Mikrokosmen. Ästhetische Formen und diskursive Figurationen einer Repräsentativität des Partikularen
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Einleitung (Frieder von Ammon / Michael Waltenberger)
- Das Allgemeine im geschichtlich Besonderen. Eine Grundfrage des Historismus in der Antike (Jonas Grethlein)
- ‚Mikrokosmen‘ exemplarischen Erzählens. Zur Funktion der genera narrationis bei Äsop, Valerius Maximus und Petrus Alfonsi (Udo Friedrich)
- Hermeneutische und formale Zugänge zur Kulturgeschichte des Widerstreits. Prudentius und Hartmann von Aue – Augustinus und Otto von Freising (Bent Gebert)
- Episteme der Ähnlichkeit? Zur Konjunktur von Mikrokosmosvorstellungen im 16. Jahrhundert am Beispiel der pseudoparacelsischen Aurora Philosophorum (Tobias Bulang)
- “Under Their Head Embodied All in One”. The Representational Production of Cosmic Order in John Milton’s Paradise Lost (Björn Quiring)
- Fliege und Moose. Physikotheologie bei Brockes und Stifter (Eva Geulen)
- Hinter den Bergen, im Mittelalter. Oberammergau und sein Passionsspiel im 19. Jahrhundert (Jan Mohr)
- Was sind Mikrotopoi? Mit einem Exkurs zur literarischen Anthropologie des Liftboys (Christian Kirchmeier)
- „Es klirren Töne aneinander“. Béla Bartóks Mikrokosmos und der Weg in eine neue Tonalität (Andreas Puhani)
- Die Produktivität des Restes. Alexander Kluges Prosasammlungen und Benjamins Passagenarbeit (Susanne Komfort-Hein)
- Großes und Kleines bei Karl Ove Knausgård und Elena Ferrante (Julika Griem)
- Die Autorinnen und Autoren
- Reihenübersicht
Frieder von Ammon/Michael Waltenberger
Einleitung
Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die im April 2016 in den Räumen des Forschungskollegs Humanwissenschaften in Bad Homburg stattgefunden hat. Dafür, dass er jetzt mit einer so großen Verspätung erscheint, gibt es mehrere äußerliche Gründe, von denen die Corona-Pandemie der gravierendste ist. Wir bedauern diese Verzögerung.
Anlass der Tagung war eine Veränderung in der Herausgeberschaft dieser Buchreihe. Nachdem ihr Gründer Wolfgang Harms 2015 zu der Entscheidung gekommen war, die Funktion als Reihenherausgeber nach 40 Jahren und 81 Bänden aufzugeben, und nicht lange danach auch sein Mitherausgeber Peter Strohschneider diesen Schritt vollzogen hatte, kam es mit der Übergabe der Herausgeberschaft an uns zu einem Generationswechsel, der auch eine konzeptuelle Neuausrichtung mit sich brachte. Sie wird markiert durch den neuen Untertitel der Reihe: Lautete er bisher „Beiträge zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung“ (wobei der zweite Begriff sowohl die akademische Genealogie der Reihe indizierte als auch ihren theoriegeschichtlichen Ausgangspunkt markierte), so steht an dieser Stelle jetzt „Beiträge zur germanistischen und allgemeinen Literaturwissenschaft“. Damit ist zum einen eine Ausweitung des historischen Skopus verbunden, der sich bisher vor allem auf mittelalterliche und frühneuzeitliche Themenbereiche richtete. Selbstverständlich gilt Arbeiten zu vormodernen Texten auch weiterhin unsere besondere Aufmerksamkeit; aber es werden nun auch Untersuchungen zu Gegenständen im gesamten Bereich der (deutschen) Literaturgeschichte von ihren Anfängen bis in die Gegenwart aufgenommen. Zum andern akzentuiert der neue Untertitel den Anspruch der Reihe, bevorzugt solche Bände zu präsentieren, deren Beobachtungseinstellungen und Thesen nicht allein für die germanistische Literaturgeschichte von Belang sind, sondern darüber hinaus auch für die allgemeine Literaturwissenschaft interessant sein können – indem sie nämlich deutschsprachige Literatur in größeren literarischen und kulturellen Kontexten betrachten und indem sie durch avancierte theoretische und methodische Reflexion in interdisziplinären Gesprächszusammenhängen Impulse zu liefern vermögen.
Im Sinne dieser Neuausrichtung wollten wir auf der Bad Homburger Tagung die vormoderne Denkfigur des Mikrokosmos (auf die das Cover unserer Reihe ←7 | 8→mittels einer prägnanten Visualisierung des frühen 17. Jahrhunderts verweist) zum paradigmatischen Anlass nehmen, um einerseits epistemische und poetische Formen nachzuvollziehen, in denen zwischen Antike und Gegenwart unter wechselnden historischen Bedingungen dem Partikularen eine repräsentative Wiederkehr bzw. Einholung konstitutiver Eigenschaften oder Ordnungsstrukturen des Ganzen zuerkannt werden kann; zugleich verbanden sich andererseits diese historischen Perspektiven mit systematischen Fragen, die nach dem Schwinden der kosmo- und anthropologischen Erklärungskraft des Paradigmas zumindest den historisch-hermeneutischen Wissenschaften der Moderne als theoretische und methodische Herausforderung aufgegeben bleiben. Um dies zu diskutieren, hatten wir Vertreterinnen und Vertreter der Gräzistik, der Alt- und Neugermanistik, der Anglistik und der Musikwissenschaft nach Bad Homburg eingeladen. Die Resonanz auf unsere Einladung war erfreulicherweise so positiv wie die Vorträge und Diskussionen der Tagung ergiebig waren – und die Beiträge zu unserem Bandes spiegeln das facettenreich wieder.
So reflektiert Jonas Grethlein im Blick auf unterschiedliche Vorstellungen von Geschichtlichkeit bei Aristoteles und Thukydides systematische Aspekte einer anhaltend kontrovers beantworteten Grundfrage der Geschichtstheorie: Ist das einzelne Ereignis als wiederholbares Resultat einer historischen Gesetzmäßigkeit zu denken (Positivismus)? Oder zeigt sich in seiner Einzigartigkeit ein historisch Allgemeines (Historismus)? Weder die aristotelische Auffassung noch die historiographische Praxis des Thukydides lassen sich ohne weiteres mittels einer derart kontradiktorischen Gegenüberstellung fassen; deutlich wird zudem, wie sehr die historische Wissenschaft für die notwendige Vermittlung zwischen Allgemeinem und Besonderem auf die Narration als adäquaten Modus angewiesen ist. – Epistemischen Eigenwert erkennt Udo Friedrich auch vormodernen kurzepischen Formen zu: An den äsopischen Fabeln und den Historien des Valerius Maximus sowie an der Exempelkollektion des Petrus Alfonsi lassen sich je charakteristische Spannungsverhältnisse zwischen den Einzeltexten und dem seriellen Arrangement der Sammlung beobachten. In der Pluralität ihrer repräsentativen Bezugnahmen konturiert sich ein ‚mittleres‘ Allgemeines, das nicht auf abstrakte Normativität zu reduzieren ist, sondern topisch organisiert ist und nicht Wahrheits-, sondern Wahrscheinlichkeitsgeltung im Horizont des common sense beansprucht. – Der Blick auf die Vormoderne wird ergänzt durch eine Studie von Bent Gebert, die zusätzlich zu den Tagungsbeiträgen in den Band aufgenommen wurde: Seine Lektüren von Narrativen widerstreitender seelischer Instanzen einerseits (Prudentius und Hartmann von Aue), von Konzepten widerstreitender universalgeschichtlicher Prinzipien andererseits (Augustinus und Otto von Freising) machen jeweils eine generalisierbare ←8 | 9→Unterscheidung zwischen evolutiven und involutiven Modellierungen einer Ganzheit aus der Differenz plausibel. Die abstrakte Darstellung dieser konträren Typen nach den Regeln von Spencer-Browns Formkalkül dient anschließend dazu, Chancen einer effizienten methodischen Koppelung hermeneutischer und nicht-hermeneutischer (mithin also auch quantifizierender digitaler) Methoden zu erproben.
Die beiden folgenden Aufsätze beobachten in kritischer Auseinandersetzung mit Foucault epistemische Überlagerungen und Ungleichzeitigkeiten auf der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit: So kann man, wie Tobias Bulang zeigt, zwar an der frühneuzeitlichen Signaturenlehre und an der hermetischen Aktualisierung der mikrokosmischen Denkfigur etwa in der (pseudo)paracelsischen Aurora Philosophorum durchaus das Fortwirken einer Episteme der ‚Ähnlichkeit‘ konstatieren. Zugleich muss man aber einerseits differenzierter das Nebeneinander restaurativer und innovativer Momente innerhalb dieser Diskursformationen wahrnehmen und andererseits deren eher marginale Relevanz im zeitgenössischen Wissenssystem zu Kenntnis nehmen. – An John Milton Paradise Lost, näherhin besonders an der Sündenfallszene, beschreibt Björn Quiring, wie die Denkfigur einer Wiederkehr des Ganzen im Partikularen, welche anthropologisch die conditio humana nobilitieren kann, hier in eine theologisch paradoxe Figuration umgemünzt wird: Miltons Gott kann mit dem kosmisch Ganzen identifiziert werden und muss seine Macht innerhalb der naturrechtlich organisierten Schöpfung dennoch personal und dezisionistisch durch einen rechtssetzenden Verbotsakt behaupten. Der Horizont einer allumfassenden Ordnung wird damit nicht geleugnet, rückt aber in eine Transzendenz außerhalb des episch Darstellbaren. – Noch stärker als bei Milton präsentieren die zwei von Eva Geulen untersuchten Beispieltexte des 18. und 19. Jahrhunderts ihre Veranschaulichungen einer makrokosmischen Weltordnung im Partikularen als poetische Erkenntnismöglichkeit. So ist es in einem Gedicht von Barthold Heinrich Brockes nicht eigentlich der faszinierend komplexe Organismus der titelgebenden kleinen Fliege selbst, deren Anblick zur Erkenntnis Gottes im Partikularen der Natur führt; vielmehr provoziert die spezifische poetische Struktur des Textes einen emphatischen Moment intensiver ästhetischer Erfahrung der Konvergenz von Mikro- und Makrokosmos. In Adalbert Stifters Erzählung Der Kuss von Sentze hingegen erzeugen extensive Beschreibungen der unendlich vielfältigen, dabei aber unscheinbar-eintönigen ‚kleinen‘ Natur lediglich ex negativo – als poetischer Modus einer Theologie der Sinnleere – eine unartikulierbare Ahnung vom Großen und Ganzen.
Moderne Transpositionen des Paradigmas kommen in den Beiträgen von Jan Mohr und Christian Kirchmeier zunächst als Konzeptualisierungen ←9 | 10→soziologisch-topologisch bestimmbarer Sonder-Orte in den Blick, die auf eigenartige Weise konstitutive Differenzen der Gesamtgesellschaft ‚mikrokosmisch‘ repräsentieren. Da universale Bestimmbarkeit und Verbindlichkeit ‚makrokosmischer‘ Bezugsgrößen wie Welt, Kultur, Natur oder Gesellschaft schwinden, treten zwei Aspekte der Denkfigur zunehmend als problematische hervor. So wird zum einen die externe – ekstatische oder transzendentale – Position des Beobachtenden, Wahrnehmenden oder Deutenden prekär, von der aus eine repräsentative Bezugnahme des Kleinen auf das Große, des Teils auf das Ganze, des Besonderen auf das Allgemeine überhaupt noch plausibel behauptet werden kann. Und zum andern wird es schwierig, die potenziell wiederholbare Rekursivität der Wiederkehr eines Ganzen in sich selbst stillzulegen. Jan Mohr adaptiert vor diesem Hintergrund Foucaults Begriff der Heterotopie, um zu zeigen, wie seit dem 19. Jahrhundert im entlegenen Passionsspielsort Oberammergau gesamtgesellschaftlich relevante Differenzierungen wie auch kulturelle Ungleichzeitigkeiten in miniaturhafter Prägnanz hervortreten. Die Widersprüche zwischen der im theatralen Spiel prätendierten religiösen Authentizität und ihrer medialen und ökonomischen Nutzung werden dabei durchaus reflektiert und publizistisch bewusstgehalten: Sie gehören zur Eigenlogik des Orts und widerstreben deren ‚mikrokosmisch‘ repräsentativer Zurechnung auf ein – etwa nationales – Ganzes. – Auch Christian Kirchmeier nimmt Aspekte der Heterotopie auf und führt sie auf der Basis einer systemtheoretischen Definition sozialer Interaktion mit Marc Augés Idee der ‚Nicht-Orte‘ zum neuen Konzept des ‚Mikrotopos‘ zusammen: Er zielt auf charakteristische soziale Situationstypen einer zeitlich begrenzten, körperlichen Anwesenheit kontingent gruppierter Personen auf engem Raum, in dem Kommunikation nicht vermieden werden kann und soziokulturelle Unterschiedlichkeit deshalb durch habituelle Indifferenz suspendiert werden muss. Obwohl es solche Zwischen-Räume auch in vormodernen Gesellschaften gegeben hat, formen sich erst unter den Bedingungen gesteigerter Mobilität und verdichteter Verkehrsinfrastrukturen in der Moderne – etwa im Omnibus oder im Eisenbahnabteil – charakteristische Interaktionsformen aus. Zugleich gewinnen solche Räume dabei eine soziale Repräsentativität, die nicht zuletzt auch literarisch (und filmisch) ausgestaltet und reflektiert wird. Kirchmeier zeigt dies im Blick auf Texte von Joseph Roth, Thomas Mann und Vicki Baum an literarischen Inszenierungen des Hotel-Fahrstuhls als eines Innenraums, in dem nicht nur soziale Differenziertheit mikrotopisch prägnant wiederkehrt, sondern in dem gerade deren transitorische Suspendierung zugleich auch Chancen individueller Identitätskonstitution eröffnet.←10 | 11→
Die Frage nach der Möglichkeit einer mikrokosmischen Repräsentation von Geschichte, die bereits im ersten Beitrag des Bandes gestellt worden ist, kehrt in Andreas Puhanis aufschlussreicher Analyse eines für die musikalische Moderne zentralen Werks wieder: Die Serie musikalischer Miniaturen in Béla Bartóks zwischen 1926 und 1937 entstandenem Mikrokozmosz entwickelt nicht nur, seiner pädagogischen Intention gemäß, aus elementaren musikalischen Figuren stetig komplexere, sondern vollzieht dabei zugleich – nicht in konkreter allusiver Imitation, sondern abstrahiert zur strukturellen Essenz – den musikhistorischen Prozess der Ausdifferenzierung europäischer Polyphonie bis hin zur Auflösung des traditionellen tonalen Systems nach. – Die Vorstellung einer mikrokosmisch konzentrierten Darstellbarkeit von Geschichte liegt auch Walter Benjamins im selben Zeitraum entstandenen Passagenwerk zugrunde: An die Stelle der teleologisch abgeschlossen ‚großen Erzählung‘ tritt ein heterogenes Aggregat aufgesammelter kleiner ‚Reste‘, das jedoch in einem emphatischen Erkenntnismoment als „Kristall des Totalgeschehens“ eine Wirksamkeit des Geschichtlichen in der Gegenwart erfahrbar machen soll. Susanne Komfort-Hein stellt dieser modernen Anverwandlung der mikrokosmischen Denkfigur deren radikale Übersteigerung bei Alexander Kluge gegenüber: Die montierten textuellen bzw. medialen Fragmentstücke bleiben Singularitäten, die auf die Möglichkeit alternativer Verläufe und Perspektiven verweisen – eine dekonstruktive Logik, in der das historisch Große und Bedeutsame stets unter dem Vorbehalt einer irreduzibel kontingenten Ereignishaftigkeit wahrzunehmen ist. – Mit dem letzten Kapitel des Bandes wird der Fokus von mikrokosmisch gedachter Geschichtlichkeit auf gegenwartsliterarische Formen der extensiv auserzählten Lebensgeschichte überführt: Julika Griem zeigt zunächst an Karl Ove Knausgårds minutiös detaillierender Verschriftung des eigenen Lebens Effekte der Entdifferenzierung und Enthierarchisierung, die zwar ästhetische Effekte der Immersion und einer besonderen Zeiterfahrung evozieren, aber Wesentliches kaum mehr vom Unwesentlichen unterscheiden lassen. Die mikroskopisch mitzuvollziehenden Lebensverläufe fügen sich nicht zu einem übergeordneten Sinn; das Ganze des protokollierten Lebens ist in der Bedeutsamkeit der monumentalen Materialität der Bücher aufgehoben. Etwas anders verhält es sich mit Elena Ferrantes ebenso monumentaler Neapolitanischer Romantetralogie, die von einer konventionelleren Spannungsdramaturgie geprägt ist und über Jahrzehnte hinweg in Strukturen der Doppelung und in der Ausgestaltung sozialer Komplexität ein historisches Paralleluniversum konstruiert. Auch hier aber werden Ansätze zu rahmender, schließender Formgebung immer wieder prononciert überschritten und durchbrochen, so dass die LeserInnen sich ←11 | 12→schließlich lediglich mit Fragmenten eines unverfügbaren makrokosmischen Ganzen konfrontiert sehen.
Zu einem Ganzen können und sollen selbstredend auch die Beiträge des vorliegenden Bandes sich nicht fügen. Sie entwerfen aber ein Bündel von Perspektiven, die sich hoffentlich insoweit als übertragbar und generalisierbar erweisen, dass sie nicht nur in germanistischen Mikrokosmen, sondern darüber hinaus auch in weiteren, disziplinär ferneren Diskussionszusammenhängen Impulse zu liefern vermögen. Damit wäre nicht zuletzt auch einem Anliegen entsprochen, welches die wissenschaftlichen Tätigkeiten des Reihengründers wesentlich geprägt hat. Im Oktober 2021 ist Wolfgang Harms verstorben; seinem Andenken sei dieser Band gewidmet.
Es bleibt die angenehme Pflicht des Dankens: der Thyssen Stiftung für Ihre großzügige Förderung der Tagung und dem Forschungskolleg Humanwissenschaften für die Überlassung ihrer Räumlichkeiten, natürlich den Beiträgerinnen und Beiträgern, nicht zuletzt für Ihre Geduld und Bereitschaft, ihre Aufsätze noch einmal auf den aktuellen Stand zu bringen, sowie den MitarbeiterInnen und Hilfskräften, die bei der redaktionellen Betreuung des Bandes mit großem Einsatz mitgewirkt haben, allen voran Anna Chalupa-Albrecht und Immanuel Bach.
Leipzig und München, Januar 2022
Das Allgemeine im geschichtlich Besonderen
Eine Grundfrage des Historismus in der Antike1
Es ist eine hermeneutische Grundeinsicht, dass wir einen Teil nur im Horizont seines Ganzen verstehen können. Ebenso wie die Kenntnis eines Ganzen die Vertrautheit mit seinen Teilen voraussetzt, können wir diese Teile nicht erfassen, ohne einen Begriff vom Ganzen zu haben. Zugleich ist es verführerisch, im Teil das Ganze sehen zu wollen. Dann spiegelt sich im Besonderen das Allgemeine, das Universelle kann aus dem Individuellen abgelesen werden. Neben der Herausforderung des hermeneutischen Zirkels steht die Verheißung des Mikrokosmos. Ebenso wie der hermeneutische Zirkel kann auch der Gedanke des Mikrokosmos verzeitlicht und auf die Geschichte angewandt werden. Sind einzelne Ereignisse nur als Teil des uns noch unbekannten Gesamtverlaufs der Geschichte voll erfassbar, ist unser Zugriff auf sie eingeschränkt.2 Dagegen weckt die Idee des Mikrokosmos die Hoffnung, bereits im einzelnen Ereignis das Ganze der Geschichte greifen zu können.
Eine derartige Epiphanie der Gesamtgeschichte im Moment ist ein ebenso kühner wie außerhalb der Geschichtstheologie seltener Gedanke.3 Hier soll es um eine abgemilderte Form des Allgemeinen im geschichtlich Besonderen gehen. Sind Ereignisse einzigartig oder offenbart sich in ihnen Allgemeines, das sich in der Geschichte wiederholt und vielleicht sogar als gesetzmäßig verstanden werden kann? Daran schließt sich die Frage nach dem Sinn von Vergleichen ←13 | 14→an. Man kann ein jegliches kontrastiv vergleichen, aber Historiker, die im einzelnen Ereignis allgemeine Faktoren am Werk sehen, werden eher auf einen Vergleich zurückgreifen als solche, die das Einmalige erkennen möchten. Damit verbunden ist auch die Frage nach dem prognostischen Potential der Geschichte. Liegt dem individuellen Ereignis etwas Allgemeines zugrunde, dann kann man mit Hilfe der Vergangenheit versuchen, die Zukunft vorherzusagen.4
Details
- Seiten
- 294
- Erscheinungsjahr
- 2022
- ISBN (PDF)
- 9783631878934
- ISBN (ePUB)
- 9783631878941
- ISBN (Hardcover)
- 9783631876466
- DOI
- 10.3726/b19879
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2022 (August)
- Schlagworte
- Ganzheit Makrokosmos Detail Rest Fragment Geschichtsschreibung Narratologie Paracelsismus Historismus Physikotheologie
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 294 S., 5 farb. Abb., 24 s/w Abb.
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