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Rechtsstaat durch Verwaltungsgerichtsbarkeit: Deutschland, Ukraine, Kasachstan

von Antje Himmelreich (Band-Herausgeber:in) Herbert Küpper (Band-Herausgeber:in)
©2022 Sammelband 302 Seiten

Zusammenfassung

Der Schutz von subjektiven Rechten des Bürgers gegen den Staat durch eine unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit ist ein zentrales Element moderner Rechtsstaatlichkeit. Bei der verwaltungsgerichtlichen Aufarbeitung von Fällen, aber auch bei der auf einer höheren Ebene angesiedelten Konzeption der Gerichtsbarkeit an sich, geht es um die Erforschung von Konflikten samt den Wegen zu ihrer rechtsstaatlichen Lösung. Die Beiträge in diesem Band befassen sich mit den ideengeschichtlichen, historischen, rechtsvergleichenden und rechtspolitischen Fragen des Verwaltungsrechtsschutzes am Beispiel von Deutschland, der Ukraine und Kasachstan. Ergänzend enthält der Band eine auszugsweise deutsche Übersetzung des im Juli 2021 in Kraft getretenen Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozessgesetzbuchs der Republik Kasachstan.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Rechtsstaat und Verwaltungsgerichtsbarkeit (Stefan Korioth)
  • Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention für die staatliche Verwaltungsgerichtsbarkeit (Robert Uerpmann-Wittzack)
  • Institutionelle Rahmenbedingungen eines unabhängigen Verwaltungsrechtsschutzes (Gerrit Manssen)
  • Nach dem Ende des Sozialismus: Wie baut man eine Verwaltungsgerichtsbarkeit auf? (Herbert Küpper)
  • Beratungshilfe für die ukrainische und die zentralasiatische Verwaltungsgerichtsbarkeit aus Sicht einer deutschen Verwaltungsrichterin (Dagmar Wünsch)
  • Beratungserfahrungen zum Verwaltungsrechtsschutz in Osteuropa und aktuelle rechtspolitische Erfahrungen in Deutschland (Christian Reitemeier)
  • Die Errichtung der Verwaltungsgerichte als eine der wichtigsten Errungenschaften der Gerichtsreform in der Ukraine (Oleksandr Pasenjuk)
  • Die Rezeption des deutschen Verwaltungsrechts in Kasachstan: Chancen und Grenzen (Vitaliy Kim)
  • Individuelle Steuerberatung als Gegenstand der Anfechtung vor dem Verwaltungsgericht (Roman Melnyk)
  • Grenzen der gerichtlichen Kontrolle über Subjekte der öffentlichen Verwaltung (Andrij Školyk)
  • Beteiligung der Öffentlichkeit an der Richterauswahl: Vertrauen Sie denen, denen vertraut wird (Mychajlo Žernakov)
  • Anhang
  • Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozessgesetzbuch der Republik Kasachstan vom 29. Juni 2020 (Auszüge) - Antje Himmelreich
  • Bearbeiter*innenverzeichnis
  • Reihenübersicht

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Stefan Korioth (München)

Rechtsstaat und Verwaltungsgerichtsbarkeit*

Das Thema verbindet eine voraussetzungsvolle und höchstrangige Legitimationsformel für staatliches Handeln – den Rechtsstaat – mit der Institution Verwaltungsgerichtsbarkeit. Es liegt auf der Hand, dass die Verwaltungsgerichtsbarkeit eine Konsequenz aus normativen Postulaten und einer Entfaltung der Rechtsstaatlichkeit ist. Mir geht es im Folgenden darum, auf welche Weise genau beide zusammenhängen. Dazu behandele ich zunächst die Idee und den normativen Gehalt des Rechtsstaats (I.), sodann die Verwaltungsgerichtsbarkeit (II.). Den dritten Schritt bilden einige Anmerkungen zum Zusammenhang beider (III.). Ich stütze mich bei allen drei Schritten vorrangig auf die deutsche Tradition und aktuelle Diskussion.

I. Rechtsstaatlichkeit

Der Rechtsstaatsbegriff lässt sich – in Europa – in den Verfassungen fast aller Staaten der Europäischen Union und seit 1990 der osteuropäischen Staaten finden. Art. 2 EUV nennt die Rechtsstaatlichkeit ausdrücklich als einen der Werte, auf die sich die Europäische Union gründet. Das Grundgesetz verwendet das Wort in Art. 23 Abs. 1 S. 1 und Art. 28 Abs. 1 S. 1 im Zusammenhang der Anforderungen an die Gestalt der Europäischen Union und an die Verfassungen der Länder. Wichtige Ausprägungen nennt Art. 20 Abs. 2 S. 2 und Abs. 3 GG. International herrscht Einigkeit darüber, dass zu einem Rechtsstaat heute bestimmte Elemente gehören: Es muss Gewaltenteilung geben, um durch die Trennung, die wechselseitige Kontrolle, aber auch Kooperationserfordernisse der drei Gewalten Machtballung und Machtmissbrauch zu verhindern. Alle staatliche Gewalt muss an das Recht gebunden sein und es muss ←9 | 10→unabhängige Gerichte geben. Gesetzgebung und Verwaltung müssen inhaltlich bestimmten Mindestanforderungen genügen, vor allem mit den Grundrechten und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip vereinbar sein. In Staaten mit geschriebenen Verfassungen geht dies in der Verfassungsbindung und dem Vorrang der Verfassung vor allen anderen Rechtsakten auf. Auch Rechte des Einzelnen mit Blick auf die Justiz, so das Gebot des gesetzlichen Richters (im Grundgesetz Art. 101), das rechtliche Gehör (Art. 103 GG) und das allgemeine Gebot der Verfahrensgleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG), zählen zur Rechtsstaatlichkeit. Häufig – nicht immer – wird auch eine Verfassungsgerichtsbarkeit, die mehr oder weniger umfassend den Vorrang der Verfassung und die Grundrechte schützt, als Teil der Rechtsstaatlichkeit angesehen.

Diese Elemente gehen allesamt auf den Beginn des modernen Verfassungsdenkens im 18. Jahrhundert zurück. Mit Montesquieu verbinden wir die gedankliche Ausformung der Gewaltenteilung, mit Rousseaus „Gesellschaftsvertrag“ (1762) die Betonung der Bedeutung des Gesetzes als Ausdruck und Grenze des demokratischen und auf das Gemeinwohl gerichteten Willens. Immanuel Kant verstand unter einer Republik die „Vereinigung von Menschen unter Rechtsgesetzen“. Dabei sind die nationalen Traditionen durchaus unterschiedlich. In England setzte sich Ende des 17. Jahrhunderts das Parlament als unbeschränkte rechtsetzende Instanz durch, bis heute gibt es keine geschriebene Verfassung. Die „rule of law“ bedeutet die Gesetzesbindung der Verwaltung und die Freiheit und Gleichheit der Bürger. In Frankreich ist bis heute die Betonung der Gewaltenteilung prägend. In den USA denkt man bei der „rule of law“ an das Konzept des „limited government“, das von den Bürgern nur mit den im Recht ausdrücklich genannten Befugnissen ausgestattet ist.

In Deutschland war der Weg etwas komplizierter. Hier wurde der monarchische Absolutismus mit geschriebenen Verfassungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts überwunden. Diese Verfassungen folgten dem „monarchischem Prinzip“: Alle Staatsgewalt lag beim Monarchen, bei der Ausübung der Staatsgewalt war er aber in einzelnen Bereichen an die Mitwirkung der Volksvertretungen gebunden. Dies betraf vor allem Eingriffe in Freiheit und Eigentum der Bürger, die nur auf gesetzlicher Grundlage erfolgen durften. Solche Gesetze konnten nur durch die Übereinstimmung von Monarch und Kammern, den Volksvertretungen, erlassen werden.1 Das schützte gesellschaftliche und individuelle Freiheit, führte aber zu einer Unterbetonung politischer Partizipation im Staat. Demokratie und Rechtsförmigkeit des Staatshandelns wurden getrennt – mit einigen Nachwirkungen bis heute.←10 | 11→

Das Wort Rechtsstaat kam um 1830 auf. Robert von Mohl, ein liberaler Staatsrechtler, beschrieb den Rechtsstaat 1840 als Staat der Vernunft im Interesse der Bürger. Die Verfassung habe die individuelle Freiheit und die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung zu sichern. Mohl rechnete zum Rechtsstaat das, was zu seiner Zeit zumeist bereits verwirklicht war: Den Gesetzesvorbehalt bei Eingriffen in Freiheit und Eigentum der Bürger, Rechtsgleichheit im Verhältnis zum Staat, eine unabhängige Justiz in Zivil- und Strafsachen sowie Haftung für staatliches Unrecht, angemessene Entschädigung bei Enteignungen. Dieses überwiegend instrumentelle Verständnis wird schon von den Zeitgenossen als „formaler Rechtsstaat“ bezeichnet. Es beherrschte die Diskussion bis zum Ende der Monarchien im Jahr 1918. Otto Mayer, der Begründer des modernen Verwaltungsrechts am Ende des 19. Jahrhunderts, definierte den Rechtsstaat als „Staat des wohlgeordneten Verwaltungsrechts“ bei „tunlichster Justizförmigkeit der Verwaltung“.

Die demokratische Republik von Weimar, der nur die viel zu kurze Zeit von 1919 bis 1933 beschieden war, verstärkte alle Elemente des instrumentellen Rechtsstaats und baute die unabhängige Justiz in die Verwaltungsgerichtsbarkeit und durch Etablierung einer Verfassungsgerichtsbarkeit aus, wenngleich letztere ohne abstrakte Normenkontrolle und Verfassungsbeschwerde auskommen musste. Die Entgegensetzung des politischen Machtzentrums des Staates, jetzt demokratisch bestimmt, und des unpolitisch verstandenen Rechtsstaats verstärkte sich jedoch. Carl Schmitt führte in seiner „Verfassungslehre“ (1928) zum Verhältnis von Staat und Bürger das „rechtsstaatliche Verteilungsprinzip“ ein, wonach die Freiheit des Bürgers grundsätzlich unbegrenzt, die Eingriffsbefugnis des Staates begrenzt sei.2

Das formelle Rechtsstaatsverständnis hat der grundgesetzliche Rechtsstaat seit 1949 hinter sich gelassen. Im Zentrum steht jetzt der inhaltlich definierte Bereich des Schutzes des Einzelnen gegen den Staat, bestehend aus den Menschenrechten, an der Spitze der Schutz der Menschenwürde nach Art. 1 GG. Der Rechtsstaat, neben anderen grundlegenden Strukturprinzipien des Staates, ist der Verfassungsänderung entzogen (Art. 79 Abs. 3 GG). Im Übrigen haben Rechtsprechung und Rechtslehre umfassende Kataloge der einzelnen verfassungsrechtlich verbürgten Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips aufgestellt.3 ←11 | 12→Dazu rechnen klassische Elemente der Gewaltenteilung und der Rechtsbindung aller öffentlicher Gewalt, insbesondere Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, ferner der heute ausdrücklich verbürgte Vorrang der Verfassung (Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 GG) und das Verbot, durch Gesetz den Wesensgehalt der Grundrechte anzutasten (Art. 19 Abs. 2 GG). Daneben seien die Elemente genannt, die für die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Verwaltungsgerichtsbarkeit besonders wichtig sind. Der Gesetzgeber steuert Verwaltung und Justiz in den Formen des Rechts. Er bestimmt im Voraus das Maß zulässiger Eingriffe und möglicher Gestaltung durch die Verwaltung. Die einschlägigen Normen müssen hinreichend klar und eindeutig sein (Bestimmtheitsgebot) und dürfen grundsätzlich nicht zurückwirken (ein absolutes Rückwirkungsverbot gilt im Strafrecht). Der im Verwaltungsrecht entwickelte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist eine zentrale weitere rechtsstaatliche Forderung. Der Justizgewährleistungsanspruch sichert den Rechtsschutz des Bürgers. Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet das Recht, mit der Behauptung der Rechtsverletzung durch die öffentliche Gewalt ein Gericht anrufen zu können. Die Gerichte müssen persönlich und sachlich unabhängig sein (Art. 97 Abs. 1 GG), ihre Tätigkeit ist nur dem Gesetz unterworfen und keiner Einwirkung der beiden anderen Gewalten ausgesetzt. Nach Art. 34 GG haftet der Staat für rechtswidrige Eingriffe der Verwaltung (Amtshaftung).

Mit einer Kurzformel lässt sich die heutige Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit damit umschreiben, dass sie das Ausmaß der Kanalisierung und Lenkung staatlicher und gesellschaftlicher Macht durch Recht, eingeschlossen die Kontrolle der Durchsetzung des Rechts, beschreibt. Gefährdungen liegen in einer übertriebenen Verrechtlichung auf der einen Seite, einem Rückzug des Rechts auf der anderen Seite. Schließlich kann Rechtsstaatlichkeit gleichsam von Innen ausgehöhlt werden, wenn das Verfassungsrecht Wünschen der Politik angepasst wird. Das einfache Gesetz ist, im Rahmen der Verfassung, das Gestaltungsmedium der Politik. Die Verfassung ist Maßstab, nicht Medium der Politik.

II. Verwaltungsgerichtsbarkeit

Die Verwaltungsgerichtsbarkeit hat die Aufgabe, die Rechtmäßigkeit der Verwaltung zu kontrollieren. Historisch ist es auffallend, dass – in Deutschland, aber nicht nur dort – unabhängige Verwaltungsgerichte sich erst deutlich später als unabhängige Zivil- und Strafgerichte durchsetzten. Diese wurden in Deutschland durchgehend in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts etabliert und erhielten wegen ihrer Unabhängigkeit den bis heute beibehaltenen Namen ←12 | 13→„ordentliche Gerichte“. Die vollständige Durchsetzung einer unabhängigen und institutionell komplett von der Verwaltung getrennten Verwaltungsgerichtsbarkeit dauerte dagegen mindestens bis zum Beginn der Weimarer Republik. Mit guten Gründen lässt sie sich aber auch erst auf die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg datieren. Für diese Verspätung der Verwaltungsgerichtsbarkeit gibt es Gründe. Die Gewährung staatlichen Rechtsschutzes zwischen Privaten ist die Kehrseite des staatlichen Gewaltmonopols und seit der frühen Neuzeit im Interesse funktionierender Staatlichkeit etabliert. Sie ist von der rechtlichen Durchdringung und Zähmung des Staates selbst, aber auch von demokratischer Partizipation der Bürger grundsätzlich nicht abhängig. Sie stellt die Autorität des Staates nicht in Frage, sondern festigt sie. Insofern tat sich auch der monarchische Staat mit der ordentlichen Gerichtsbarkeit nicht schwer. Unabhängige Strafgerichte, auch als Schwurgerichte unter Beteiligung der Bürger, waren eine der ersten Forderungen der bürgerlichen Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der dem Gesetz vorbehaltenen Grundlage für Eingriffe in die Freiheit der Bürger.

Details

Seiten
302
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631878491
ISBN (ePUB)
9783631880029
ISBN (Hardcover)
9783631814666
DOI
10.3726/b19877
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (September)
Schlagworte
Verwaltungsreform Verwaltungskontrolle Individualrechtsschutz Verwaltungsgerichte Gewaltenteilung Verwaltungsprozess Rechtsstaatlichkeit Judikative Verwaltungsrechtschutz Exekutive
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022.

Biographische Angaben

Antje Himmelreich (Band-Herausgeber:in) Herbert Küpper (Band-Herausgeber:in)

Antje Himmelreich ist wissenschaftliche Referentin für russisches und ukrainisches Recht am Institut für Ostrecht München. Herbert Küpper ist Geschäftsführer des Instituts für Ostrecht München und wissenschaftlicher Referent für ungarisches und kosovarisches Recht. Er lehrt vergleichendes öffentliches Recht und Ostrecht an der Andrássy Universität Budapest (AUB) sowie Rechtsübersetzung (deutsch/ungarisch) an der Universität Szeged.

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Titel: Rechtsstaat durch Verwaltungsgerichtsbarkeit: Deutschland, Ukraine, Kasachstan