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Die Herausbildung des neuzeitlichen Nationsbegriffs

Begriffswandel und Transferprozesse in deutschen und französischen enzyklopädischen Wörterbüchern der Sattelzeit

von Carla Dalbeck (Autor:in)
©2022 Monographie 212 Seiten

Zusammenfassung

Seit einiger Zeit erlebt die Nation als Ordnungs- und Wertesystem im europäischen Raum erneut Aufwind. Die Autorin begibt sich auf die Spuren der Herausbildung eines neuzeitlichen Nationsbegriffs im deutschen und französischen Sprach- und Kulturraum. Anhand enzyklopädischer Wörterbücher rekonstruiert sie semantische Transformationsprozesse des Nationsbegriffs und der ihnen zugrundeliegenden interkulturellen Transferprozesse. Durch die methodische Verschränkung von historischer Semantik und Ansätzen des Kulturtransfers gelingt es ihr, die deutsch-französische Transferrichtung stärker zu betonen und die bisher wenig beachtete Rezeption der Antike und Englands herauszuarbeiten. Mit ihrer Studie erprobt die Autorin weiter Ansätze einer transnationalen Begriffsgeschichte.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Résumé
  • Summary
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abbildungsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 2 Die Nation in enzyklopädischen Wörterbüchern: Eine Bestandsaufnahme
  • 2.1 Nation als Forschungsgegenstand
  • 2.2 Enzyklopädische Wörterbücher als Sammlungen gesellschaftlichen Wissens
  • 3 Transnationale Begriffsgeschichte: Theoretische und methodische Überlegungen
  • 3.1 Begriffsgeschichte transnational
  • 3.2 Zur Methodik transnationaler Begriffsgeschichte
  • 3.2.1 Zeitliche und räumliche Erfassung von Begriffsbedeutungen
  • 3.2.2 Zwischen Vergleich, Kulturtransfer und Histoire croisée
  • 3.3 Quellenlage und Vorgehen
  • 4 Revolution im Namen der Nation? Die Herausbildung des neuzeitlichen Nationsbegriffs im Französischen
  • 4.1 Peuple, État, Nation: Politische Implikationen des Nationsbegriffs
  • 4.1.1 Überschneidung und Differenz von Nation und Peuple
  • 4.1.2 Rechtlich-politische Dimensionen des Nationsbegriffs
  • 4.2 Langue, Culture, Caractère national(e): Partikularität der Nation
  • 4.2.1 ‚Zivilisation‘ durch Sprache und Kultur
  • 4.2.2 Nationalcharakter
  • 4.3 Université, Église: Vom Verhältnis von Nation und Institution
  • 4.4 Patrie, Patriotisme: Nation durch Emotion
  • 5 Kultur-, Volks- oder Staatsnation? Der Wandel des Nationsbegriffs im Deutschen
  • 5.1 Volk, Staat, Nation, Vaterland: Politische Dimensionen der Nation
  • 5.1.1 Zur Ambivalenz zwischen Nation und Volk
  • 5.1.2 Nation als staatspolitisches Ordnungssystem
  • 5.2 Nationalcharakter, Nationalsprache und Nationalbildung: Konstruktion nationaler Identität
  • 5.2.1 Nationale Identität durch Charakter, Sprache und Kultur
  • 5.2.2 Die Nation bilden
  • 5.3 Universität und Kirche: Zum Verschwinden zweier Begriffsbedeutungen
  • 5.4 Patriotismus, Vaterlandsliebe und Nationalbewaffnung: Integrative und exkludierende Mechanismen der Nation
  • 6 Nachahmung oder Ablehnung? Zur transkulturellen Bedingtheit deutscher und französischer Nationsbegriffe
  • 6.1 Legitimation der Nation durch Nachahmung
  • 6.1.1 Antikes Erbe
  • 6.1.2 Fremde Nationen als Vorbilder
  • 6.2 Konstruktion nationaler Identität durch Ablehnung und Abgrenzung
  • 6.2.1 Genese eines ethnisch-kulturellen Nationsbegriffs in Deutschland als Gegenentwurf zur französischen Staatsnation
  • 6.2.2 Entkräftigung des deutschen Nationsbegriffs in Frankreich
  • 7 Schlussbetrachtung
  • Bibliographie
  • Anhang
  • Reihenübersicht

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1 Einleitung

„[…] mais n’oubliez jamais que nous sommes la Nation française.“1

In der Neujahrsrede Emmanuel Macrons von 2018 verkörpert das Volk die Nation. Zwei Jahre später bezeichnet der französische Präsident den im September 2020 ermordeten Lehrer und französischen Staatsbürger Samuel Paty in seiner Trauerrede als Inkarnation der Republik,2 nachdem der Sarg zu dem Song „One“ („Wir sind eins“) in den Innenhof der Université Sorbonne getragen wurde.3 Die Nation und ihre Staatsbürger*innen verschmelzen in Macrons Duktus zu einer Einheit, une et indivisible.

Seit sich die Idee des modernen Nationalstaats im 18. Jahrhundert von Frankreich und Amerika aus im europäischen Raum verbreitete,4 hat die Nation als identitätsstiftende Größe zur juristischen und sozio-kulturellen Legitimierung gegenwärtiger Staatsformen wenig an Integrationskraft verloren. Bis heute ist sie im gesamtgesellschaftlichen Diskurs Europas weiterhin eine selbstverständliche Referenzgröße. Insbesondere im deutschsprachigen Raum weckt der Nationsbegriff zuweilen auch Angst vor einer Rückkehr zum Nationalsozialismus, die in Teilen der Gesellschaft zu einer „Abstinenz gegenüber dem Nationsbegriff“5 führt, somit jedoch auch Platz macht für die Reaktivierung alter nationalistischer Narrative. Dabei ist der Nationsbegriff der Gegenwart, so Christian Geulen, kein ausschließlich politischer Begriff, sondern weiterhin ←17 | 18→durch vorpolitische, kulturelle Bedeutungsdimensionen wie Sprache, Traditionen und gesellschaftliche Werte geprägt.6

Mit dem Nationsbegriff können insofern gegensätzliche Wirkungen erzielt werden. Einerseits kann er, wie bei Macron, inklusiv wirken, indem die Gesamtheit aller Staatsbürger*innen angesprochen wird. Andererseits kann er exklusiv wirken, wenn sich beispielsweise rechtspopulistische Parteien wie der Rassemblement national in Frankreich, der den Begriff national sogar im Namen trägt, oder die Alternative für Deutschland in der Bundesrepublik an eine Gruppe von Menschen wenden, die aufgrund ethnischer Kriterien ausgewählt wurde oder sich als ‚Volk‘ in Abgrenzung zur Elite definiert.

Die semantischen Implikationen, welche durch die Verwendung des Nationsbegriffs heute bewusst oder unbewusst transportiert werden, sind das Ergebnis einer jahrhundertelangen Begriffsgenese. Ursprünglich aus dem Lateinischen (lat. natio) als Lehnwort ins Französische und Deutsche übertragen, wird der Begriff im 19. und 20. Jahrhundert die begriffliche Grundlage des Nationalismus, „eines der mächtigsten, wenn nicht [des] mächtigste[n]‌ soziale[n] Glaubenssystem[s] des 19. und 20. Jahrhunderts“7. Entgegen der gelegentlichen Annahme rechtspopulistischer Parteien ist die Nation als Teil eines Glaubenssystems allerdings keinesfalls eine essentialistische Kategorie, sondern eine gesellschaftlich konstruierte Imagined Community8.

Wie jedoch konnte die Nation zu der politischen und identitätsstiftenden Größe werden, die sie heute sowohl auf europäischer als auch auf globaler Ebene ist? Antworten auf die Frage kann möglicherweise die maßgeblich durch Reinhart Koselleck beeinflusste Begriffsgeschichte oder auch historische Semantik liefern.9 In Anlehnung an den linguistic turn begreift sie die historische ←18 | 19→Wirklichkeit als textgebunden; Begriffe werden zum Ausdruck „gesellschaftlich institutionalisierten Wissens“10. Der Nationsbegriff umfasst demnach die gesamte Menge an Vorstellungen, die eine als ‚Nation‘ bezeichnete Gemeinschaft konstituieren und zugleich aus ihr hervorgehen.

Die Begriffsgeschichte ermöglicht anhand der Feststellung und Analyse von gesellschaftlich relevanten Begriffen, Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Begriffsbedeutungen nachzuvollziehen. Obwohl ihre theoretische und methodische Komplexität in der Praxis eine Herausforderung darstellt und sie meist nicht vollumfänglich umgesetzt wird,11 bietet sie doch die Möglichkeit, gesellschaftliche Wandlungsprozesse auf sprachlicher Ebene aufzuzeigen. Als Kern des Ideensystems ‚Nationalismus‘ und begriffliche Grundlage desselben trägt die semantische Geschichte des Nationsbegriffs Hinweise auf die Herausbildung von Nationalismen in sich. Durch seine begriffsgeschichtliche Analyse können seine vielseitigen Bedeutungsdimensionen in unterschiedlichen Zeit- und Kulturräumen dargelegt und die Grundlagen unseres heutigen Nationenverständnisses aus historisch-kritischer Perspektive rekonstruiert werden. Dabei gilt es nicht eine Geschichte des Nationsbegriffs zu erzählen, sondern auf die zahlreichen Wandlungsprozesse und Abhängigkeiten einzelsprachiger Nationsbegriffe aufmerksam zu machen.

Die vorliegende Arbeit leistet in diesem Sinne einen Beitrag zur Erforschung des Nationsbegriffs, genauer zur Beantwortung der Frage nach der Herausbildung eines neuzeitlichen Nationsbegriffs im deutschen und französischen Sprach- und Kulturraum in der Sattelzeit. Besonderes Augenmerk soll dabei auf Kulturtransferprozesse gelegt werden, durch die sowohl transkulturell gültige als auch kulturspezifische Bedeutungsdimensionen freigelegt werden können. Zwei Leitfragen stehen hierfür im Zentrum: einerseits die Frage, ob und inwiefern sich im Zeitraum von 1750 bis 1850 ein neuer, neuzeitlicher Nationsbegriff in französisch- und deutschsprachigen enzyklopädischen Wörterbüchern ←19 | 20→äußert, andererseits die Frage, inwieweit die einzelsprachlichen Bedeutungstransformationen Ergebnis interkultureller Transferprozesse sind.

Unter Heranziehung enzyklopädischer Wörterbücher werden in vergleichender Perspektive Kontinuitäten und Diskontinuitäten sowie Gemeinsamkeiten und Unterschiede der sprach- und kulturspezifischen Nationsbegriffe rekonstruiert. Durch die Erstellung von Begriffsfeldern und die exemplarische Analyse ausgewählter Artikel zum Nationsbegriff werden semantische Begriffsdimensionen in den Einzelsprachen aufgezeigt. Zusätzlich werden nach Möglichkeit computergestützte Analysemethoden erprobt und ihre Potenziale und Grenzen für die transnationale Begriffsgeschichte besprochen. Um mögliche Interdependenzen der deutsch- und französischsprachigen Nationsbegriffe zu verdeutlichen, soll ferner besondere Rücksicht auf transnationale Semantisierungsprozesse genommen werden. Für diesen Zweck werden die vorher erarbeiteten einzelsprachlichen Ergebnisse vergleichend gegenübergestellt und Kulturtransferprozesse nachvollzogen.

Details

Seiten
212
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631878828
ISBN (ePUB)
9783631878835
ISBN (Hardcover)
9783631878781
DOI
10.3726/b19942
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Juli)
Schlagworte
Enzyklopädien Transnationale Begriffsgeschichte Kulturtransfer Nation Historische Semantik Antikenrezeption Transkulturalität Enzyklopädismus
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 212 S., 2 farb. Abb., 4 s/w Abb., 11 Tab.

Biographische Angaben

Carla Dalbeck (Autor:in)

Carla Dalbeck ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Französische Literaturwissenschaft sowie für Französische Kulturwissenschaft und Interkulturelle Kommunikation an der Universität des Saarlandes und im Teilprojekt «Übersetzungsdimensionen des französischen Enzyklopädismus im Aufklärungszeitalter, 1680-1750» des DFG-Schwerpunktprogramms 2130 «Übersetzungskulturen der Frühen Neuzeit» tätig.

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Titel: Die Herausbildung des neuzeitlichen Nationsbegriffs