Das Politische der Wissenschaft
Summary
Excerpt
Table Of Contents
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhalt
- Vorwort Herausgeberin und Herausgeber (Nancy Andrianne/Manfred Gabriel/Franz Gmainer-Pranzl)
- Vorwort ÖH Salzburg (Kay-Michael Dankl)
- Beiträge der Ringvorlesung
- Das Politische der Wissenschaft an der ökonomisierten Managementuniversität: Zur Lage von Kritischer Theorie und Öffentlicher Soziologie. Erfahrungen und Reflexionen eines Soziologen (Max Preglau)
- Das Politische der Germanistik. 200 Jahre Geschichte(n) aus der Germanistik und ihrem Umfeld (Siegrid Schmidt)
- Statistik und Interessenskonflikte – ein unüberwindbares Problem? Beispiele aus sozialen Medien und dem Wissenschaftsbetrieb (Georg Zimmermann)
- Ökonomische Betrachtungsweise von Schule. Verortung zwischen Neuer Steuerung, Organisation, Leistungsevaluation und Bildung (Nancy Andrianne)
- Politische Theologie – ein Beitrag zur Gesellschafts- und Wissenschaftskritik (Franz Gmainer-Pranzl)
- Gegen neoliberale Externalisierung und Sachzwang: „Wirtschaft“ als gesellschaftliche Angelegenheit am Beispiel der Corona-Krise (Stefanie Hürtgen)
- Spannungsfelder in der angewandten Sozialforschung und Sozioökonomie (Andrea Schmidt)
- Das Politische an der Rechtswissenschaft (Otto Lagodny)
- Das Politische der Wissenschaft nach Adorno (Dominik Gruber)
- Kritische akademische Lehrerinnen- und Lehrerausbildung als „Eingedenken in die Natur der Aufklärung“ (Manfred Oberlechner-Duval)
- Wissenschaft als Beruf(ung). Eine kritische Skizze in zwölf Teilen (Manfred Gabriel)
- Weitere Beiträge
- Institutionelle Logiken in der reformierten Hochschule: Wie unterschiedliche Konzeptionen der Universität organisationale Gleichstellungsarbeit (de)legitimieren (Katharina Kreissl/Angelika Striedinger)
- Wie wir zu forschenden Individuen werden. Mit Bernard Stiegler gegen das Denken einer „disembodied rationality“ in der Wissenschaft (Flora Löffelmann)
- Wissen im Widerspruch, Wissen als Widerspruch. Umriss einer ambivalenten Beziehung (Sonja Riegler)
- Rechtswissenschaft als politisches Handlungsinstrument (Nikolaus Dimmel)
- Questioning Science. Historische und kritische Analyse einer globalen und hegemonialen Wissensinstitution (Maia Loh)
- Wissenschaft – eine diskursive Praxis (Maximilian Niesner)
- Anhang
- Programm der Ringvorlesung „Das Politische der Wissenschaft“ im Sommersemester 2018 an der Universität Salzburg
- Autorinnen und Autoren
- Übersetzerin
- Reihenübersicht
Vorwort
Herausgeberin und Herausgeber
Was ist das Politische der Wissenschaft? Diese Frage stellt sich nicht nur anlässlich brisanter gesellschaftspolitischer Forschungsthemen, Interventionen der Politik im Wissenschaftsbetrieb oder konkreter Protestaktionen von Studierenden, sondern viel grundsätzlicher: Wissenschaft erfolgt im Kontext gesellschaftlicher Interessen und Machtstrukturen, nicht im viel zitierten Elfenbeinturm. Auch der Versuch des Rückzugs auf eine „reine Wissenschaft“, die angeblich frei von politischen Interessen wäre, kann Lehre und Forschung an der Universität nicht aus der Abhängigkeit von öffentlichen Erwartungshaltungen, ökonomischen Zielen oder sozialen Dynamiken befreien. Gerade die Tendenz, Fragen nach der gesellschaftlichen Verantwortung, dem kritischen Potential und möglichen normativen Gehalten von Wissenschaft in den Hintergrund zu drängen und universitäre Studien dem Druck auszusetzen, ökonomisch „anwendbar“ und praktisch „verfügbar“ zu sein, ist alles andere als „unpolitisch“. Eine scheinbar entpolitisierte Wissenschaft, für die nur „messbare Daten“ zählen, während Fragen nach Werten und Normen, sozialer Gerechtigkeit, gesellschaftlicher Verantwortung und Humanität tendenziell als „nichtwissenschaftliche Angelegenheit“ angesehen werden, ist in höchstem Maß politisch – sie folgt den Interessen bestimmter gesellschaftlicher Akteure.
Dieses Spannungsfeld zwischen Freiheit und Verantwortung der Wissenschaft, unabhängiger und interessensgeleiteter Forschung, exakten Methoden und komplexen Lebensbedingungen war Thema einer interdisziplinären Ringvorlesung, die im Sommersemester 2018 an der Universität Salzburg stattfand. Kolleginnen und Kollegen aus den unterschiedlichsten Fachbereichen der Universität Salzburg sowie weiteren Universitäten und Forschungseinrichtungen setzten sich aus der Perspektive ihres Faches und Forschungsgebietes mit der Herausforderung des „Politischen der Wissenschaft“ auseinander. In den Vorträgen und Diskussionen wurde dabei auf verschiedene – und immer wieder auch überraschende – Weise bewusst, wie sehr wissenschaftliche Arbeit von politischen Einflüssen geprägt ist, aber auch wie politisch wirksam sie werden kann. Die Vortragenden zeigten diese Wechselwirkungen an Themen wie der Situation von Wissenschaft in Diktaturen, der Sensibilität von Wissenschaft für gesellschaftspolitische Entwicklungen, der allgegenwärtigen „Messbarkeit“ ←9 | 10→und Ökonomisierung von Wissenschaft, der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern, der politisch ambivalenten Rolle von Theologie, der Relevanz ökonomischer Interessen in verschiedenen Forschungsbereichen sowie damit zusammenhängenden rechtswissenschaftlichen, politikwissenschaftlichen und soziologischen Fragen. Weitere Beiträge von Kolleginnen und Kollegen, die sich in ihrer Arbeit ebenfalls mit dem „Politischen der Wissenschaft“ auseinandersetzen und im zweiten Teil dieses Bandes abgedruckt sind, steuern weitere wertvolle Einsichten bei, die von Logiken der Universitätsreform über feministische Wissenschaftstheorie, die politischen Hintergründe von Veränderungen rechtswissenschaftlicher Curricula, Möglichkeiten epistemischen Widerspruchs bis hin zu grundsätzlichen Fragen des Verständnisses von Wissenschaft reichen.
Insgesamt geht es den Vorträgen der Ringvorlesung bzw. den Beiträgen dieses Bandes sowohl auf einer wissenschaftstheoretischen Ebene als auch mit Blick auf konkrete Problemstellungen um eine Auseinandersetzung mit folgenden Fragen:
- –Ermöglicht die inhaltliche Ausrichtung der Wissenschaft (überhaupt noch) eine (gesellschafts-)politische Reflexion?
- –Wie verhalten sich die Vorstellung eines „wertfreien“ Wissens einerseits und einer sozial engagierten Wissenschaft andererseits?
- –Welchen Stellenwert haben Universitäten und Wissenschaften (noch) für Gesellschaft und Politik, bedenkt man die zunehmende Ökonomisierung aller Lebensbereiche und deren Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen von Menschen, die Teil des Wissenschaftssystems sind oder werden wollen?
- –Welche Folgen haben aktuelle Politiken eines Antiakademismus, die deutlich machen, inwiefern Wissenschaft und ihre Expertise bestimmten Herrschaftspositionen im Weg ist?
- –Worin besteht konkret die gesellschaftliche Verantwortung von Wissenschaft?
- –Was bedeutet „das Politische“ für unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen?
Das Ziel der Ringvorlesung bzw. des Sammelbandes war und ist es, die Leserinnen und Leser für die Wechselbeziehungen zwischen wissenschaftlicher Theorie, universitärem Selbstverständnis und gesellschaftlicher Verantwortung zu sensibilisieren und eine kritische Nachdenklichkeit mit Blick auf das Verständnis von „Bildung“ und „Forschung“ zu fördern. Gerade die Corona-Epidemie, die die Arbeiten zur Fertigstellung dieses Bandes überschattete, machte auf besonders dringliche, ja dramatische Weise den politischen Kontext von „Wissenschaft“ bewusst und rief die gesellschaftliche bzw. globale Verantwortung wissenschaftlicher Arbeit in Erinnerung – diese „Lektion“ ist wohl lehrreicher als die gesamte Ringvorlesung.←10 | 11→
Wir danken allen, die zum Gelingen dieses Publikationsprojekts beigetragen haben: den Vortragenden der Ringvorlesung, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern an dieser Lehrveranstaltung, den Autorinnen und Autoren der Beiträge, den finanziellen Unterstützern sowie Frau Lena Schützle (München) und Frau Elisabeth Höftberger (Salzburg) für die engagierte Mitarbeit bei der Erstellung des Manuskripts.
Salzburg, im August 2021
Nancy Andrianne/Manfred Gabriel/Franz Gmainer-Pranzl
Vorwort
ÖH Salzburg – Studienvertretung Doktorat Kultur- und Gesellschaftswissenschaften
Verhältnisse – seien sie gesamtgesellschaftlich oder auf die Universität bezogen – zu hinterfragen, fällt heutzutage nicht leicht. Die gesellschaftlichen Bedingungen, die uns alltäglich umgeben, wirken oft wie eine scheinbar natürliche Umwelt, die fix gegeben und damit alternativlos ist. Die Organisationsform der Universität, die Rahmenbedingungen des Studierens, die bürokratische Reglementierung von Lehren und Forschen, die räumliche Gestaltung des Campus etwa scheinen kein Gegenstand sozialer und politischer Aushandlungsprozesse zu sein, sondern unpolitische Rahmenbedingungen, die man an der Hochschule vorfindet und mit denen der oder die Einzelne zurechtkommen muss. Damit entziehen sie sich der Fantasie, sie auf demokratischen Wege verändern und umgestalten zu können.
Die Hochschule von heute scheint zunehmend der Logik des Marktes zu folgen. Die „unternehmerische“ Hochschule habe effizient Absolvent*innen zu „produzieren“, Forschungsergebnisse für die unternehmerische Verwertung zu liefern und dabei möglichst wenige staatliche Ressourcen zu beanspruchen – geschweige denn den wirtschaftlich-gesellschaftlichen Betrieb in seinem Voranschreiten zu stören. Die spezifischen Interessen, die den Universitäten, Lehrenden, Forschenden, Studierenden und weiteren Bediensteten eine bestimmte Ordnung aufdrängen, wirken unsichtbar, solange sie nicht angesprochen und hinterfragt werden.
Um die irreführende Wirkung von Verhältnissen als vermeintlich vor-politisch oder naturgegeben zu entlarven, hilft der Vergleich mit anderen Modellen, die wir an verschiedenen Orten oder in der Geschichte suchen können. Der Vergleich fördert Unterschiede zutage, die Anknüpfungspunkte für Reflexion, Kritik und die Idee der Gestaltbarkeit sein können. Auch innerhalb eines Modells kritisch zu hinterfragen, welche Funktionen erfüllt werden, wer Macht hat oder davon profitiert und was dabei auf der Strecke bleibt, kann aufzeigen, dass die Dinge auch anders sein könnten. Die in diesem Sammelband vertretenen Beiträge zeigen, wie produktiv diese Zugänge sind.
Den technokratischen Nimbus der Wissenschaft als vermeintlich unpolitische Sphäre zu zerstreuen und einen klaren Blick auf die wissenschaftlichen ←13 | 14→und universitären Verhältnisse zu ermöglichen, ist eine Grundvoraussetzung, um demokratische Wissenschaftspolitik zu betreiben. Erst was als veränderbar erkannt wird, kann umgestaltet werden.
Diesen Anspruch verfolgt die Österreichische Hochschüler*innenschaft (ÖH) als Interessensvertretung der Studierenden, aber auch viele Studierende, die kritisch nachdenken, sich organisieren und – wie etwa bei den UniBrennt-Protesten von 2009 – Phasen hochschulpolitischer Debatten und des Aktivismus anstoßen.
In diesem Sinne ist dieses Buchprojekt mit den Einblicken und Erkenntnissen der Ringvorlesung „Das Politische der Wissenschaft“ aus dem Sommersemester 2018 an der Universität Salzburg sehr wertvoll. Es ist ein wichtiger Beitrag, um den Nebel der Verhältnisse zu lichten, universitäts- und wissenschaftspolitische Analysen zu schärfen und Studierende sowie Studierendenvertreter*innen bei ihrer Suche nach Handlungsmöglichkeiten zu unterstützen.
Salzburg, im Mai 2021
Kay-Michael Dankl
Das Politische der Wissenschaft an der ökonomisierten Managementuniversität:
Zur Lage von Kritischer Theorie und Öffentlicher Soziologie. Erfahrungen und Reflexionen eines Soziologen
Abstract: The first section of this contribution draws on the post-empirical (Karl Popper, Thomas Kuhn) and critical theories of science (Karl-Otto Apel, Jürgen Habermas) and seeks to identify the aspects of science in general, and sociology in particular, which are value- and interest-related, and thus have implications which are (potentially, at the very least) political. Following Michael Buroway two versions of normative-critical theories are then identified: critical theory in the narrow sense conducted in the field of academia, and applied “public sociology” addressing social groups that are affected by social dominance, exclusion and inequality. The second section demonstrates, based on the findings of critical research at social, university and technical levels, that the conditions for the creation of a critically reflective sociology and the adoption of a politically progressive “public sociology” in the wake of wide-ranging social transformations have altered dramatically and become far more difficult – at the macro-level of society as a whole, the meso-level of the universities and the cognitive level of discourse and knowledge systems. The third section asks, in conclusion, whether future perspectives for Critical Theory and “Public Sociology” still exist in this new situation, and if so, what they are.
Keywords: universities, education, post-Fordism, management university, postmodernism
In diesem Beitrag möchte ich klären, ob und wo es Politisches in der universitären Wissenschaft gibt, und nachzeichnen, wie sich dieses Politische der Wissenschaft an den österreichischen Universitäten entwickelt hat. Zu diesem Zweck werde ich zunächst versuchen, im Lichte der Wissenschaftstheorie die Wert- und Interessensbezüge und damit das zumindest potentiell Politische der Wissenschaft im Allgemeinen und der Soziologie im Besonderen herauszuarbeiten (1). In der Folge möchte ich darlegen, wie sich die Bedingungen der Produktion und Rezeption einer kritisch-reflexiven Soziologie und einer sich als Anwalt und Aufklärer eines politischen Publikums verstehenden „Öffentlichen Soziologie“ verändert haben. Ich untersuche dabei drei Ebenen: die Makroebene der Gesamtgesellschaft, die Mesoebene der Universitätsorganisation und die kognitive Ebene der Diskurse und Wissenssysteme, um herauszufinden, welche Auswirkungen diese Veränderungen auf das durch Wissenschaft Wiss- und Sagbare und damit aber auch auf die politische Funktion von Wissenschaft haben (2). Abschließend möchte ich klären, welche Zukunftsperspektiven für Kritische Theorie und „Öffentliche Soziologie“ in dieser neuen Situation bestehen (3).
1 Das Politische der Wissenschaft: Wertbezüge wissenschaftlicher Forschung
1.1 Wert- und Interessensbezüge wissenschaftlicher Forschung aus empirisch-analytischer Sicht
Selbst nach klassisch „positivistischer“ Sicht1 gilt: Wert- und Interessensbezüge und damit potentiell politische Bezüge sind im Objektbereich (als Gegenstände der Wissenschaft) unproblematisch und im „Basisbereich“ bzw. im „Entdeckungszusammenhang“ (Welches Problem mache ich zum Forschungsthema: Produktivität und Effizienz vs. Verteilungsgerechtigkeit? Welche Theorien lege ich dabei zugrunde: Verhaltens- vs. Handlungstheorie, Ordnungs- vs. Konflikttheorie? Welche Methoden wende ich an: quantitatives vs. qualitatives Paradigma, experimentelle vs. kommunikative Validierung?) sowie im „Verwertungs- und Wirkungszusammenhang“ (Was geschieht mit den Ergebnissen? Wem werden sie zur Verfügung gestellt?) unvermeidlich. Im Aussagenbereich bzw. im „Begründungszusammenhang“ gelten sie freilich als verboten.
Bereich |
Wertbezug |
---|---|
Basisbereich/Entdeckungszusammenhang; Verwertungs- und Wirkungszusammenhang |
erlaubt, da unvermeidlich |
Objektbereich |
erlaubt, da unproblematisch |
Aussagenbereich/Begründungszusammenhang |
verboten, da rational nicht diskutierbar |
←17 | 18→Die sogenannte „postempiristische Wissenschaftstheorie“2 hat diesen wert- und politikgeladenen Charakter von Wissenschaft noch verstärkt, indem sie die Grenzen logischer und empirischer Argumente bei der Theorie und ←18 | 19→Methodenwahl aufgezeigt hat: Diese bleibt abhängig vom zugrundeliegenden „Paradigma“, dessen Auswahl seinerseits weder logisch noch empirisch zwingend begründet oder verworfen werden kann; ästhetische und ethisch-politische Werte, Grundüberzeugungen und präreflexive kulturelle Selbstverständlichkeiten spielen auch hier eine entscheidende Rolle.
1.2 Wert- und Interessensbezüge der Wissenschaft aus normativ-kritischer Sicht
Jürgen Habermas3 und Karl Otto Apel4 haben bekanntlich im Zuge des „Positivismusstreits“ in den 1960er- und 1970er-Jahren darauf hingewiesen, dass auch der sogenannte „Aussagenbereich“ bzw. „Begründungszusammenhang“ keine wert- und interessensneutrale Sphäre ist.
- –Der vermeintlich wertfreien, empirisch-analytischen Wissenschaft liegt ein technisches Erkenntnisinteresse zugrunde, das in die Logik der Begründung selbst eingeschrieben ist: Durch die Forderung nach experimenteller Reproduzierbarkeit wird Wirklichkeit ins Handlungsschema möglichen technischen Verfügens gebracht und die prototypische tatsächliche technologische Anwendbarkeit zum Prüfkriterium einer Theorie erhoben.
- –Das Monopol der empirisch-analytischen Wissenschaft in den Sozialwissenschaften birgt die Gefahr, dass die manipulative Logik des instrumentellen Verfügens auch in die Welt der interpersonalen Beziehungen eindringt und dort zur Errichtung und Erhaltung von sozialer Herrschaft beiträgt.
- –Der Allgemeinverbindlichkeitsanspruch der empirisch-analytischen Wissenschaften geht zu Lasten anderer Wissenschaften, deren Wertbezüge bzw. Erkenntnisinteressen sich ihrerseits als objektive Menschheitsinteressen legitimieren lassen, und zwar der
- ohermeneutisch-interpretativ verfahrenden „sinnverstehende“ Sozial- und Kulturwissenschaften: Diesen liegt ein „praktisches Erkenntnisinteresse“ an intersubjektiver Verständigung über historische, kulturelle und subkulturelle Grenzen hinweg zugrunde; und der
- o„tiefenhermeneutisch“ verfahrenden, „szenisch verstehenden“ normativ-kritischen Sozial- und Kulturwissenschaften, die die Erklärung unbewusster ←19 | 20→Verhaltenszwänge und undurchschauter Handlungseffekte für ein vertieftes (Selbst-)Verständnis von Individuum und Gesellschaft nutzbar machen.
Dieser erkenntnisanthropologische Ansatz (den Habermas nach seiner Wende zur Kommunikationstheorie in den 1980er-Jahren zwar nicht weiter verfolgt, aber m. W. auch niemals revoziert hat) macht deutlich, dass durch die Struktur des Begründungszusammenhangs der allgemeine Typus des praktischen Verwendungszusammenhangs bereits antizipiert wird: Manipulation von Massen durch eine professionelle Elite von Manipulatoren, Verständigung zwischen sozialen Gruppen und Kulturen über soziale und historische Abstände hinweg oder Aufklärung eines undurchschauten Zwängen ausgesetzten und ideologisch verblendeten Publikums.
Wie lässt sich dieses Erkenntnisinteresse an Aufklärung rechtfertigen? Im Anschluss an George Herbert Mead5 und Jürgen Habermas6 können wir aber auch davon ausgehen, dass universelle und uneingeschränkte Kommunikation auch die Voraussetzung dafür ist, dass sich Menschen als „animalia socialia“ voll entfalten und individualisieren, mit anderen unbefangen austauschen und einander wechselseitig erkennen und anerkennen und inspirieren können, und dass zugleich das Inklusionspotential und das Handlungsrepertoire der Gesellschaft erweitert wird. Damit stellt sich für SoziologInnen als eine der vornehmsten Aufgaben, Gesellschaft im jeweiligen speziellen Feld kritisch daraufhin zu befragen, ob universelle Kommunikation durch die jeweils bestehenden sozialen Bedingungen ermöglicht oder behindert wird.
Details
- Pages
- 462
- Publication Year
- 2022
- ISBN (PDF)
- 9783631879443
- ISBN (ePUB)
- 9783631879450
- ISBN (Hardcover)
- 9783631879405
- DOI
- 10.3726/b19856
- Language
- German
- Publication date
- 2022 (June)
- Keywords
- Ökonomisierung der Universitäten Ökonomisierung der Bildung Wissenschaftstheorie Gesellschaftskritik Diskursive Praxis Politische Theologie Positivismuskritik Kritische Theorie Akademisches Proletariat
- Published
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 462 S., 2 farb. Abb., 2 s/w Abb., 5 Tab.