Tagungsband der «Asiatischen Germanistentagung 2016 in Seoul» – Band 1
Germanistik in Zeiten des großen Wandels – Tradition, Identität, Orientierung
Summary
Excerpt
Table Of Contents
- Cover
- Titel
- Copyright
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Danksagung
- Inhaltsübersicht
- Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Eröffnungsvortrag
- Asiatische Germanisten als Gestalter regionaler Verständigung – Die deutsche Sprache und die deutschsprachige Literatur als gemeinsame Basis im Bemühen um ein friedliches Miteinander im historisch belasteten asiatischen Raum (Sam-Huan Ahn (Seoul))
- Plenarvorträge
- Proteus und Adaptivität. Funktionen der Germanistik in der ‚Weltgesellschaft‘ des 21. Jahrhunderts (Jürgen Fohrmann (Bonn))
- Die Aufgabe der Übersetzung im Zeitalter der Globalisierung (Kanichiro Omiya (Tokyo))
- Wandel des Frauen- und Mädchenbildes in der deutschen Literatur am Beispiel der Werke von Mirjam Pressler und Katharina Bendixen (Mei-chi Lin (Taiwan))
- Sektionsthemen und Referate
- Zeit-Wandel im digitalen Zeitalter
- Das goldene Zeitalter. Okkulte Vorstellungen von Zeit und Zukunft um 1900 (André Reichart (Fukuoka))
- Zeitkonstrukte in Geschichtsschreibung und Literatur der deutschen Aufklärung (Marcus Conrad (Fukuoka))
- Der Kampf um das dritte Reich vor dem Ersten Weltkrieg – Die Dmitri-Mereschkowski-Rezeption in Deutschland und Japan (Yasumasa Oguro (Fukuoka))
- Semantik und Ökonomie. Im Muster der Verkehrsnetze (Jeewon Kim (München))
- Herders Shakespeare-Aufsatz (1773) und die ‚Ewigkeitsattribuierung‘ von (Kunst-)Werken im 18. und 21. Jahrhundert (Markus Gut (Zürich))
- Goethes ‚Mütter‘, japanische Göttin Benzaiten und das Dreieckssymbol – Eine Untersuchung über die kosmische Fruchtbarkeitsgottheit im Hinblick auf ‚die Mehrheit der Welten‘ (Takashi Sakamoto (Tokyo))
- „Ver-rückte“ Zeit der Peripherien – Ort und Zeit im Werk von Christoph Ransmayr (Kyoko Tokunaga (Osaka))
- Räumlicher Wandel
- Der Müllberg als literarischer Chronotopos in der DDR- und der Nachwende-Literatur (Hiroshi Yamamoto (Tokyo))
- Machträume und Machtträume. Imaginationen des Raums in der Geopolitik (Thomas Pekar (Tokyo))
- Sich dem Tod annähernd im fiktionalen und faktualen Erzählspiel: Josef Winklers Natura morta und Domra (Chieh Chien (Taipei))
- Fahrgast Walter Benjamin. Schwellenerfahrung in seinen Prosawerken in Hinsicht auf das moderne Medium „Eisenbahn“ (Keiko Tanabe (Niigata))
- Pazifische Geopolitik in Robert Müllers Erzählung Das Inselmädchen (Thomas Schwarz (Tokyo))
- Literarische Raumdarstellungen am Beispiel der Werke von Wolfgang Koeppen (Sinae Lee (Seoul))
- Weltübersicht durch Weltliteratur. Goethes Rettung der „Pyramide [s]eines Daseyns“ (Michael Mandelartz (Tokyo))
- Von der Grenze zur Kontaktzone. Zu Jenny Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen (2015) (Keiko Hamazaki (Tokyo))
- Reisen als Raum des Schreibens im Verschwinden der Grenzen – Christian Krachts Reiseberichte über Asien: Der gelbe Bleistift (Hye Yang Shin (Seoul))
- Wandel des Menschenbildes
- Das Ensemble von Dandy und Dilettant – Über die Wechselwirkung des Dandyismus und Dilettantismus im Andreas von Balthesser von Richard von Schaukal (Wonseok Chung (Cheonan))
- Arbeit ohne Ende. Miszelle über Christoph Schlingensiefs Tagebuch einer Krebserkrankung (Thomas Wortmann (Mannheim))
- Die Bildungsreise in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Tradition und Konflikt bei Rolf Dieter Brinkmann und Christian Kracht (Azusa Takata (Tokyo/Tübingen))
- Die Tragödie der Zivilisation. Zur Entstehung des Völkerrechts zivilisierter Nationen im 19. Jahrhundert (Chenxi Tang (Berkeley))
- Mythische Frauenfiguren sind in der modernen Zeit wiedergeboren, aber im Alltagsleben; mächtig und schön wie vorher (Elham Rahmani Mofrad (Teheran))
- Identitätsproblematik bei Gertrud Kolmar – Am Beispiel des Romans Eine Mutter (Chung-Hi Park (Seoul/Cheonan))
- Die Repräsentation des Frauenfußballs im Werbediskurs als Mittel zur Konstruktion der Geschlechterrollen in Japan, Deutschland und Frankreich (Guillaume Robin (Paris))
- Das Ich als Text: Literarische Subjektivität in Yoko Tawadas Überseezungen (Christoph Held (Oxford))
- Humanismus bei Heidegger und Sloterdijk (Choong-Su Han (Seoul))
- Wandel der Wissensformen und neue Wissenschaft
- Biologische Diskurse in der Erinnerungsliteratur: W.G. Sebalds Roman Austerlitz (2001) und Judith Schalanskys Roman Der Hals der Giraffe (2011) (Asako Miyazaki (Osaka))
- Das Kulturmanagement als Erweiterung der Germanistik (Jeang-Yean Goak (Seoul))
- Analogie als Prinzip: Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen im Kontext des analogischen Denkens in der Wissenschaft (Ryozo Maeda (Tokyo))
- Das Germanistikstudium im Wandel (Claudius Petzold (Taipei))
- Vorstellung einer langfristigen Entwicklung der hochschulischen Germanistikausbildung in China (Shiqian Tong (Chongqing))
- Anhang
- Tagungsablauf
- Organisationskomitee
- Teilnehmerliste
- Reihenübersicht
Einleitung
Gegenwärtig findet angesichts der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise weltweit ein großes Umdenken statt, das sich nicht zuletzt auch im Motto des Weltwirtschaftsforums in Davos im Januar 2012 niedergeschlagen hat. Dieser ‘große Wandel’, der längst auch die Wissenschaft erfasst hat, äußert sich in dem Bestreben, das durch den Neoliberalismus zugespitzte Paradigma individualistischer Konkurrenz durch das Paradigma gemeinschaftsorientierter kreativer Kollaborativität zu ersetzen. Damit – wie auch angesichts anderer grundlegender Veränderungen im neuen Jahrtausend – wächst den Geisteswissenschaften eine zentrale Rolle zu, die sie vor neue Herausforderungen stellt.
Doch anders als angesichts des angekündigten Paradigmenwechsels und der zahlreichen Herausforderungen zu erwarten stünde, erlebt gerade die Germanistik eine beständige Schwächung ihrer Existenzgrundlage – und dies trotz der gewachsenen internationalen Bedeutung Deutschlands.
Wir, die Germanisten weltweit, sind also aufgefordert, Antworten zu finden auf die drängende Frage danach, wie wir dieser paradoxen Situation begegnen können und sollen. Die Asiatische Germanistentagung 2016 in Seoul widmet sich mit ihrem Leitthema genau dieser Frage. Es wird darauf ankommen, die Grundthemen der Humanwissenschaften gemäß den Forderungen der Zeit zu rekontextualisieren und der Germanistik eine neue Orientierung zu geben. Die Aufgabe der Tagung besteht somit darin, die Grundthemen der Geisteswissenschaften auf der Basis eines neuen, dem ‘großen Wandel’ Rechnung tragenden Denkens zu entfalten und ihnen damit eine vitale Aktualität zu verleihen.
Im Rahmen dieser Perspektivierung schlagen wir folgende Einzelthemen vor, die an konkreten Beispielen zu beleuchten wären. Der ‘große Wandel’ lässt Raum für viele unterschiedliche und komplexe Fragestellungen. Zum einen sollten die traditionellen Koordinaten menschlicher Welterfassung, nämlich Zeit, Raum und Mensch neu beleuchtet werden. Zeit und Raum sind sowohl eine Bedingung der menschlichen Existenz als auch ein Produkt des kulturellen Handelns und bestimmen so unsere Wahrnehmungsstruktur wie auch unsere Verhaltensweisen. Leitende Fragestellungen dabei könnten sein: Können wir die Konzepte von natürlicher Zeit und Kulturzeit in den verschiedenen Wissensdisziplinen weiter wie bisher untersuchen? Können wir im digitalen Zeitalter noch von einer allgemein-anthropologischen Konstante der Erfahrung, des Erlebens und des Bewusstwerdens von Zeit sprechen? Müssen wir uns heute das Zeitgerüst anders als in Zeiten linearen Denkens vorstellen? Können die raumbezogenen Ansätze in der Literaturwissenschaft, nämlich die semiotische Annäherung an die räumlichen Ansätze der Sprache und der Textstruktur, die Studien zur Geopolitik der Literatur, zur Literaturgeographie ←13 | 14→oder zur Geopoetik usw. die Tendenzen der neuen Raumforschung aufnehmen? Und welche semantische Erweiterung erlebt das Raumkonzept seit der Globalisierung oder angesichts der weltweiten Flüchtlingsbewegungen? Indem wir diese Fragen zu beantworten versuchen, werfen wir zugleich Fragen nach dem Menschen, seinem Körper, Verhalten und Empfinden auf, die nach wie vor die kardinalen Themen der Geisteswissenschaften darstellen. Das Interesse an der Beziehung von Mensch und Tier dehnt sich auf Vorstellungen des Posthumanen aus, die Mensch, Tier und Maschine zusammensehen und eine interdisziplinäre Zusammenarbeit erfordern. Ein großes Thema bleibt ebenfalls der Komplex von Körper und Seele, und zwar sowohl philosophisch und ethisch als auch kognitionswissenschaftlich sowie unter genderspezifischen Gesichtspunkten betrachtet.
Andererseits spiegelt unsere Themenliste aber auch den aktuellen Stand verschiedener anderer Diskurse wider, die den oben genannten Themenkomplexen in keiner Weise nachstehen sollen. Sie umfasst solche Themen wie den Wandel der Kunst und Wissensformen, den Medial Turn, den Sprachwandel und den Wandel in der Didaktik. Die Entwicklung digitaler Technologien brachte einen großen medialen Wandel mit sich, und die neuen Medien verändern die Formen der Kunst und auch der ästhetischen Wahrnehmung. In Bezug auf die neue Technik hat der Kulturbetrieb auch die Rolle des Künstlers und Wissenschaftlers deutlich verändert. Angesichts dieser Lage werden Fragen aufgeworfen wie die, inwiefern Binärcode und Algorithmen die alte Kunst ersetzen, wie in dieser neuen Kunst Kreativität entsteht und was sie bedeutet. Ferner, ob Kunst bzw. Literatur noch weiter die kritische Funktion innenhaben können, die lange als ihre Aufgabe erachtet wurde. Angesichts des Medial Turn ist es weiterhin nötig, uns in Bezug auf die neue mediale Umgebung mit neuen, aktuellen Tendenzen zu beschäftigen. Denn der mediale Wandel stellt uns ständig neue Themen bereit, wie die Verknüpfung von Medientheorie und Literatur, kulturelle Phänomene wie Webcomics und Social Media, die Verwischung der Grenze zwischen Fiktion und Realität, Demokratisierung der Kultur, Narrative bzw. Storytelling in Digitalmedien.
Einen weiteren Schwerpunkt bilden linguistische Phänomene in Bezug auf den Sprachwandel und die damit verbundene Didaktik des DaF-Unterrichts im digitalen Zeitalter. Aller Sprachgebrauch unterliegt einer permanenten Veränderung. Gerade der interaktionale, informelle Sprachgebrauch ist dabei ein wichtiger Auslöser für Sprachwandel. Bei der Vermittlung des Deutschen als Fremdsprache wird allerdings zumeist eine Grammatik gewählt, die sich an der Norm der konzeptionell schriftlichen, eher formellen Sprache orientiert. In den letzten Jahren ist im Bereich der Didaktik des Deutsch-als-Fremdsprache-Unterrichts eine Diskussion um das Anliegen entstanden, den Fokus weg von der Konzentration auf die formale, grammatische Korrektheit schriftlicher und mündlicher Äußerungen hin auf die soziale und interaktionale Dimension ←14 | 15→von Sprache und Kommunikation zu verschieben. Dabei spiegelt die Fremdsprachendidaktik letztendlich die Refokussierung wider, die bereits zuvor in der Linguistik vollzogen wurde, als man seit den 60er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts verstärkt die pragmatischen, handlungsbezogenen und interaktionalen Komponenten authentischen Sprechens und Schreibens in den Blick nahm. Wie spiegelt sich der Gesellschaftswandel im Sprachwandel wider? Wie lässt sich authentische schriftliche und mündliche Alltagssprache im DaF-Unterricht thematisieren?
Angesichts dieser grob umrissenen Lage soll die Konferenz dazu beitragen, Erfahrungen und bisherige Ergebnisse aus den vielfältigen Themenbereichen auszutauschen und neue Konzepte für die künftige Lehre und Forschung zu entwickeln.
Oh, Seong-Kyun
Vorsitzender der Asiatischen Germanistentagung 2016 Seoul
Asiatische Germanisten als Gestalter regionaler Verständigung – Die deutsche Sprache und die deutschsprachige Literatur als gemeinsame Basis im Bemühen um ein friedliches Miteinander im historisch belasteten asiatischen Raum
Sehr geehrter Herr Weert Börner, Geschäftsträger der Deutschen Botschaft Seoul,
sehr geehrter Herr Nicolas Descoeudres von der Schweizerischen Botschaft in Seoul,
sehr geehrte Frau Dr. Marla Stukenberg, Leiterin des Goethe-Instituts Korea,
sehr geehrter Herr Christoph Pollmann, Leiter des DAAD-Informations- zentrums, Korea,
sehr geehrte Frau Prof. Yuelian Liu, Präsidentin der Chinesischen Gesellschaft für Germanistik,
sehr geehrter Herr Prof. Kanichiro Omiya, Präsident der Japanischen Gesellschaft für Germanistik,
sehr geehrte Frau Prof. Kwangsin Jee, Präsidentin der Koreanischen Gesellschaft für Germanistik,
sehr geehrter Herr Prof. Seong-Kyun Oh, Leiter des Organisationskomitees für die 9. Asiatische Germanistentagung in Seoul,
verehrte Gäste aus Deutschland,
liebe asiatische Kolleginnen und Kollegen,
und meine Damen und Herren,
dass mir der Eröffnungsvortrag dieser 9. Asiatischen Germanistentagung anvertraut wurde, das war wahrlich eine große Ehre für mich, aber es legte auch viel Verantwortung auf meine Schultern, denn der Eröffnungsvortrag sollte doch unter anderem auch die Weichen für die Atmosphäre der ganzen Veranstaltung stellen. Daher habe ich mich entschlossen, kein im strengen Wortsinne wissenschaftliches Referat zu halten, sondern vielmehr zu skizzieren, welche Entwicklungsströme sich auf unseren asiatischen Tagungen vereinen.
Da ist es ganz wunderbar, dass ich diesen Vortrag damit beginnen kann, Ihnen, sehr verehrter lieber Herr Kimura, von ganzem Herzen dazu zu gratulieren, dass Ihnen soeben mit der im Namen aller asiatischen Germanisten überreichten Dankestafel die gebührende Anerkennung für Ihre so großen Verdienste um die Pflege der Germanistik in Asien und um die ←19 | 20→zwischenmenschliche Verständigung zwischen den asiatischen, insbesondere zwischen den ostasiatischen Germanisten zuteilwurde. Als die von Ihnen initiierte und dann stetig geförderte Zusammenarbeit zwischen den Germanisten unserer durch dunkle historische Ereignisse belasteten Nationen Ostasiens begann, war ich noch ein Vertreter der jüngeren Germanistengeneration, und ich bin Ihnen auch persönlich sehr dankbar dafür, dass Sie als japanischer Germanist mit Ihrem chinesischen Freund Yushu Zhang, Ihrem leider schon verstorbenen koreanischen Freund Byongock Kim und mit vielen anderen unter Ihren Altersgenossen uns Jüngeren diesen neuen Weg des Friedens, der Verständigung und der kollegialen Zusammenarbeit aufgezeigt und vorbildlich vorgelebt haben.
Meine Damen und Herren, dieser Prozess darf aus vielerlei Gründen durchaus als etwas Besonderes betrachtet werden, denn eine vergleichbare institutionalisierte Zusammenarbeit z. B. gibt es weder bei den asiatischen Anglisten noch bei den asiatischen Romanisten. Aber das Erstaunlichste daran, denke ich, ist wohl die führende Rolle, die die deutsche Sprache bei dieser Entwicklung gespielt hat, nämlich ihre Rolle als lingua franca zwischen Bürgern verschiedener Nationen, deren Beziehungen zueinander insgesamt historisch sehr belastet sind. Das bedarf wohl doch einer näheren Erklärung.
Zu ersten nennenswerten persönlichen Kontakten unter asiatischen Germanisten kam es auf der IVG-Tagung 1985 in Göttingen, und dort entstand auch zum ersten Mal eine Art vages Gruppengefühl, so dass auch die teilnehmenden Germanisten aus China und Korea sich dafür einsetzten, dass ihr japanischer Kollege Eijiro Iwasaki zum Präsidenten der IVG gewählt wurde, was zugleich bedeutete, dass der nächste IVG-Kongress 1990 zum ersten Mal außerhalb Europas, nämlich in Tokio, stattfinden würde. Im Vorfeld des Tokioer Kongresses reisten japanische Germanisten nicht zuletzt auf Anregung von Herrn Kimura zu Tagungen nach Beijing und nach Seoul, und auf dem Kongress in Tokio vertieften sich die Beziehungen zwischen den Germanisten aus den verschiedenen asiatischen Ländern. Noch gab es keine diplomatischen Beziehungen zwischen der Republik Korea und der Volksrepublik China, so trafen sich Germanisten aus China, Japan und Korea auf Anregung der Japanischen Gesellschaft für Germanistik 1991 zu einer Tagung mit deutschen Germanisten im Japan-Zentrum in Berlin. Und in dieser Tagung darf man wohl eine Wurzel unserer Asiatischen Germanistentagungen sehen. Danach gab es 1994 die große asiatische Regionaltagung des Internationalen Deutschlehrerverbandes in Beijing. An diesem Treffen konnten nun auch viele koreanische Germanisten teilnehmen, denn seit 1992 gab es diplomatische Beziehungen zwischen der VR China und Südkorea, eine offizielle Flugverbindung fehlte allerdings noch immer, so konnten wir Koreaner damals nicht direkt nach Beijing fliegen, sondern ein Charterflug brachte uns nur nach Tientsin (天津). Von dort ging es dann mit dem Bus weiter zum Tagungsort. Wie ←20 | 21→Sie ja alle wissen, ist dieser Beijinger Kongress vom August 1994 die zweite Wurzel unserer Asiatischen Germanistentagung. Aber nicht nur die Reihe dieser großen Tagungen dokumentiert die gewachsene Zusammenarbeit zwischen den asiatischen Germanisten, auch auf vielen kleineren internationalen oder auch nationalen Veranstaltungen, auf denen asiatische Germanisten unter der Leitung bzw. mit der Teilnahme einiger deutscher Germanisten wissenschaftlich diskutierten, begegnete man einander. Dass sich die Asiaten dabei auch außerhalb der wissenschaftlichen Diskussionen auf Deutsch verständigten, schien zwar selbstverständlich zu sein, aber genauer betrachtet, war das anfangs eigentlich doch eine kleine Sensation, nämlich der allererste Beweis dafür, dass gute Verständigung zwischen verschiedenen Asiaten dank einer dritten Sprache überhaupt möglich war.
Anfangs war die Atmosphäre auf diesen Tagungen eher angespannt, vielleicht weil sich die Teilnehmer aus den verschiedenen Ländern von der jüngsten Geschichte des imperialistischen Zeitalters ziemlich belastet fühlten. Jeder wollte Rücksicht auf den anderen nehmen, man fühlte sich verpflichtet, sich vorsichtig und ganz sachlich auszudrücken. Aber im Laufe der ersten Symposien waren die Teilnehmer dann selber davon überrascht, wie gut und unkompliziert sie sich auf Deutsch miteinander verständigen konnten. In einigen schwierigen Fällen konnten sie die Sachprobleme auch mit Hilfe von chinesischen Zeichen, dem gemeinsamen Kulturgut Ostasiens, lösen. Zuvor hatten sich die Germanisten Asiens, wenn ich es so sagen darf, wie verschiedene Planeten, wenn nicht ein wenig feindselig, so doch sehr reserviert und gleichgültig um die gleiche Sonne namens deutsche Sprache, deutschsprachige Kultur und Literatur gedreht, aber nun gelangten sie allmählich dazu, ihre Nachbarn als Freudens- und Leidensgenossen zu betrachten, die eng verwandte Interessen hatten und mit sehr ähnlichen Problemen konfrontiert waren, wie z. B. bei der Übersetzung deutscher literaturwissenschaftlicher Begriffe. So haben sie ihre geographischen Nachbarn und Fachkollegen als Freunde entdeckt.
Eine wichtige Rolle hat dabei für den engeren ostasiatischen Raum das „Institut für Übersetzungsforschung zur deutschen und koreanischen Literatur“ gespielt. Dieses Institut wurde 1992 von Byongock Kim gegründet und hat unter seiner Leitung dann 1996 das erste der bald sehr beliebten Vier-Länder-Symposien mit Teilnehmern aus China, Japan, Korea und Deutschland abgehalten. Dieses Vier-Länder-Symposium von 1996 war in Korea das erste ganz aus privater Initiative entstandene internationale wissenschaftliche Germanistentreffen und alle, die wie ich selbst und mein Namensvetter Mun-Yeong Ahn, der gegenwärtige Leiter des Instituts, bei der Organisation mitgeholfen haben, waren erstaunt darüber und dankbar dafür, dass so viele japanische Kollegen der älteren und der jüngeren Generation zum größten Teil auf eigene Kosten zu uns gekommen sind, und wir waren sehr froh, dass wir auch einigen chinesischen Kollegen die für sie damals noch sehr schwierige Reise zu uns nach ←21 | 22→Seoul ermöglichen konnten. So konnten auf diesem Symposium auch die, wie ich sie nennen möchte, Väter unserer Zusammenarbeit und Freundschaft Naoji Kimura, Yushu Zhang und Byongock Kim zusammen auftreten.
Auf diese ersten Treffen folgten viele weitere von den verschiedensten Initiatoren veranstaltete und in den unterschiedlichsten Formaten abgehaltene Tagungen, auf denen wir einander begegnet sind, unsere wissenschaftlichen Kontakte verstärken und unsere freundschaftlichen Beziehungen vertiefen konnten. Auf die Vätergeneration folgten längst die Söhne und Töchter. Um hier nur einige zu nennen: Teruaki Takahashi, Ryozo Maeda, Keiko Hamazaki, Jianhua Zhu, Bingjun Wang, Yu-Qing Wei, Minsuk Choe und die „Brüder Ahn“, so genannt von den deutschen Gästen, zuerst da die Vornamen der Namensvettern für sie etwas schwierig waren, dann aber weil die beiden doch brüderlich in einem Geiste zusammenarbeiten. Und inzwischen haben auch schon die Enkel den Faden der Entwicklung aufgegriffen, was wir ja unter anderem auch auf der letzten IVG-Tagung 2015 in Shanghai erleben konnten. In einer Welt der Spannungen und Krisen, die auch Asien sehr belasten, ist unter uns Germanisten eine Oase der Zusammenarbeit, des gegenseitigen Respekts und der grenzüberschreitenden Freundschaft entstanden. Dies nennen wir, die Nachwuchsgenerationen der asiatischen Germanistik, die „Freundschaft und Frieden fördernde“ Wirkung der deutschen Sprache als lingua franca in Ostasien und im ganzen asiatischen Raum. Wie ich bei etlichen Gesprächen erfahren habe, sind auch die deutschen Kollegen, die bei uns zu Gast waren, immer wieder von dieser Rolle der deutschen Sprache hier in Asien sehr angetan. Uns allen hier diese Entwicklung beim Eröffnungsvortrag der diesjährigen Asiatischen Germanistentagung wieder nachdrücklich ins Gedächtnis zu rufen, das war mir ein inneres Bedürfnis.
Natürlich ließen sich noch viele weitere Bereiche aufzeigen, in denen die Begegnung mit der deutschsprachigen Kultur Früchte für das geistige Leben und das Miteinander Asiens getragen hat, aber ich möchte jetzt an einem Beispiel auch aufzeigen, dass die Beziehungen zwischen der deutschen und der asiatischen Kultur keine Einbahnstraße sind, sondern dass diese Straße auch in der Gegenrichtung begangen wurde, wenn auch leider meist weitaus wirkungsloser. Daher möchte ich ein wenig über die Wirkung der asiatischen Philosophie auf das Abendland sprechen, und zwar am Beispiel der Rezeption der „altindischen Weisheit“ durch Arthur Schopenhauer. Doch möchte ich dabei auch auf ein Kernproblem der Rezeption deutscher Kultur in Asien hinweisen, nämlich auf die Frage, wie weit wir die deutsche Kultur in unserem eigenen Umfeld aus europäischer Perspektive betrachten sollten.
Zu den größten und bekanntesten Meistern des frühen koreanischen Buddhismus gehört Wonhyo (元曉, 617–686). Als ihm die Erleuchtung widerfuhr, soll er vor sich hin gesagt haben: „Alles wird nur durch das Bewusstsein geschaffen! (一切唯心造)“. Dieser Kernsatz der gesamten buddhistischen ←22 | 23→Lehre verweist bekanntlich darauf, dass die Erscheinungen der phänomenalen Welt nicht durch ihr eigenes Wesen, das es nach der buddhistischen Lehre überhaupt nicht gibt, sondern nur durch die Wahrnehmungen des Subjekts bestimmt werden. Nach der Yogachara-Lehre (唯識學, Nur-Bewusstsein-Lehre), der zentralen Erkenntnislehre des Buddhismus, werden alle Wahrnehmungen der fünf Bewusstseinsformen (das Gesicht, das Gehör, der Geruch, der Geschmack, das Gefühl ([der Berührungssinn]) und die sechste Bewusstseinsform, die diese fünf Sinne erst zu einer bedeutenden Information integriert) von der Siebten Bewusstseinsform (第七識), also von einer Art des ‚Unterbewusstseins‘, im Sanskrit ‚manas‘ genannt, zum eigenen Vorteil des Wahrnehmenden so ‚manipuliert‘ und ‚rekonstruiert‘, dass bei den leidenden Lebewesen der egoistische Trieb und die darauf basierende falsche Vorstellung entstehen. Diese beiden Eigenschaften der Lebewesen nennen die Hinduisten und nachher auch die Buddhisten im allgemeinen Leiden (beonnoe, 煩惱) und Trugbild (mangsang, 妄想), und dies sind wohl zwei zentrale Begriffe des Hinduismus und des Buddhismus überhaupt. Um es kurz zu sagen: Die Selbstzucht eines Buddhisten besteht meines Wissens hauptsächlich darin, diese beiden ‚Feinde‘ im eigenen Ich zu bekämpfen.
Als ich mir diese asiatische Erkenntnis angeeignet hatte und mir dann eines Tages anlässlich einer Untersuchung über Thomas Mann zufällig der Titel des Hauptwerks von Schopenhauer, „Die Welt als Wille und Vorstellung“, begegnete, schoss mir wie ein Geistesblitz die Idee in den Kopf, wie man den Titel des Buches ins Koreanische übersetzen sollte, denn dessen bisherige Übersetzung („意志와 表象으로서의 世界“) hatte mir nichts gesagt. Mir schien nämlich, dass der Werktitel wohl etwas mit jenen beiden Begriffen des Buddhismus zu tun haben könnte. Erinnerten mich doch die beiden Schlüsselbegriffe ‚Wille‘ und ‚Vorstellung‘ im Titel des Schopenhauer’schen Hauptwerks – nicht von ungefähr – an jenes ‚Manipulieren‘ und ‚Rekonstruieren‘ aller Informationen durch das wahrnehmende Subjekt, – eben durch seine Siebte Bewusstseinsform. Diese falsche ‚Vorstellung‘ des ‚wollenden‘ Menschen wird unter den asiatischen Buddhisten meistens durch das Gleichnis eines auf einem einsamen Weg liegen gebliebenen Stricks erklärt, den ein ängstlicher Wanderer in der abendlichen Dämmerung für eine Schlange hält.
Und, siehe, fast am Anfang des Buches „Die Welt als Wille und Vorstellung“, wo Schopenhauer die Welt nur als „meine Vorstellung“1 zu erklären versucht, liest man schon:
←23 | 24→‚Es ist die MAJA, der Schleier des Truges, welcher die Augen der Sterblichen umhüllt und sie eine Welt sehen läßt, von der man weder sagen kann, daß sie sei, noch auch, daß sie nicht sei: denn sie gleicht dem Traume, gleicht dem Sonnenglanz auf dem Sande, welchen der Wanderer von ferne für ein Wasser hält, oder auch dem hingeworfenen Strick, den er für eine Schlange ansieht.‘ (Diese Gleichnisse finden sich in unzähligen Stellen der Veden und Puranas wiederholt.) Was Alle diese aber meinten und wovon sie reden, ist nichts Anderes, als was auch wir jetzt eben betrachten: die Welt als Vorstellung.2
Eine genauere Übereinstimmung lässt sich wohl kaum denken!
Koreanische Philosophen und Germanisten, die sich bisher wohl mit großer Anstrengung darum bemüht hatten, Schopenhauer als Erbe der europäischen Philosophie seit Platon und Kant richtig zu verstehen, übersahen oder vergaßen dabei leider die buddhistischen Züge, die ihnen selbst als Asiaten ansonsten ziemlich vertraut sein sollten, und folglich übersetzen sie die beiden Begriffe von Schopenhauer als ‚unbeugsamen bzw. zielstrebigen Willen‘ (euiji, 意志) (etwa der Wille eines jungen aufrichtigen konfuzianistischen Gelehrten und Beamten gegen die willkürliche Machtausübung eines Intriganten – also im Großen und Ganzen ein ziemlich positives Wort im Koreanischen!) und ‚Erscheinungsbild des Wesens‘ (pyosang, 表象), so dass sie nicht einmal daran dachten, Wille auch als Trieb zum eigenen Vorteil oder als Begierde etwas negativer zu verstehen und auch Vorstellung als Trugbild oder Illusion des egoistischen Wahrnehmenden zu übersetzen. Daher wurden die Wörter ‚Wille‘ und ‚Vorstellung‘, die im genannten Werk Schopenhauers unzählige Male vorkommen, immer als ‚unbeugsamer Wille‘ (oder: ‚Zielstrebigkeit‘) und als ‚Erscheinungszeichen des Wesens‘ übersetzt, so dass das Hauptwerk Schopenhauers in Korea entstellt und verzerrt aufgenommen werden musste. Hier hat das Gefühl, der europäischen Denktradition folgen zu müssen, den naheliegenden asiatischen Zugang zu diesem Text verstellt, denn bei diesem Missverständnis und der falschen Übersetzung der beiden Begriffe Schopenhauers können wohl auch die Kantischen Begriffe, das ‚Ding an sich‘ (muljache, 物自體) und die ‚Erscheinung‘ (hyeonsang, 現象), als Vorurteile eine gewisse Rolle gespielt haben. Denn ‚pyosang‘ im Koreanischen ist in seiner Bedeutung näher bei ‚Erscheinung‘ als bei ‚Vorstellung‘ (sangsang, 想像).
Für mich jedenfalls scheinen die beiden wichtigsten Begriffe Schopenhauers in diesem Buch, nämlich Wille und Vorstellung, wenn nicht schon buddhistisch, so doch mit der „uralten indischen Weisheit“, unmissverständlich verbunden zu sein.←24 | 25→
Was das richtige Schopenhauer-Verständnis betrifft: Auch die Europäer haben meines Erachtens ihren Schopenhauer wiederum ziemlich einseitig aufgenommen, weil sie ihrerseits Schopenhauers Bemerkung in seiner „Vorrede zur ersten Auflage“ der „Welt als Wille und Vorstellung“ übersahen bzw. ignorierten – nämlich seine ausdrückliche Bemerkung, dass der Leser vor seiner Lektüre am besten „der Wohlthat der VEDA’s theilhaftig“ geworden sein und „die Weihe uralter Indischer Weisheit“3 aufgenommen haben sollte. Die deutsche Schopenhauer-Forschung scheint mir so lückenhaft zu sein, dass viele deutsche Autoren – ausgenommen Ludger Lütkehaus – in ihren Schopenhauer-Monographien dem Buddhismus kaum einen Satz gegönnt haben.
Details
- Pages
- 490
- Publication Year
- 2022
- ISBN (PDF)
- 9783034326308
- ISBN (ePUB)
- 9783034326315
- ISBN (MOBI)
- 9783034326322
- ISBN (Softcover)
- 9783034326391
- DOI
- 10.3726/b19282
- Language
- German
- Publication date
- 2022 (August)
- Keywords
- Räumlicher Wandel Wandel des Menschenbildes Wandel der Wissensformen neue Wissenschaft Zeit-Wandel
- Published
- Bern, Berlin, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 490 S., 20 s/w Abb.