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Typologie dativischer Domänen

Ein russisch‐tschechischer Vergleich

von Martina Lev (Autor:in)
©2022 Dissertation 272 Seiten

Zusammenfassung

Die Untersuchung fokussiert die funktionelle Distribution einzelner Dativstrukturen im Russischen und Tschechischen und die damit einhergehende und durch die Slavistik wenig erforschte Frage nach möglichen kausalen Zusammenhängen innerhalb des Systems dativischer Funktionsbereiche. Anhand einer korpusbasierten Untersuchung zeichnet die Autorin zwei entgegengesetzte Ausbautendenzen der dativischen Morphosyntax nach und modelliert diese im Rahmen der Funktionalen Grammatik. Sie manifestieren sich für das Russische im Bereich von statisch-lokativischen Dativstrukturen (Kopula-Konstruktionen mit einem unkanonischen erststelligen Dativ-Argument), für das Tschechische aber im Bereich von fakultativen Dativerweiterungen in dynamisch-temporalen Strukturen (z.B. sympathetische Dative).

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 1.1 Annäherung
  • 1.2 Fragestellung
  • 2 Bestandsaufnahme: Die Distribution freier Dative im slavischen Sprachraum – Eine typologische Skizze
  • 2.1 Dativus commodi et incommodi
  • 2.2 Dativus possessivus
  • 2.2.1 Dativus commodi et incommodi mit possessiver Bedeutung
  • 2.2.2 Sympathetischer Dativ
  • 2.2.3 Possessiver attributiver Dativ
  • 2.2.4 Limitativer Dativ
  • 2.2.5 Zusammenfassung
  • 2.3 Dativus ethicus
  • 2.4 Fazit
  • 3 Forschungsüberblick
  • 3.1 Freie Dative in der bohemistischen Forschung
  • 3.1.1 Polyfunktionale Beschreibungsansätze
  • 3.1.2 Monofunktionale Beschreibungsansätze
  • 3.2 Freie Dative in der russistischen Forschung
  • 3.3 Weitere Beschreibungsansätze
  • 3.4 Semantisch und pragmatisch motivierte freie Dative
  • 3.4.1 Eliminierbarkeit des DE
  • 3.4.2 Formale Realisierung des DE
  • 3.4.3 Der DE und die „Sprache der Nähe“
  • 3.5 Fazit
  • 4 Empirisch-methodologischer Ansatz
  • 4.1 Methodologische Überlegungen
  • 4.2 Datengrundlage
  • 4.2.1 Textkorpora: Das Russische und das Tschechische Nationalkorpus
  • 4.2.2 Die Teilkorpora
  • 4.2.3 Das Belegkorpus
  • 5 Theoretischer Rahmen
  • 5.1 Dativfunktionen als Kontinuum der Fakultativität
  • 5.2 Funktionale Grammatik
  • 5.2.1 Allgemeines
  • 5.2.2 Die horizontale und vertikale Beschreibungsdimensionen des Modells im Kontext der FG
  • 5.2.2.1 Prädikation
  • 5.2.2.2 Proposition
  • 5.3 Zusammenfassung
  • 6 Quantitative und statistische Auswertung der Daten
  • 7 Gebundener Dativ
  • 7.1 Definitorisches
  • 7.1.1 Gebundenheit
  • 7.1.2 Prädikat
  • 7.2 Belegmaterial
  • 7.2.1 Erstes Argument
  • 7.2.1.1 Argumenttypen
  • 7.2.1.2 Prädikatstypen
  • 7.2.1.2.1 Funktionsverbgefüge
  • 7.2.1.2.2 Kopula
  • Unpersönliche Konstruktionen
  • a) DAT + Kopula r. быть/č.být in der 3. Ps. Sg. + Infinitiv (Dativus cum Infinitivo, DcI)
  • b) DAT + Kopula r. быть/č.být in der 3. Ps. Sg. + Modalprädikativ (+ Infinitiv)
  • c) DAT + Kopula r. быть/č.být (bzw. andere) in der 3. Ps. Sg. + Zustandsprädikativ (+ Infinitiv)
  • d) DAT + Kopula r. быть/č.být in der 3. Ps. Sg. + prädikative Präpositionalphrase
  • e) DAT + Kopula r. быть/č.být in der 3. Ps. Sg. + Substantiv im Kasus obliquus
  • Persönliche Konstruktionen: Zum Ausbau der mihi-est-Struktur
  • 7.2.1.2.3 Verbum finitum
  • 7.2.1.2.4 Modalauxiliar bzw. modales Verb + Infinitiv
  • 7.2.1.2.5 Implizite Prädikate
  • 7.2.2 Zweites und drittes Argument bzw. Satellit
  • 7.2.2.1 Argumenttypen
  • 7.2.2.2 Prädikatstypen
  • 7.2.2.2.1 Funktionsverbgefüge
  • 7.2.2.2.2 Kopula
  • 7.2.2.2.3 Verbum finitum bzw. Hilfs-/Modal-/Phasenverb + Infinitiv
  • 7.2.2.2.4 „Дать/dát + Infinitiv“
  • 7.2.2.2.5 Implizite Prädikate
  • 7.2.3 Dativaktanten als Argumente nonverbaler Größen
  • 7.2.3.1 Dativ: Argument eines Adverbs
  • 7.2.3.2 Dativ: Attribut bzw. Argument eines Attributs
  • 7.3 Zusammenfassung
  • 8 Propositional auflösbarer Dativ
  • 8.1 Propositional auflösbarer Dativ I: Die für-Paraphrase
  • 8.2 Propositional auflösbarer Dativ II: Genitiv und Possessivpronomen
  • 8.2.1 Überblick
  • 8.2.2 Konstruktionen mit einem sympathetischen Dativ
  • 8.2.2.1 Syntax
  • 8.2.2.2 Semantik
  • 8.2.2.3 Diachrone Aspekte
  • 8.2.2.4 Wortstellung und Informationsstruktur des Satzes
  • 8.3 Zusammenfassung
  • 9 Fakultativer Dativ
  • 10 Ergebnisse und Schlussbetrachtungen
  • Literaturverzeichnis

←XII | XIII→

Abkürzungsverzeichnis

1. Ps./1

erste Person

2. Ps./2

zweite Person

3. Ps./3

dritte Person ač. Alttschechisch

ADJ

Adjektiv

ADV

Adverb(ial)

AKK/ACC

Akkusativ

aksl.

Altkirchenslavisch

ap.

Altpolnisch

ar.

Altrussisch

AUX

Auxiliar

bg.

Bulgarisch

br.

Belarussisch

COND

Konditional

č.

Tschechisch

DAT/DAT

Dativ

DU

Dual

F

Femininum

GEN/GEN

Genitiv

gr.

Griechisch

hebr.

Hebräisch

IMP

Imperativ

IMPS

impersonal, unpersönlich

INF

Infinitiv

INS

Instrumental

k.

Kroatisch

lat.

Latein

LOC

Lokativ

M

Maskulinum

N

Neutrum

NEG

Negation(smarker)

NOM

Nominativ

os.

Obersorbisch

p.

Polnisch

Pl./PL

Plural

POSS

possessiv

PRT

Partikel (inkl. Interjektionen)

r.

Russisch

REFL

Reflexiv(marker)

Sg./SG

Singular

sk.

Slovakisch

sn.

Slovenisch

u.

Ukrainisch

VOC

Vokativ

[ ]

semantische Rolle, Merkmal

←XIII | XIV→

←XIV | 1→

1 Einleitung

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit den Gebrauchsroutinen des russischen und des tschechischen Dativs im gegenseitigen Vergleich. Im engeren Fokus der Untersuchung steht die funktionelle Distribution einzelner Dativstrukturen sowie die – mit ihr in Verbindung stehende, jedoch von der slavistischen Forschung bisher kaum berührte – Frage nach möglichen kausalen Zusammenhängen innerhalb des Systems dativischer Funktionsbereiche. Die folgenden Abschnitte führen an die Problematik heran.

1.1 Annäherung

Obwohl der Dativ als morphologischer Marker in den slavischen Sprachen wenig frequent1 ist, weist er (neben dem Instrumental) das differenzierteste Spektrum an Funktionen auf (vgl. Lekov 1958: 77). Darunter fallen neben syntaktisch obligaten Dativ-Phrasen auch sogenannte freie, d. h. syntaktisch fakultative Dative, die nicht im Valenzrahmen des Verbs verankert sind. Die folgenden Beispiele bieten eine Auswahl an Dativen, die von den zitierten Autoren als „frei“ bezeichnet werden2:

←1 | 2→

Wie zu sehen ist, sind freie Dative quer durch den slavischen Sprachraum belegt. Doch ihre Distribution variiert von Sprache zu Sprache. Während Dativi ethici,possessivi und commodi (bzw. incommodi) im Tschechischen, Slovakischen, Kroatischen und Serbischen reich dokumentiert werden können, wird für das Russische – und am Rande auch für das Polnische – eine stark beschränkte Frequenz freier Dative konstatiert (vgl. Daiber 2008: 104; Havránek ←2 | 3→1961: 300).3 So zieht Janda in ihrer kognitiv-semantischen Kasusanalyse den tschechischen dem russischen Dativ als Untersuchungsgegenstand vor, da ersterer – ihrer Beobachtung zufolge – komplexer wirke (vgl. Janda 1993: 43). Fakultative Dativerweiterungen wie z. B. in

sind im heutigen Russisch nicht realisierbar. Besonders dem ethischen Dativ wird für das Russische eine äußerst niedrige bzw. sinkende Frequenz bescheinigt. Zu diesem Ergebnis kommen sowohl synchron-vergleichende (vgl. Milinković 1988: 189; DuFeu 1998: 4; Rycielska 2007: 149) als auch diachrone (vgl. Lomtev 1956: 254 f.) Untersuchungen des Russischen.

Doch die Forschungsliteratur liefert auch diesen Beobachtungen widersprechende Hinweise, die auf eine allmähliche Zunahme im Gebrauch des ethischen Dativs im Russischen hindeuten. Zaičkova (1972) spricht in diesem Zusammenhang von einer „Tendenz zur Wiedergeburt“ des ethischen Dativs und zieht das folgende Resümee: „Нельзя, однако, говорить о том, что дательный этический в современном русском языке исчез. [...] Примеры из новейших произведений русских писателей говорят о – хотя пока едва заметной – тенденции к его возрождению“ (Zaičkova 1972: 66). Kaum drei Jahrzehnte später ist die Expansion des russischen ethischen Dativs im Sprachgebrauch nicht zu übersehen:

В связи со все расширяющейся сферой употребления данных конструкций (их можно услышать не только в быту, но и с экрана телевизора, в рекламных роликах, увеличилось и использование конструкций с дательным этическим в газетах и журналах), представляется актуальным исследование конструкций с дательным этическим как с формальной, так и с семантической точек зрения (Mašovec 2000: 3; Hervorhebung i. O.).4

Die Befunde gehen also in puncto Distribution freier Dative auseinander: Einerseits wird für freie Dative im Tschechischen, Slovakischen, Kroatischen und Serbischen allgemein eine höhere Produktivität als im Russischen angenommen. Dabei dient der ethische Dativ häufig als ein Beispiel par excellence, an dem die Lage illustriert wird. Andererseits aber werden gerade in der ←3 | 4→einschlägigen Literatur (bzw. in entsprechenden Kapiteln und Textstellen) zum russischen ethischen Dativ Angaben über dessen Gebrauchsroutinen gemacht, die in Widerspruch zu den in einem slavisch-vergleichenden Maßstab angestellten Beobachtungen stehen. Die Beschreibung des Status quo in Bezug auf die Verteilung und Frequenzen diverser (nicht nur) freier Dativtypen in den slavischen Sprachen bedarf offenbar einer Präzisierung, die, wie uns scheint, in zweifacher Hinsicht erfolgen sollte: Erstens muss bei einer komparativen Distributionsanalyse geklärt werden, wo die erwähnte Heterogenität aus inhaltlichen wie terminologischen Differenzen in der unterschiedlichen Behandlung fakultativer Dativerweiterungen durch einzelne slavische Philologien herrührt und wo sie wiederum auf substanzielle Unterschiede in der Materie selbst zurückzuführen ist. Wir versuchen, dieser Forderung im Verlauf der Arbeit nachzukommen. Zweitens ist es notwendig, bei der Betrachtung der Sachlage zwischen types und tokens zu differenzieren. Ob und inwiefern ein (freier) Dativ in einer Sprache realisiert werden kann, hängt vom jeweiligen Sprachsystem ab. So findet man beispielsweise im gegenwärtigen Russischen keinen ethischen Dativ mehr, der durch die Kurzform des Personalpronomens der 2. Ps. Sg. (ar. ти) realisiert wäre, da im System der russischen Personalpronomina keine Kurzformen mehr vorkommen. Der Begriff „Typen“ bzw. „Dativtypen“ ist also auf das System bezogen. Demnach basieren die Realisierungsmöglichkeiten freier Dativtypen in diversen slavischen Sprachen zum Teil auf systemischen Voraussetzungen. Diese Realisierungsmöglichkeiten können mit Hilfe einschlägiger Grammatiken dokumentiert werden (einen entsprechenden Überblick liefert das zweite Kapitel). In Bezug auf die zahlenmäßige Repräsentation eines bestimmten Dativtyps sprechen wir von seiner Frequenz. Aussagen über die Frequenz diverser Dativ-types, d. h. über die Verteilung ihrer tokens, müssen durch korpusbasierte Untersuchungen belegt werden.

Die vorliegende Arbeit liefert in diesem Sinne eine komparative type-token-Analyse des russischen und des tschechischen Dativs mit besonderem Hinblick auf freie Dativgrößen. Dabei geht es aber primär nicht um eine rein deskriptive Erfassung der jeweiligen Funktionsbereiche. Diese wurde, wie aus dem Forschungsüberblick sowie aus dem Analyseteil der Arbeit hervorgehen wird, in der slavistischen sprachwissenschaftlichen Forschung wiederholt bzw. unter verschiedenen Forschungsparadigmen bereits erbracht. Die gegenseitige Kontrastierung der Funktionsbereiche soll vielmehr einen Einblick in das System des russischen und des tschechischen Dativs erlauben und die Infrastruktur dieser Kategorie offenlegen. Dies geschieht aber nicht auf der Basis einer kognitiv-semantischen Prototypentheorie wie sie z. B. von Janda (1993) und Dąbrowska (1997) für den tschechischen bzw. polnischen Dativ vorgelegt wurde, sondern durch einen formal-quantifizierenden und typologisch-vergleichenden Ansatz. Somit zielt die im fünften Kapitel aufgestellte ←4 | 5→Klassifikation dativischer Domänen auf die Erfassung struktureller Wesenszüge des russischen und des tschechischen Dativsystems und liefert gleichzeitig die Grundlage für die Bearbeitung der erkenntnisleitenden Forschungsfragen.

1.2 Fragestellung

Die oben skizzierten Unterschiede in den Realisierungsmöglichkeiten sowie die – noch genauer zu belegenden – frequenziellen Differenzen zwischen russischen und tschechischen (freien) Dativtypen gaben den Anstoß zu den zentralen Fragestellungen der Arbeit. So wird in der Literatur an einigen, wenn auch wenigen, Stellen von einem möglichen systemischen Fließgleichgewicht zwischen bestimmten dativischen Funktionsbereichen gesprochen. Einen ersten Anhaltspunkt diesbezüglich liefert Havránek (1961), der den markantesten Unterschied im Gebrauch des russischen und tschechischen Dativs wie folgt beschreibt:

[…] pro ruštinu je příznačné zejména užívání dativu v jednočlenných větách s příslovcem nebo infinitivem v základním členu (sr. Мне далеко до вокзала. – Открыть мне окно?), a naproti tomu jiné vyjádření za český tzv. volný dativ při slovese, s významem příslušnosti, vztahu (sr. Ztratila se mi kniha. У меня пропала книга)5 (Havránek 1961: 298 f.).

Diese Beobachtung wird sich im Laufe der Analyse als höchst relevant herausstellen, doch präsentiert sie, wie noch deutlich wird, nur einen Ausschnitt aus dem Gesamtbild. Einen weiteren Hinweis finden wir bei DuFeu (1998), die einen direkten kausalen Zusammenhang zwischen der Distribution des ethischen Dativs und der DcI-Konstruktion – einer Verbindung von Dativ und Infinitiv – in den slavischen Sprachen vermutet:

To conclude then the South and West Slavs have continued the ancient DE [Dativus ethicus; M. L.] tradition to various degrees. The East Slavs may have had it in Kievan times and in early Moscovite if the particle ti is construed as a second person singular [...] and its disappearance might then be attributable to formal considerations – the enclitic forms of the pronouns have been lost [...]. More probable is the proliferation of the dative and infinitive construction [...] which takes the action one remove away from the speaker while at the same time involving him – another supposition! (DuFeu 1998: 5)

Details

Seiten
272
Erscheinungsjahr
2022
ISBN (PDF)
9783631887424
ISBN (ePUB)
9783631887431
ISBN (MOBI)
9783631887813
ISBN (Paperback)
9783631887417
DOI
10.3726/b20071
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (September)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 272 S., 6 farb. Abb., 3 s/w Abb., 22 Tab.

Biographische Angaben

Martina Lev (Autor:in)

Martina Lev studierte Slavistik, Germanistik und Philosophie in Jena. Von 2012 bis 2020 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Slavistik in Gießen und wurde dort promoviert.

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