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Wirtschaftliche Verursachung versus rechtliche Entstehung bei ungewissen Verbindlichkeiten

by René Alexander Kern (Author)
©2022 Thesis 278 Pages

Summary

Für die Prüfung eines Ansatzes von Verbindlichkeitsrückstellungen erweist sich die wirtschaftliche Verursachung der Verbindlichkeit als besonders schwer greifbar. Hierauf basierend hat sich neben einer umfassenden Kasuistik auch eine Kontroverse in der Fachliteratur gebildet. Die Linie des BFH ist dabei meist schwer von den konkret entschiedenen Fällen abstrahierbar. Einheitliche Maßstäbe betreffend die generelle Präzisierung der wirtschaftlichen Verursachung bestehen daher bis heute nicht. Die Arbeit unternimmt den Versuch, ausgehend von steuerrechtlichen und bilanzrechtlichen Grundlagen, sowohl auf die Frage nach der Relevanz der wirtschaftlichen Verursachung als auch nach deren inhaltlicher Ausgestaltung Antworten herzuleiten und schließlich hieraus einen abweichenden Lösungsansatz zu kreieren.

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsübersicht
  • Inhaltsverzeichnis
  • Teil I Einleitung
  • A. Problemstellung
  • B. Gang der Untersuchung
  • Teil II Grundlagen
  • A. Verhältnis von Handelsbilanz und Steuerbilanz
  • I. Einführung
  • II. Grundsatz der Maßgeblichkeit gem. § 5 Abs. 1 S. 1 EStG
  • 1. Entstehungsgeschichte
  • 2. Zweck der Maßgeblichkeit
  • 3. Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung
  • a) Gesetzliche Regelung
  • b) Begriff
  • c) Zweck
  • d) Herleitung
  • e) Rechtsnatur
  • 4. Folgen aus der Maßgeblichkeit
  • 5. Einschränkungen der Maßgeblichkeit
  • a) Gesetzmäßigkeit der Besteuerung
  • b) Bedeutung des Leistungsfähigkeitsprinzips
  • c) Gleichmäßigkeit der Besteuerung
  • III. Zusammenfassende Stellungnahme
  • B. Bilanzen als Objekte juristischer Betrachtung
  • I. Sinn und Zweck der Bilanz
  • 1. Handelsbilanz
  • a) Informationsfunktion
  • aa) Dokumentation
  • bb) Selbstinformation der Unternehmensleitung
  • cc) Information der Kapitalgeber
  • dd) Information sonstiger Interessenten
  • b) Zahlungsbemessungsfunktion
  • aa) Zahlungsbemessung im Dienste des Gläubigerschutzes
  • bb) Zahlungsbemessung im Sinne einer Ausschüttungssicherung
  • 2. Steuerbilanz
  • 3. Zusammenfassende Stellungnahme
  • II. Bilanz im Rechtssinne
  • 1. Einführung
  • 2. Begriff
  • 3. Schlussfolgerung
  • III. Wirtschaftliche Betrachtungsweise
  • 1. Einführung
  • 2. Wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht
  • a) Entwicklung einer Kodifizierung
  • b) Wirtschaftliche Betrachtungsweise in den einzelnen Steuerarten
  • aa) Steuern vom Einkommen, Ertrag und Vermögen
  • bb) Erbschaft- und Schenkungssteuer
  • cc) Verkehrssteuern
  • c) Gehalt der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Steuerrecht
  • aa) Auslegung des Tatbestandes
  • bb) Sachverhaltsbeurteilung
  • 3. Wirtschaftliche Betrachtungsweise im Zivilrecht
  • a) Wirtschaftliche Betrachtungsweise in der zivilrechtlichen Literatur
  • b) Wirtschaftliche Betrachtungsweise in der Rechtsprechung
  • 4. Wirtschaftliche Betrachtungsweise im Bilanzrecht
  • a) Einführung
  • b) Wirtschaftliche Betrachtungsweise in der Rechtsprechung
  • c) Inhalt und Grenzen der wirtschaftlichen Betrachtungsweise
  • IV. Bilanztheorie
  • 1. Einführung
  • 2. Statische Bilanztheorie
  • a) Bilanzzweck nach statischer Interpretation
  • b) Schuldendeckungspotential als objektiviertes Zerschlagungsvermögen
  • aa) Grundgedanke
  • bb) Kritik
  • c) Schuldendeckungspotential als subjektives Fortführungsvermögen
  • aa) Grundgedanke
  • bb) Kritik
  • 3. Dynamische Bilanztheorie
  • a) Bilanzzweck nach dynamischer Interpretation
  • b) „Gewinn“ im Sinne der dynamischen Theorie
  • aa) Anknüpfen an das „Einkommen“
  • (1) Konzeption des „Einkommens“
  • (2) Kritik an der Einkommenskonzeption
  • bb) Anknüpfung an den „bilanziellen Periodengewinn“
  • (1) Konzeption des „Periodengewinns“
  • (a) Grundlagen, insbesondere die „Periodenleistung“
  • (b) Periodenaufwand
  • (2) Gehalt des „Periodengewinns“ als entscheidende Maßgröße
  • cc) Schmalenbachs Bilanzlehre
  • (1) Grundkonzeption
  • (2) Beurteilung
  • 4. Bilanztheorie im geltenden Bilanzrecht
  • a) Bilanztheorie des heute geltenden Bilanzrechts nach Beurteilung in der Literatur
  • b) Bilanztheorie in der Rechtsprechung
  • c) Stellungnahme
  • V. Bilanzierungsgrundsätze
  • 1. Einführung
  • 2. Verhältnis der Grundsätze zueinander
  • 3. Vorsichtsprinzip
  • a) Vorsichtsprinzip als eigenständiger Bilanzierungsgrundsatz
  • aa) Ursprung und ältere Deutung
  • bb) Gehalt des Vorsichtsprinzips
  • b) Imparitätsprinzip
  • c) Realisationsprinzip
  • aa) Ursprung und Bedeutung für die Untersuchung
  • bb) Inhalt des Realisationsprinzips
  • (1) Ertragsrealisation
  • (2) Aufwandsrealisation
  • (a) Wortlautargument
  • (b) Realisationsprinzip im Kontext des Vorsichtsprinzips oder als umfassendes Periodisierungsprinzip
  • (aa) Allgemeines Periodisierungsprinzip
  • (i) Behandlung des Periodisierungsprinzips in der Literatur
  • (ii) Zusammenfassung
  • (bb) Realisationsprinzip im Kontext des Vorsichtsprinzips
  • (c) Abschließende Stellungnahme zur Einordnung des Realisationsprinzips
  • 4. Vollständigkeit und Verrechnungsverbot
  • a) Vollständigkeit
  • aa) Grundlagen
  • bb) Passivierungsgrundsatz
  • (1) Einordnung und Anforderungen
  • (2) Erfordernis der wirtschaftlichen Belastung
  • (a) Wirtschaftliche Belastung als Tatbestandsmerkmal des Passivierungsgrundsatzes
  • (b) Wirtschaftliche Belastung im Sinne eines Periodisierungsprinzips
  • b) Verrechnungsverbot
  • Teil III Rückstellungen
  • A. Einleitung
  • B. Einordnung von Rückstellungen
  • I. Gesetzliche Regelung
  • II. Aufgabe
  • III. Abgrenzungen zu anderen Bilanzpositionen sowie Abschreibungen
  • 1. Verbindlichkeiten
  • 2. Rücklagen
  • 3. Rechnungsabgrenzungsposten
  • 4. Abschreibungen
  • IV. Einordnung in die Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung
  • 1. Einordnung in das Vorsichts- und Periodisierungsprinzip
  • 2. Einordnung in das Vollständigkeitsgebot
  • V. Einordnung in die Bilanztheorie
  • C. Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten
  • I. Einordnung in § 249 HGB
  • II. Voraussetzungen für den Ansatz von Verbindlichkeitsrückstellungen
  • 1. Arten von Verbindlichkeitsrückstellungen
  • 2. Unstreitige Voraussetzungen
  • 3. „Wirtschaftliche Verursachung“ als Ansatzkriterium
  • a) Einführung
  • b) Rechtsprechung des BFH
  • aa) Alternativverhältnis von wirtschaftlicher Verursachung und rechtlicher Entstehung
  • bb) „Wirtschaftliche Verursachung“ als selbstständiges Ansatzkriterium
  • cc) Zusammenfassung
  • c) Ansichten in der Literatur
  • aa) Alimentationsthese
  • (1) Konstruktion
  • (2) Kritik
  • bb) Stellungnahme
  • 4. Inhalt der wirtschaftlichen Verursachung
  • a) Einführung
  • b) Zweck des Merkmals, insbesondere Abgrenzung zur „Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme“
  • aa) Bedeutung innerhalb des Tatbestandes
  • bb) Wahrscheinlichkeit – insbesondere – der Inanspruchnahme
  • (1) Inhalt und Bedeutung
  • (2) Exemplarische Darstellung der Zuordnungsproblematik an Hand besonderer Fallkonstellationen
  • (aa) Einführung
  • (bb) Verjährte Verbindlichkeiten
  • (cc) Fälle des Rangrücktritts
  • (i) BFH I R 100/10
  • (ii) BFH I R 44/14
  • (iii) Analyse der Entscheidungen
  • (iv) Historische Einordnung
  • (v) Folgerungen
  • (dd) Behandlung noch nicht erfüllter Verbindlichkeiten nach Auflösung einer Kapitalgesellschaft
  • (3) Sondertatbestandsmerkmale bei öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen
  • c) Rechtsprechung des BFH
  • aa) Statisch geprägter Interpretationsansatz
  • bb) Dynamisch geprägter Interpretationsansatz
  • cc) Entscheidung des IV. Senats vom 17.10.2013 (IV R 7/11)
  • (1) Bedeutung und historischer Zusammenhang
  • (2) Ergebnis und Folgen der Entscheidung
  • (3) Kritik
  • d) Ansichten in der Literatur
  • e) Stellungnahme
  • Teil IV Alternative inhaltliche Ausfüllung
  • A. Kritische Würdigung bisher entschiedener markanter Fälle
  • I. Rekultivierungsverpflichtungen im weiteren Sinne
  • II. Handelsvertreter-Ausgleichsanspruch
  • III. Jahresabschlusskosten
  • B. Eigener Interpretationsansatz
  • I. „Unentziehbarkeit“ als Ausdruck der wirtschaftlichen Verursachung
  • 1. Einführung
  • 2. Begriff der „Unentziehbarkeit“ im Bilanzrecht
  • 3. Vorteil des Begriffs der „Unentziehbarkeit“
  • II. Maßgebliche Beurteilung aus Sicht eines fiktiven Käufers des Gesamtunternehmens
  • 1. Fiktiver Käufer als Objektivierungsmittel
  • 2. Kaufpreisfindung mittels Unternehmensbewertung
  • 3. Parallele zur vorliegenden Problematik
  • III. Prognostiziertes zukünftiges Unternehmensgeschehen
  • IV. Anwendungsbeispiele
  • 1. Rekultivierungsverpflichtungen im weiteren Sinne
  • 2. Handelsvertreter-Ausgleichsanspruch
  • 3. Jahresabschlusskosten
  • Teil V Schlussfolgerungen
  • A. Ausblick
  • B. Zusammenfassung der Ergebnisse
  • Literatur- und Rechtsprechungsverzeichnis
  • A. Literaturverzeichnis
  • B. Rechtsprechungsverzeichnis

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A. Problemstellung

Rückstellungen gehören ohne Zweifel zu den meist diskutierten Bilanzposten im deutschen Handels- und Steuerrecht. Dies ist die Folge der großen praktischen Relevanz dieses Passivum für den Bilanzierenden1, sowohl im Steuer- als auch im Handelsbilanzrecht.

So kann Kapital, teils erheblichen Ausmaßes, auf der Passivseite zurückgestellt werden und hierdurch die Darstellung der Vermögenslage des Kaufmanns nach außen, aber auch die Ausschüttungsbemessung nach innen, stark beeinträchtigen. Auf der anderen Seite besteht die Möglichkeit Steuerstundungseffekte zu erzielen, welche in der Regel die Finanzierung des Kaufmanns vereinfachen.

Aufgrund der erheblichen Auswirkungen von Rückstellungen auf die Aussage der Bilanz im Ganzen und die damit einhergehenden weitreichenden Folgen in gesellschaftsrechtlicher, wie auch steuerrechtlicher Hinsicht, besteht ein allseitiges Interesse an der Objektivierbarkeit bezüglich Ansatz und Bewertung.

Um die Voraussetzungen für den Rückstellungsansatz hinreichend klar aus den gesetzlichen Vorschriften entnehmen zu können, wäre ein hinreichend eindeutiges Gesetz notwendig.

Einer abstrakt generellen Regelung ist jedoch stets ein gewisser Interpretationsrahmen immanent, sodass sich auch in der bilanzrechtlichen Literatur vielerlei Streitpunkte finden lassen.

Innerhalb der „Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten“ gem. § 249 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 HGB, auch Verbindlichkeitsrückstellungen genannt, ist das Merkmal der „wirtschaftlichen Verursachung“ besonders umstritten. Es handelt sich hierbei um eine gängige Begrifflichkeit um den für eine Passivierung notwendigen Vergangenheitsbezug von durch Verbindlichkeiten vermittelten Aufwand zu umschreiben. Eine Schuld muss sich, soll sie zum Stichtag in der Bilanz angegeben werden, auf die Rechnungsperiode vor dem Bilanzstichtag beziehen, da andernfalls eine Rechtfertigung fehlen würde, weshalb sie die Rechnungslegung dieser Periode beeinflussen sollte.

Dabei ist der Frage nach diesem Bezug zur Rechnungsperiode im Hinblick auf Rückstellungen, sollen sie ohnehin schon ungewisse Verbindlichkeiten abbilden, eine spezielle Brisanz immanent.

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Eine Besonderheit dieser Problematik ist, dass der gespaltenen Literatur eine fast ebenso gespaltene höchstrichterliche Rechtsprechung zur Seite steht.

Die „wirtschaftliche Verursachung“ stellt zwar kein Merkmal des gesetzlichen Tatbestandes dar, jedoch ist sie als – jedenfalls hinreichende – Voraussetzung für die Rückstellungsbildung in Rechtsprechung und Literatur unumstritten. Sie wirft dabei zwei eng miteinander verknüpfte Problemkreise auf. Zum einen wird die Auslegung dieses Merkmals unterschiedlich vorgenommen, zum anderen besteht weder in der Rechtsprechung noch in der Literatur Einigkeit darüber, wann es auf dieses Merkmal ankommt, ob es sich also um eine notwendige Voraussetzung für den Rückstellungsansatz handelt. Beide Aspekte fußen auf divergierenden Ansichten zu einer Vielzahl bilanzrechtlicher Grundsätze und zwingen hinsichtlich der vorliegenden Bearbeitung zu einem fachlich sehr breiten Prüfungsumfang.

Der BFH, welcher aufgrund der Regelung des § 5 Abs. 1 S. 1 EStG auch für das Bilanzrecht des HGB als maßgebendes Gericht anzusehen ist2, greift auf verschiedene Formulierungen zurück um die Interpretation der „wirtschaftlichen Verursachung“ zu bewerkstelligen.

So soll eine Verbindlichkeit einerseits dann im abgelaufenen Wirtschaftsjahr wirtschaftlich verursacht sein, wenn diese so eng mit dem betrieblichen Geschehen des abgelaufenen Wirtschaftsjahres verknüpft ist, dass sie als eine bereits am Bilanzstichtag bestehende Verbindlichkeit angesehen werden kann, was der Fall sei, wenn der Tatbestand, an den das Gesetz die Verpflichtung knüpft, im Wesentlichen verwirklicht ist, wobei wiederum dies der Fall sei, wenn die wirtschaftlich wesentlichen Tatbestandsmerkmale der Verbindlichkeit erfüllt sind und ihre Entstehung nur noch vom Eintritt wirtschaftlich unwesentlicher Tatbestandsmerkmale abhängt3. Manchmal verlangt der BFH aber auch, dass die Erfüllung der Verbindlichkeit nicht nur an Vergangenes anknüpft, sondern auch Vergangenes abgilt4. Letzter Formulierung hat auch der BGH aufgegriffen5. Zum Teil wird diese, letztgenannte Interpretation der „wirtschaftlichen Verursachung“, konkretisierend noch um die Frage erweitert, ob die zurückzustellenden ←22 | 23→Aufwendungen mit bereits realisierten Erträgen oder mit zukünftigen Gewinnchancen zusammenhängen6.

Neben die Rechtsprechung des BFH treten vereinzelte Entscheidungen des BGH7, sowie Äußerungen des BMF8 und eine Fülle an Meinungen in der Literatur, die sich jedoch zum überwiegenden Teil darauf beschränken, sich einer Auslegungslinie des BFH anzuschließen9 oder geringfügige Modifikationen in der Begrifflichkeit vorzuschlagen.

Bezüglich der Frage, wann es auf das Merkmal der „wirtschaftlichen Verursachung“ ankommt, existieren zwei kontrovers diskutierte Ansatzpunkte. Einerseits soll es sich um eine notwendige10, andererseits nur um eine hinreichende11 Bedingung zur Rückstellungsbildung handeln. Die bereits bei der Auslegung der „wirtschaftlichen Verursachung“ divergierenden BFH-Senate, vertreten, insoweit konsequent, auch diesbezüglich keine einheitliche Linie.

So ist es bei einer Orientierung an künftigen Gewinnchancen zur Beurteilung, ob eine „wirtschaftliche Verursachung“ vorliegt, nicht ausreichend eine rechtlich bestehende Verbindlichkeit, deren Höhe ungewiss ist, ausweisen zu können.

Das Problem liegt einerseits in der Unbestimmtheit des Begriffs der „wirtschaftlichen Verursachung“. Zum anderen folgt aus einer bestimmten Lösung stets auch ein Bekenntnis zu übergeordneten Prinzipien betreffend Verbindlichkeitsrückstellungen im Gefüge des geltenden Handels- und Steuerbilanzrechts.

Wissenschaftlich ist eine Behandlung der Problematik deshalb besonders reizvoll, da ein Eingehen auf eine Vielzahl von Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung ebenso unumgänglich ist wie eine Auseinandersetzung mit den Bilanzzwecken, den Bilanztheorien und der innerhalb verschiedener Rechtsgebiete gebräuchlichen, aber nicht immer eindeutig umgrenzten, „wirtschaftlichen Betrachtungsweise“. Die speziellen Problemkreise, welche die „wirtschaftliche Verursachung“ innerhalb der Rückstellungen aufwerfen, erweisen sich daher als ←23 | 24→ideale Projektionsfläche für die Beurteilung bilanzrechtlicher Grundgedanken. Der Grund hierfür liegt darin, dass es sich im Kern um keine allein Rückstellungen betreffende Problematik handelt, gleichwohl diese hier besondere Relevanz entfaltet.

Wird einem Begriff vorangestellt, dieser solle „wirtschaftlich“ zu verstehen sein, so befindet man sich in einem juristisch äußerst sensiblen Feld der Rechtsanwendung. Soll die betreffende Norm in gesetzeskonformer Art und Weise angewendet werden, so geht die ausdrücklich bezweckte Zuwendung zur (betriebs-)wirtschaftlichen Lebenswirklichkeit meist mit vielen Unsicherheiten einher. Die wirtschaftliche Lebenswirklichkeit ist oftmals einer Verallgemeinerung, also einer abstrakt-generellen Regelung, schwer zugänglich. Die sich hiermit vorrangig befassende Betriebswirtschaftslehre lässt sich vielfach von Zweckmäßigkeitserwägungen leiten, die sich nicht an übergeordneten (Rechts-)Prinzipien messen lassen müssen. Die Praktikabilität ist hier, insoweit folgerichtig, der maßgebende Rahmen.

Dem steht eine prinzipiell einheitliche Rechtsordnung gegenüber, die, soll sie die Aufgabe der abstrakt-generellen Regelung von Lebenssachverhalten leisten, auf die Verallgemeinerbarkeit und Nachprüfbarkeit jeder Einzelfallwirkung angewiesen ist.

Das Abstellen auf eine „Verursachung“ ist nicht nur in dem hier behandelten Falle der Versuch eine nachvollziehbare Anknüpfung an Geschehnisse der Vergangenheit herzustellen12. Dabei liegt die Unbestimmtheit dieses Begriffs im Auge des Betrachters. Der Ursache-Wirkungs-Zusammenhang ist nämlich auch in rechtlicher Hinsicht so vielfältig unterteilbar, dass differenzierende Ansichten diesen im Einzelfall betreffend, wo immer die Begrifflichkeit verwandt wird, unabwendbar sind.


1 Hoffmann/Lüdenbach, in: NWB Kommentar Bilanzierung, 4. Aufl., §249 Rn. 6 bezeichnen Rückstellungen als „die bilanzpolitische Spielwiese des Kaufmanns schlechthin“.

2 Crezelius, in: ZGR 87, 1 ff. (2) spricht vom BFH allgemein als dem „maßgebenden Bilanzgericht“.

3 Z.B. BFH Urteile vom 24.6.1969 – IR 15/68 = BStBl. II 1969, 581; v. 1.8.1984 – IR 88/80 = BStBl. II 1985, 44; v. 25.8.1989 – III R 95/87 = BStBl. II 1989, 893; v. 12.12.1991 – IV R 28/91 = BStBl. II 1992, 600; v. 10.12.1992 – XI R 34/91 = BStBl. II 1994, 158.

4 Z.B. BFH Urteile vom 19.5.1987 – VIII R 327/83 = BStBl. II 1987, 848; v. 25.8.1989 – III R 95/87 = BStBl. II 1989, 892.

5 BGH Urteil vom 28.1.1991 – II Z R 20/90 = NJW 1991, 1890.

6 BFH Urteil vom 19.5.1987 – VIII R 327/83 = BStBl. II 1987, 848.

7 BGH Urteile vom 11.7.1966 – II ZR 134/65 = BB 1966, 915; v. 28.1.1991 – II ZR 20/90 = NJW 1991, 1890.

8 BMF vom 21.1.2003, IV A 6-S 2137-2/03 = BStBl. I 2003 S. 125.

9 Allerdings ist diese Richtung nicht immer die einzig vertretbare Interpretation. Insbesondere die eher dynamische Linie im Sinne Moxters hatte ihrerseits, zumindest unübersehbar Einfluss, auf die Entscheidungen einiger Senate.

10 Z.B.: Weber-Grellet, in: Schmidt EStG, 32. Aufl., §5 Rn. 381 (der dies auch gleich zur h.M. und h.Lit. erhebt); Ballwieser, in: MüKo HGB, 3. Aufl., §249 Rn. 17.

11 Z.B.: Merkt, in: Baumbach/Hopt HGB, 35. Aufl., §249 Rn. 2; Christiansen, in: DStR 2009, 2213 (2214); Kozikowski/Schubert, in: BeckBilKo, 8. Aufl., §249 Rn. 34.

12 Vgl. zu Verursachungskonstruktionen in anderen Rechtsgebieten: Fuchs/Pauker, Delikts- und Schadensersatzrecht, 8. Aufl., S. 76 ff., 92 ff.; Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 6. Aufl., S. 19 ff.

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B. Gang der Untersuchung

Eine stringente Behandlung der Problematik der „wirtschaftlichen Verursachung“ bei Verbindlichkeitsrückstellungen kann nicht ohne das Eingehen auf übergeordnete, das hier maßgebliche Bilanzrecht im Allgemeinen betreffende, Überlegungen geschehen. In der Rechtsprechung, und insbesondere auch der Literatur, wird immer wieder mit sehr viel allgemeineren Aspekten des Bilanzrechts argumentiert als mit lediglich unmittelbar Verbindlichkeitsrückstellungen betreffenden Spezifika.

Dabei ist hier gewissermaßen nach einem „Zwiebelprinzip“ vorzugehen, bei welchem man sich von außen nach innen dem Kern der Problematik nähert. Die vorschnelle Argumentation innerhalb der konkreten Problematik birgt sonst die Gefahr, zu beachtende Grundsätze zu vernachlässigen.

Die zu beachtenden übergeordneten Prinzipien müssen deshalb beginnend mit den allgemeinsten analysiert und sodann innerhalb der zu klärenden Begrifflichkeit in gesetzeskonformen Ausgleich gebracht werden, wo dies wegen etwaiger Divergenzen notwendig ist. Auf diese allgemeinen Aspekte soll deshalb in Teil II eingegangen werden. Sie stellen einen Hauptbestandteil der vorliegenden Arbeit und die Grundlage zur Beantwortung von Zweifelsfragen hinsichtlich der konkreten Problematik dar. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass es das „Bilanzrecht“ als quasi „Allgemeiner Teil“ einer Vielzahl anderer Rechtsgebiete, die Bilanzierung thematisieren, nicht gibt. Das spezifische Bilanzrecht einzelner Rechtsgebiete ist grundsätzlich nur jeweils ein Teil des jeweiligen Rechtsgebietes, in welchem die Aufstellung einer Bilanz erforderlich ist. Es existieren genau genommen also viele verschiedene Bilanzrechtsordnungen, wenngleich nicht ohne Verbindungen zueinander.

Für die vorliegende Arbeit ist das Recht der Steuer- und der Handelsbilanz von Interesse13. Vorab soll deshalb geklärt werden, inwieweit hier Differenzen bestehen und ob sich dies auch in einer unterschiedlichen Beurteilung der Problematik der „wirtschaftlichen Verursachung“ niederschlägt oder ob ein weitestgehender Gleichlauf im Hinblick auf die Bearbeitung der konkreten Thematik festgestellt werden kann. Grundsätzlich ist das Steuerrecht aufgrund seiner ←25 | 26→vielen Besonderheiten, die teilweise direkt aus dem Verfassungsrecht folgen, schwer mit anderen Rechtsgebieten in Einklang zu bringen14. Zur konkreten Thematik werden teilweise spezifisch steuerrechtliche Wertungen angeführt, was von vornherein die bilanzrechtliche Beurteilung im Hinblick auf die Steuerbilanz entscheidend beeinflussen würde, wo dies im Hinblick auf die Handelsbilanz nicht angezeigt wäre. Jedenfalls ist eine simultane Regelung in Steuer- und Handelsbilanz nicht ohne Weiteres zu unterstellen. Zudem ist schon im Hinblick auf die, das vorliegende Problem so stark prägende, Rechtsprechung des BFH auf eine etwaige Kohärenz von Steuer- und Handelsbilanzrecht einzugehen.

Sodann soll auf die Bilanz, als das übergeordnete Rechenwerk, in welches Rückstellungen eingegliedert sind, eingegangen werden. Jeder einzelne Posten der Bilanz ist auch anhand der dieser als Ganzem zugrunde liegenden maßgebenden Erwägungen zu beurteilen. Gerade für Rückstellungen ist dies im Bezug auf viele grundlegende Aspekte der Fall15. Daher wird vorliegend der Zweck der Bilanz im Handels- und Steuerrecht sowie der Begriff der „Bilanz im Rechtssinne“ behandelt. Der Zweck der Bilanz im Ganzen ist übergeordneter Maßstab zur Analyse des Zwecks von Rückstellungen und ihres jeweiligen Tatbestandes. Darüber hinaus ist der Zweck des Gesamtrechenwerkes auch bei der Einordnung der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung und der Bilanztheorie von entscheidender Bedeutung. Besonders innerhalb dieses Aspekts setzt sich die Problematik um die etwaige Einheit von Handels- und Steuerbilanz in der literarischen Diskussion fort. Im Hinblick auf die „Bilanz im Rechtssinne“ ist trotz der Einheit von betriebswirtschaftlich geprägter Buchführung und Jahresabschluss16 zu beachten, dass Letzterer, insbesondere die Bilanz, im hier maßgeblichen Rahmen, gesetzlich geregelt ist, was die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Thematik entscheidend beeinflusst.

Details

Pages
278
Publication Year
2022
ISBN (PDF)
9783631881873
ISBN (ePUB)
9783631881880
ISBN (MOBI)
9783631881897
ISBN (Softcover)
9783631864494
DOI
10.3726/b19884
Language
German
Publication date
2022 (August)
Published
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 278 S.

Biographical notes

René Alexander Kern (Author)

René Alexander Kern studierte Rechtswissenschaften in Bonn und München sowie Finanzwissenschaften in London und arbeitete seitdem als Rechtsanwalt in München, Frankfurt am Main und Berlin im Bereich Mergers & Acquisitions, Private Equity und Venture Capital.

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