Braun 2016: 202). Sehr gut erforscht ist vor allem der Umgang mit dem Bilderreservoir des Christentums. Zugleich aber tritt in der Gegenwartsliteratur „die Religionsthematik […] verstärkt in der Kombination mit Darstellungen von (kultureller) Identität, Migration, Zugehörigkeitsproblematiken und Fremdkontakt auf“ (Peters 2021: 14). Dabei erweist sich die Verbindung zwischen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und dem Islam als sehr eng, „weil sich die aus islamisch orientierten Kulturen stammenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller […], die in Deutschland geboren sind, mit […] der Religion ihrer Vorfahren intensiv auseinandersetzen“ (Hofmann 2017: 49). Seit der Jahrtausendwende hat sich eine Generation von jüngeren deutschsprachigen jüdischen Schriftsteller:innen etabliert, „die in großer Selbstverständlichkeit gegenwartsbezogene jüdische Lebens- und Glaubenswelten in ihr literarisches Schreiben integrieren“ (Langenhorst 2021: 21). In ihrer langen Diasporageschichte kann die Literatur des Judentums zudem als „transkulturelles Feld“ beschrieben werden, „in dem sich Eigenes und Fremdes überkreuzen“ (Kilcher 2006: 92). Juden „ließen sich in den verschiedenen Ländern unterschiedlich schnell und in den einzelnen Gemeinden in variierenden Formen auf die Verinnerlichung von Werten, Begriffen und geschmacklichen Orientierungen jener nichtjüdischen Welt ein, deren Teil sie waren.“ (Steer 2006: 15) Primo Levi prägte für dieses jüdische Grenzgängertum zwischen Sprachen, Kulturen und Religionen als Form von Hybridität das Bild des Zentauren, eines Mischwesens (vgl. Brunner 2009: 144). Zugleich gilt es, den Bezugsrahmen über traditionelle organisierte Religionen der europäischen Religionsgeschichte hinaus auszudehnen (vgl. Renger 2019: 226). So gibt es in der Gegenwart auch verstärkt beobachtbare Interrelationen von Buddhismus oder anderen östlichen Religionen und Literatur (vgl. Renger 2019: 225).

Geprägt von den Effekten der Globalisierung und der Interkulturalität geht die Literatur der Gegenwart über Grenzen, sie nimmt am interreligiösen Dialog mit „großer religiöser Offenheit“ (Braun 2016: 199) teil. Erzählt wird häufig „aus der Zwischen-Perspektive: aus der Sicht von Figuren, die […] jenseits klarer Grenzziehungen in hybriden Zwischenräumen verortet sind.“ (Catani 2018: 140) Die Identität dieser Protagonisten ist eine transkulturelle und transnationale (vgl. Catani 2018: 141). Es sind jedoch nicht nur die Figuren, sondern auch die Sprache(n) und die Poetiken dieser Texte, die transkulturell und transnational geprägt sind. Insofern können die aktuellen Auseinandersetzungen und Diskussionen um die Themen Religion, Gesellschaft und ←14 | 15→Säkularisierung „nicht mehr nur in einem rein westlich-christlichen Kontext geführt werden, sondern müssen ‚transkulturell‘ werden.“ (Peters 2021: 17–18) Das Konzept des Transkulturellen stammt aus dem Kontext des postkolonialen Identitätsdiskurses von Fernando Ortiz (vgl. Mecklenburg 2021: 24–25), der den Begriff der Transkulturation als Gegenbegriff zu dem Konzept der Akkulturation 1940 geprägt hat. Damit wollte er zeigen, dass für die Entstehung des Kubanischen afrikanische, indigene und europäische kulturelle Elemente gleichbedeutend waren (vgl. Ortiz 1983: 90). Seit Anfang der 1990er Jahre wurde dieser Begriff weiterentwickelt zur Transkulturalität (vgl. Mae 2019: 316): „Ein Leitprinzip von Transkulturalität ist die Überschreitung von Grenzen; sie postuliert deshalb die Öffnung, Dynamisierung und wechselseitige Durchdringung von Kulturen.“ (Mae 2019: 314)

Insbesondere Wolfgang Welsch hat sich prominent in mehreren Publikationen damit beschäftigt. Er plädiert dafür, den Begriff der Interkulturalität durch den Begriff der Transkulturalität zu ersetzen und letzteren sowohl auf einer Makro- als auch einer Mikroebene zu fassen. Sein zentrales Bild für Transkulturalität ist das des Geflechts. Auf der Makroebene betont er die externe Vernetzung und den internen Hybridcharakter heutiger Kulturen durch die Globalisierung: „Zeitgenössische Kulturen sind extern denkbar stark miteinander verflochten. […] Und intern sind zeitgenössische Kulturen weithin durch Hybridisierung gekennzeichnet.“ (Welsch 2012: 28) Auch auf der Mikroebene sind „[d]‌ie meisten unter uns […] in ihrer kulturellen Formation durch mehrere kulturelle Herkünfte und Formationen bestimmt. […] Die kulturelle Identität der heutigen Individuen ist eine Patchwork-Identität.“ (Welsch 2012: 30) Mit Michaela Holdenried ist kritisch zu hinterfragen, wie – wenn alle Kulturen hybrid sind – Fremdheitserfahrungen noch zu fassen sind (vgl. Holdenried 2022: 21). Dennoch muss diese Transkulturalität nicht zu einer kompletten Auflösung oder Homogenisierung der Kulturen führen, sondern diese sind „auf unterschiedliche Weise binnen- und außendifferenziert“ (Blumenrath/Bodenburg/Hillmann/Wagner-Egelhaaf 2007: 17). Dabei unterschlägt Welsch nicht die ökonomisch-politischen Machtprozesse, die bei dieser Transkulturalisierung eine zentrale Rolle spielen: „Natürlich spielt sich der Übergang zu Transkulturalität nicht in einem machtfreien Raum ab. […] Es ist in erster Linie die kapitalistische Ökonomie mit ihrer globalen Erschließung materieller und humaner Ressourcen, die zu drastischen Umstrukturierungen traditioneller Verhältnisse führt, Arm-Reich-Verteilungen verändert und Migrationsbewegungen auslöst. Der Druck politischer Herrschaft und Unterdrückung tut ein Übriges.“ (Welsch 2012: 36) Gabriele Dietze moniert an Welschs Transkulturalitätsbegriff Genderblindheit und plädiert für den Begriff der Intersektionalität (Dietze 2015: 40). Norbert Mecklenburg kritisiert Welsch für seine Ersetzungsbestrebungen sowie für einen zu diffusen und paradoxen Transkulturalitätsbegriff. Transkulturalität sei „kein Alternativ-, ←15 | 16→sondern ein Komplementärbegriff zu dem der Interkulturalität“ (Mecklenburg 2021: 25). Zeitgenössische Kulturen seien nicht pauschal transkulturell, sondern „heute noch mehr als früher transnational“ (Mecklenburg 2021: 23). Sie haben aber Teilbereiche, wie Kunst oder Wissenschaft, die transportabel und damit transkulturell seien. Als Erstes geht Mecklenburg vom Begriff selbst aus: Da die Vorsilbe trans von transkulturell quer hindurch, über hinaus und jenseits bedeutet, sind Übergang und Bewegung konnotiert (vgl. Mecklenburg 2021: 15). Insofern sind mit transkulturell „Übergänge, Vernetzungen und Phänomene“ gemeint, welche „einzelne oder alle Kulturen übergreifen“ (Mecklenburg 2021: 13). Damit kann das Phänomen der Religion an sich schon gemeint sein, da Religion „in praktisch allen Kulturen“ (Mecklenburg 2021: 15) vorkommt. Dennoch ist eine konkrete Religion, wie das Christentum, das Judentum, der Islam oder der Buddhismus, nicht an sich transkulturell, sondern verschärft und zementiert die Grenzen, die konstitutiv zu jeder Gemeinschaft und Kultur gehören: „Ihre Zeichen und Symbole, die den Zusammenhalt der Gemeinschaft nach innen verstärken, schließen die anderen aus.“ (Sundermeier 2003: 548) Insofern können religiöse Symbole zu „Trennungszeichen“ (Sundermeier 2003: 548) werden, die dem anderen signalisieren, dass er nicht dazugehört. Gleichzeitig aber impliziert das fremde Symbol „die Aufgabe, den Raum des anderen symbolischen Universums, das sich jede Religion und jede Kultur schafft, zu erschließen. Nur so wird Verstehen möglich.“ (Sundermeier 2003: 548) Denn Religionen beziehen sich auch aufeinander und gehen dabei „verschiedene transkulturelle Verhältnisse miteinander ein […].“ (Renger 2019: 225). Durch dieses Erschließen und die gegenseitigen Bezugnahmen kann neues Wissen generiert werden (vgl. Koch 2008: 169). Die Literatur spielt bei dieser Erschließung fremder Religionen eine wichtige Rolle, indem sie ästhetische Möglichkeiten einer interreligiösen Verständigung bereitstellt (vgl. Braun 2016: 202). Insofern bildet die Literatur nicht nur Religionen ab, sondern gestaltet sie auch mit (vgl. Renger 2019: 225).

Dem von Byung-Chul Han formulierten Konzept der Hyperkulturalität, einer individuellen Zusammenstellung von Identitäten aus einem hyperkulturellen Fundus von Lebensformen und -praktiken fehlt „die Emphase der Grenzüberschreitung“ (Han 2005: 59). Auch hat es „wenig Erinnerung […] an die Herkunft, Abstammung, Ethnien oder Orte.“ (Han 2005: 59) Gerade aber im Umgang mit Religion legen die Texte Annäherungen, Befremdungen, Abgrenzungen und Ausschluss offen. Sie leisten Erinnerungs- und Aneignungsarbeit. Erst dort, wo sie sich von der Religion verabschieden, werden sie hyperkulturell.

Die Publikation wendet sich dem transkulturellen Vergleich verschiedener literarischer Thematisierungen von Religionen zu, und zwar auf zwei Ebenen. Zum einen soll das transkulturelle Spannungsfeld von Christentum, Islam, Judentum und Buddhismus diskutiert werden, das in der ←16 | 17→deutschsprachigen Gegenwartsliteratur thematisiert wird. Zum anderen werden französische Texte einbezogen, um die europäische Dimension dieses Spannungsfeldes aufzuzeigen. Anhand exemplarischer Konstellationen transkulturellen Umgangs mit Religion der Gegenwartsliteratur werden Formen und Funktionen der religiösen Bezugnahmen in den literarischen Texten hinsichtlich des verschiedenen religiösen und kulturellen Umfelds miteinander verglichen.

Die Transkulturalität vom Jenseitsräumen untersucht Veronika Born anhand von Sibylle Lewitscharoffs Roman Das Pfingstwunder sowie von Sibylle Lewitscharoffs und Heiko Michael Hartmanns Gespräch Warten auf: Gericht und Erlösung. Dabei erweisen sich Lewitscharoffs Jenseitsräume als postmoderne Relektüren von Dantes Divina Commedia, die für Personen unterschiedlichen Glaubens offen sind und in denen verschiedene Religionen und Konfessionen diskutiert werden. Der Beitrag von Daniel Kazmaier zeigt, dass die transkulturelle Signatur von Dimitré Dinevs und Emmanuel Carrères Texten darin besteht, Elemente der christlichen Überleferung vor dem je spezifischen sprachlich-kulturellen Hintergrund des deutschen bzw. französischen Sprachraums und der inneren Transkulturalität ihrer Figuren poetisch zu bearbeiten. Christoph Gellner behandelt Autor:innen mit (trans-) kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten, wie Feridun Zaimoğlu, Navid Kermani und Zafer Şenocak, die Innensichten gelebter muslimischer Glaubenspraxis jenseits von Säkularismus und Islamismus vermitteln. Vor dem Hintergrund einer postkolonialen und transkulturellen Perspektive lotet Ludmila Peters in Ilija Trojanows Roman Der Weltensammler Kritik am Säkularisierungsdiskurs und eine – allerdings nur scheinbare – poetische Utopie der Offenheit aus. Anhand von Meral Kureyshis Roman Elefanten im Garten und Navid Kermanis Mediationen Ungläubiges Staunen, die beide vom Islam auf das Christentum blicken, zeigt Isabelle Stauffer die dynamische Verschränkung von Fremdem und Eigenem an diesen beiden Religionen vor dem Hintergrund zirkulärer Migration und natio-kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten. Lisa Baumgartner skizziert an Nava Ebrahimis Erzählung Der Cousin, die auf vielfältige Weise die Themen Migration, Identität und Anpassung behandelt, die innere Transkulturalität der Figuren und die transkulturelle Verständigungsmöglichkeit des Tanzes. Mit Kamel Daouds Roman Zabor ou les Psaumes stellt Christiane Dätsch die transkulturelle Poetologie eines Autors in den Mittelpunkt, der eine littérature engagée schreiben möchte, die sowohl eine Aktivierung der Leserschaft intendiert als auch eine Reflexion kultureller Einflüsse auf die algerische Identität leistet. Die poetologisch-ästhetischen Räume der kulturellen Übersetzung und die Etablierung neuer Narrative im Sinne des postmigrantischen Paradigmas untersucht Saniye Uysal Ünalan an Zafer Şenocaks Texten. Chiara Conterno behandelt mit Miriam Presslers Nathan und seine Kinder, der Lessings Drama Nathan der Weise aufgreift, ein ←17 | 18→aufschlussreiches Beispiel von Transkulturalität der Religion in der Jugendliteratur der Gegenwart. Mit Alfred Bodenheimers Kriminalromanen zeigt Gerhard Langer die enge transkulturelle Verflechtung von jüdischen Menschen innerhalb der Schweiz und eine zunehmend kritischere Sicht auf das Leben in Europa, die mit dem vermehrten Antisemitismus zu tun hat. Martina Wagner-Egelhaaf stellt an Stephan Thomes Roman Gott der Barbaren, der die Rolle der Religion im Kontext von Kolonisierung und christlicher Mission beleuchtet, heraus, wie jedes Verstehen neue kulturelle Missverständnisse erzeugt und Mimikry als Strategie des Minimalkonsenses im transkulturellen Geschehen erscheinen kann.

Isabelle Stauffer

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Die Transkulturalität der Jenseitsräume bei Lewitscharoff und Lewitscharoff/Hartmann

Veronika Born (Eichstätt)

1. Einleitung

Gegenwärtige Jenseitserzählungen hängen mit der „Renaissance des Religiösen“ in der Gegenwartsliteratur und dem ebenfalls mehr Aufmerksamkeit erhaltenden Themenfeld von Sterben und Tod zusammen (vgl. Stauffer 2018: 15). Die 2013 mit dem Büchner-Preis ausgezeichnete Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff befasst sich in ihren Werken wiederholt mit dem Jenseits, so dass sie als „Jenseits-Expertin“ (Stauffer 2022: 212) gelten kann. Im Folgenden werden ihr für den Deutschen Buchpreis nominierter Roman Das Pfingstwunder (2016) und das gemeinsam mit dem Juristen und Schriftsteller Heiko Michael Hartmann verfasste Gespräch Warten auf: Gericht und Erlösung (2020) eingehender betrachtet. Die dargestellten Jenseitsräume werden auf ihre Transkulturalität untersucht; die mit „Transkulturalität“ gemeinten „Durchdringungen und Verflechtungen der Kulturen“ (Welsch 2012: 29) erfassen alle kulturellen Dimensionen (vgl. Welsch 2012: 29), also auch die Religion. Bei der Analyse wird den Fragen nachgegangen, wie inklusiv der Himmel in Das Pfingstwunder ist und ob diese Inklusivität in Warten auf: Gericht und Erlösung wieder zurückgenommen wird.

2. Das Pfingstwunder

Bei der Abbildung auf dem Umschlag von Das Pfingstwunder handelt es sich um eine Collage von Lewitscharoffs 2019 verstorbenem Ehemann Friedrich Meckseper.1 Sie trägt den Titel Collage Pfingstwunder und ist 1984 unter Verwendung eines Details aus El Grecos Gemälde Die Ausgießung des Heiligen Geistes entstanden. Der Bildausschnitt ist gespiegelt worden. Das erinnert ←21 | 22→an die Divina Commedia: Im 19. Gesang des Inferno wird beschrieben, was Geistlichen widerfährt, die ihr Amt missbraucht haben. Gemäß dem in der Divina Commedia vorherrschenden Prinzip des „contrapasso“, bei dem Strafe und Vergehen in symbolischer Weise übereinstimmen, werden Päpste, auf die das zutrifft, durch Flammen an ihren emporgereckten Fußsohlen gequält (vgl. Alighieri 2019: 258–271). Dadurch werden sie zu Gegenstücken zu den Aposteln, auf deren Köpfen sich die Feuerzungen des Heiligen Geistes niedergelassen haben; in Das Pfingstwunder ist von der „Verkehrung des Pfingstwunders“ (Lewitscharoff 2018: 193) die Rede. Allerdings ist das für die Collage verwendete Gemäldedetail nicht um 180 Grad gedreht und somit auf den Kopf gestellt, sondern nur von links nach rechts gespiegelt worden. Das indiziert, dass in Das Pfingstwunder zwar ebenfalls ein Pfingstereignis in veränderter Form stattfindet, aber dieses dabei nicht in sein Gegenteil verkehrt wird.

In Das Pfingstwunder fungiert der Romanistik-Professor Gottlieb Elsheimer als autodiegetischer Erzähler und rekapituliert einen 2013 in Rom stattgefundenen internationalen Dante-Kongress. Er ist der Einzige der Teilnehmenden, der nicht infolge eines wie eine Verschmelzung von Pfingsten und Himmelfahrt wirkenden Ereignisses verschwunden ist.

Die Kongressteilnehmenden tagen „auf dem Aventin, im großen Saal der Malteser, […] mit Blick auf den Petersdom“ (Lewitscharoff 2018: 18). Die Räumlichkeiten weisen in zweierlei Hinsicht auf das bevorstehende Ereignis voraus: Zum einen werden sie von Elsheimers Kollegin Fiammetta Bartoli organisiert. Der italienische Vorname „Fiammetta“ bedeutet „Flämmchen“ – in ihm klingt also das Pfingstereignis an (so auch Tück 2018: 25). Zum anderen ist der Tagungsort von einem Garten umgeben, der wiederholt zu einem „Paradiesgarten“ (Lewitscharoff 2018: 31) stilisiert wird.

Die Anzahl der an dem Kongress teilnehmenden Wissenschaftler:innen deckt sich mit der Anzahl der Romankapitel und somit auch mit der Anzahl der Gesänge, die der erste Teil der Divina Commedia, Inferno, umfasst. 33 von ihnen verschwinden. Die Zahl 33 korrespondiert wiederum mit der Anzahl der Gesänge des zweiten und dritten Teils der Divina Commedia, Purgatorio und Paradiso (vgl. Lewitscharoff 2018: 32 f.). Die Wissenschaftler:innen stammen aus 16 verschiedenen Ländern: sechs von ihnen kommen aus Deutschland, fünf aus Italien, vier aus Österreich, jeweils zwei aus China, Frankreich, Großbritannien, der Schweiz und den USA sowie jeweils eine Person aus Argentinien, Griechenland, Israel, Japan, Polen, Russland, Schweden, Südkorea und der Türkei (vgl. Lewitscharoff 2018: 29 f.).

Neben den 33 Wissenschaftler:innen verschwinden der durch sein Verhalten als „Metakommentar“ (Reichwein 2016) fungierende Jack Russell Terrier eines US-amerikanischen Kongressteilnehmers und drei Angehörige des Personals: eine Äthiopierin und zwei Italiener. Das Verschwinden der drei ←22 | 23→Angestellten erinnert Elsheimer daran, dass in der Divina Commedia drei wilde Tiere und drei himmlische Frauen eine Rolle spielen (vgl. Lewitscharoff 2018: 33).

Während des Kongresses nehmen Elsheimer und seine Kolleg:innen die Divina Commedia Gesang für Gesang durch und vollziehen dadurch Dantes Reise durch Inferno und Purgatorio nach – die Vorträge, die sich nur mit dem Paradiso befassen, können wegen des Ereignisses nicht mehr gehalten werden. Die Wissenschaftler:innen werden dabei selbst zu Jenseitswanderer:innen (vgl. dazu auch Małyszek 2018: 109). Bei ihrer Beschäftigung mit der Divina Commedia berücksichtigen sie unter anderem auch transkulturelle Aspekte wie Dantes Einflüsse, unter denen sich auch islamische befinden, oder Anknüpfungsmöglichkeiten aus ihren eigenen Kulturkreisen.

Die Auseinandersetzung mit der Divina Commedia wird zum „Sprungbrett“ (Lewitscharoff 2018: 17). Infolge eines Vortrags, der den Vergleich von deutschen Konzentrations- und Gefangenenlagern mit Dantes Inferno zum Gegenstand hat, kommt unter den betroffenen Zuhörenden „eine völlig konträre Stimmung auf“ (Lewitscharoff 2018: 77). Sie springen auf und reden „in Zungen“ (Lewitscharoff 2018: 77). Erst sprechen sie in ihren eigenen Sprachen und fangen an, die ihnen zunächst fremden Laute aus den anderen Sprachen zu verstehen, dann verschieben sich die verschiedenen Sprachen zunehmend ineinander. Es entwickelt sich ein „gemischte[s]‌ Idiom“ (Lewitscharoff 2018: 331), in das auch „Töne, die den Tieren abgehorcht sind“ (Lewitscharoff 2018: 332), und „Klänge […], die […] Dinge von sich geben“ (Lewitscharoff 2018: 333), Eingang finden. „[E]ntflammt […] von Dante“ (Lewitscharoff 2018: 334) beginnen die eine Verschönerung erfahrenden Wissenschaftler:innen, Verse aus der Divina Commedia zu rezitieren und nachzustellen. Die das Pfingstfest einläutenden Glocken des Petersdoms geben den geheimen Takt des „tumultuarische[n] Sprachsalat[s]“ (Lewitscharoff 2018: 335) vor. Ein nicht zu beschreibender Ton bringt die Stimmen zeitweise zum Verstummen. Einer der Teilnehmenden identifiziert ihn als Aleph, den „sagenhafte[n] Buchstabe[n], in dem sich Gottes versammelte Schöpfungskraft birgt“ (Lewitscharoff 2018: 337). Der Ursprung des Tons bleibt unklar. In seiner Folge sprechen die Teilnehmenden zunächst in ihren Muttersprachen und werden von den anderen verstanden, dann mischen sich ihren eigenen Sprachen „Laute, Silben, manchmal ganze Wörter aus anderen Sprachen“ (Lewitscharoff 2018: 339) bei, die „den Sätzen einen erweiterten Sinn“ (Lewitscharoff 2018: 339) verleihen. Laute von Tieren und Geräusche von Gegenständen finden sich nicht mehr darunter, so dass der Eindruck verstärkt wird, dass der als Aleph erachtete Ton ordnungsstiftend wirkt. Anders als bei dem ursprünglichen Pfingstereignis fällt also nicht jeder beteiligten Person „eine ih[r] bisher unbekannte Sprache“ (Lewitscharoff 2018: 339) zu; stattdessen entwickelt sich eine hybride Form des Sprechens. Im Gegensatz ←23 | 24→zu den Aposteln erhalten die Teilnehmenden auch keinen Auftrag. Nachdem einer von ihnen die letzten Verse des Paradiso rezitiert hat, öffnen sie die Fenster und fliegen nach oben davon. Das Sprechen der Davonfliegenden scheint in das Singen des Chorals Te lucis ante terminum überzugehen.

Die verschiedenen Sprachen werden wie die letzten Sätze des Romans – das Geflüster einer alten Dame, die Elsheimer für eine Beobachterin des Vorgangs hält – kursiviert und weitgehend unübersetzt wiedergegeben; während das neue Pfingstereignis Einheit unter den Beteiligten stiftet, werden die Leser:innen des Romans davon – abhängig von ihren Fremdsprachenkenntnissen – mehr oder weniger stark ausgenommen.

Lewitscharoffs Betonung der Offenheit des Endes (vgl. Tück 2018: 40) deckt sich mit der für gegenwärtige Jenseitsliteratur typischen „Unsicherheit in Sachen Religion“ (Stauffer 2018: 25). Dennoch legen die Tatsachen, dass das Ereignis Pfingsten und Himmelfahrt „amalgamiert“ (Rüdenauer/Stauffer 2020) in sich vereint und an das Nachvollziehen von Dantes Jenseitsreise durch Inferno und Purgatorio2 anschließt, nahe, dass die Kongressteilnehmenden in den Himmel gelangen.

Details

Seiten
622
Erscheinungsjahr
2022
ISBN (PDF)
9783034345972
ISBN (ePUB)
9783034345989
ISBN (MOBI)
9783034345996
ISBN (Paperback)
9783034336635
DOI
10.3726/b20293
Open Access
CC-BY-NC-ND
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Januar)
Schlagworte
Transkulturalität der Religion in Prosatexten der Gegenwart Ästhetisch-narrative Strategien der Transkulturalität in Literatur und Film Strategien der Avantgarde
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 622 S., 15 s/w Abb.
Produktsicherheit
Peter Lang Group AG

Biographische Angaben

Laura Auteri (Band-Herausgeber:in) Natascia Barrale (Band-Herausgeber:in) Arianna Di Bella (Band-Herausgeber:in) Sabine Hoffmann (Band-Herausgeber:in)

Laura Auteri ist Ordentliche Professorin für deutsche Literatur an der Universität Palermo und war 2015-2021 Vorsitzende der Internationalen Vereinigung für Germanistik. Natascia Barrale ist Associate Professorin für deutsche Literatur an der Universität Palermo. Arianna Di Bella ist Associate Professorin für deutsche Literatur an der Universität Palermo. Sabine Hoffmann ist Ordentliche Professorin für deutsche Sprache und DaF-Didaktik an der Universität Palermo.

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Titel: Wege der Germanistik in transkultureller Perspektive