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Kooperationen im Theater. Institutioneller Wandel der freien darstellenden Künste

von Mara Ruth Wesemüller (Autor:in)
©2022 Dissertation 342 Seiten

Zusammenfassung

In der Freien Szene arbeiten, das heißt primär, dezidiert nicht am „Stadttheater" zu arbeiten. Diese historisch gewachsene Opposition scheint allerdings aufzuweichen, angesichts wachsender Kooperationstätigkeiten und vielfältiger Interorganisationsbeziehungen zwischen Akteur:innen der Freien Szene und öffentlich getragenen Theatern seit den 2000er Jahren – von Koproduktionen und Kooperationen, über Kurator:innen der darstellenden Künste bis hin zu hybriden Strukturen. Warum kooperieren freie Gruppen mit öffentlich getragenen Theatern, angesichts der historischen Entwicklung der Freien Szene und der dezidierten Abkehr freier Theaterschaffender von Strukturen und Arbeitsweisen öffentlich getragener Theater? Diese Frage steht im Zentrum des hier vorliegenden interdisziplinären Forschungsbeitrags.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Herzlichen Dank
  • Hinweis zur gendersensiblen Sprache
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • Teil I (Diskursanalytischer Teil): Auf der Spur nach dem Status Quo
  • 2. ‚Stadttheater‘ und ‚Freie Szene‘: eine diskursanalytische Standortbestimmung
  • 3. Das Wechselverhältnis zwischen Freier Szene und öffentlich getragenen Theatern
  • 3.1. Koproduktionen
  • 3.2. Kooperationen
  • 3.3. Kuratorische Praxis
  • 3.4. Institutionelle Verschiebungen
  • Zwischenfazit 1: Ein Praxisfeld im Testlauf
  • Teil II (Theoretischer Teil): Arenen des institutionellen Wandels der Freien Szene
  • 4. Arena I: Anerkennung und Legitimierung der Produktion
  • 4.1. Institutionalisierung aus Sicht des Neoinstitutionalismus
  • 4.1.1. Organisationale Felder
  • 4.1.2. Institutionelle Umwelten und Erwartungen
  • 4.1.3. Institutionalisierungsarbeit
  • 4.1.4. Interorganisationale Beziehungen: Netzwerke und Kooperationen
  • 4.2. Die Institutionalisierung des freien Theaters
  • 4.2.1. Entwicklung der Zuwendungspraxis
  • 4.2.2. Entwicklung der Infrastruktur und Formierung als kulturpolitischer Akteur
  • 5. Arena II: Generationale Lagerung der Produzierenden
  • 5.1. Einordnung des Generationsbegriffs
  • 5.2. Altersstruktur in den freien darstellenden Künsten
  • 5.3. Generationaler Wandel des Selbstverständnisses
  • 5.4. Generationenwechsel als Herausforderung
  • 6. Arena III: Professionalisierung der Produktion und der Produzierenden
  • 6.1. Kennzeichen freier Theaterarbeit im Kontext der Kulturwirtschaft
  • 6.2. Wandel der Arbeitsbiografien freier Theaterschaffender
  • Zwischenfazit 2: Arenen und ihre Wechselwirkungen und Pfadeffekte
  • Teil III (Empirischer Teil): Kooperationen zwischen Freier Szene und öffentlich getragenen Theatern
  • 7. Methodisches Vorgehen: vom Material her denken
  • 7.1. Die Erhebungsmethode: leitfadengestützte Interviews
  • 7.2. Die Leitfäden: Idee und Entwicklung im Forschungsprozess
  • (1) Kontextfaktoren für das Entstehen einer Kooperation
  • (2) Voraussetzungen der Kooperation
  • (3) Ausgestaltung der Kooperation
  • (4) Inter- und intraorganisationale Auswirkungen
  • (5) Kulturpolitische Entwicklungen
  • 7.3. Das Sample: Herausarbeitung typischer Fälle
  • 7.4. Die Auswertungsmethode: qualitative Inhaltsanalyse
  • 8. Entwicklungspfade der Freien Szene (am Beispiel Niedersachsens)
  • 8.1. Gründungsimpulse: politisch, ästhetisch und aus der Not heraus
  • 8.2. Infrastruktur, Ressourcen und Förderbedingungen
  • 8.3. Ästhetik(en): Heterogen und spartenübergreifend
  • 8.4. Arbeitsbedingungen: zwischen Freiheit und Unsicherheit
  • 9. Warum überhaupt kooperieren? Kooperationen als alternativer Produktionsmodus
  • 9.1. Kooperationen: Motive, Anbahnung, Ablauf
  • 9.2. Kooperationen im Theater: das Unmögliche möglich machen?
  • (1) Proben
  • (2) Verantwortung für künstlerische Produktion
  • (3) Ästhetik
  • (4) Profession und Professionalität
  • (5) Produktionsmodell
  • (6) Bekenntnis zu/Einsatz für Kooperation
  • 9.3. Kooperation, Koproduktion, Gastspiel: ein Versuch der Unterscheidung
  • 9.4. Kooperative Ästhetik durch institutionelle Verschiebungen
  • 9.5. Das neue kooperative Denken. Arbeiten in institutionalisierten Netzwerken
  • 10. Schlussfolgerungen
  • 10.1. Folgen der Kooperationstätigkeit zwischen freien Gruppen und öffentlich getragenen Theatern
  • 10.2. Institutionelle Rahmenbedingungen und kooperatives Selbstverständnis der freien darstellenden Künste
  • 10.3. Kulturpolitische Forderungen, die bleiben
  • 10.4. Kooperationen als Symptom institutionellen Wandels
  • Teil IV (Fazit) Ein System im Übergang? Verschwimmende Grenzen
  • (1) Die Freie Szene ist innovativ
  • (2) Die Freie Szene ist frei
  • (3) Die Freie Szene ist multilokal
  • (4) Die Freie Szene ist relevant
  • Literaturverzeichnis
  • Internetquellen
  • Interviewpartner:innen
  • Reihenübersicht

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1. Einleitung

Im November 2019 treffen sich rund 140 Theaterschaffende in Halle/Saale, um die vielfältigen Kooperationsbeziehungen zwischen Freier Szene und öffentlich getragenen Theatern zu reflektieren. Zu diesem Zeitpunkt hat die Kulturstiftung des Bundes (KSB) mittels des Fonds „Doppelpass“ genau 100 Projekte gefördert oder in die Förderung aufgenommen. Die Dokumentation dieses Arbeitstreffens zeigt Bilder, auf denen exemplarisch die Haltung zu bestimmten Fragen der an Kooperationen Beteiligten festgehalten wird. Eine repräsentative Live-Stichprobe aus 100 Doppelpass-Projekten, entwickelt von und mit Aljoscha Begrich und Sebastian Brünger nach einem Konzept von Rimini Protokoll, reflektiert Fragen nach der Qualität der Zusammenarbeit, inwiefern weitere Zusammenarbeiten aus der von der Kulturstiftung finanzierten Kooperation entstanden sind oder bei wem die Kooperation strukturelle Spuren hinterlassen hat. Das Bild zur Frage nach strukturellen Spuren ist besonders beeindruckend, denn es zeigt, wie fast alle Beteiligten auf die Seite wechseln, auf der die Bejahung der Frage markiert ist (vgl. Kulturstiftung des Bundes 2020: 14).

Kooperationen zwischen Freier Szene und öffentlich getragenen Theatern stellen ein relevantes, neues Praxisfeld zwischen den beiden Sphären der deutschen Theaterlandschaft dar. Diese haben nicht nur ästhetische, sondern auch strukturelle Konsequenzen für daran beteiligte Theater und Gruppen. Kooperationen werden im vorliegenden Forschungsbeitrag angesichts des Anerkennungs- und Legitimierungsprozesses der Freien Szene seit den 1960er und 1970er Jahren (Fülle 2016) abseits öffentlich getragener Theater als ein Symptom institutionellen Wandels gelesen, da sich freie Gruppen nicht zuletzt durch Programmlinien wie den Fonds „Doppelpass“ der KSB institutionell geförderten Strukturen zuwenden. Gleichzeitig interessieren sich Akteur:innen in öffentlich getragenen Theatern seit Ende der 1990er Jahre vermehrt für Ästhetiken der Freien Szene – im Zuge eines damit verbundenen Öffnungs- und Reflexionsprozesses der eigenen, institutionell geförderten Strukturen in jüngster Zeit auch für die Arbeits- und Produktionsweisen der Freien Szene. Kooperationen stehen darüber hinaus für einen Wandel des Wechselverhältnisses zwischen projektbezogener ←17 | 18→und institutionell geförderter Theaterkunst in Deutschland und werden maßgeblich durch einen institutionellen Wandel innerhalb der Freien Szene befördert. Gründe für diesen sind zum einen die Professionalisierung freier Theaterschaffender sowie die Institutionalisierung der Szene durch eigene Spielstätten, Produktionshäuser und eine öffentliche Förderinfrastruktur. Zum anderen spielen die Organisation von Interessenvertretung und die Etablierung von Netzwerken, die Internationalisierung des Gastspielbetriebs sowie Festivals als temporäre, aber als Format institutionalisierte Organisationsformen eine entscheidende Rolle bei der Etablierung der Freien Szene als organisationales Feld.

Bisherige Forschungsbeiträge zum Thema Kooperationen im Feld der darstellenden Künste sind rar, was sich auch mit der relativ jungen Entwicklung dieses Phänomens im Praxisfeld erklären lässt. Nichtsdestotrotz ist die Hybridisierung zwischen Freier Szene und öffentlich getragenen Theatern – z.B. durch Formate wie Bürgerbühnen unter expliziter Beteiligung freier Theaterschaffender und Gruppen oder durch interorganisationale Beziehungen wie Kooperationen – ein Indikator institutionellen Wandels (nicht nur) in den freien darstellenden Künsten. Empirisch lassen sich vielfältige Kooperationsbeziehungen im Praxisfeld der (freien) darstellenden Künste feststellen (vgl. Kapitel 3 und 9). Die Analyse dieses produktionsästhetischen, neuen Phänomens fällt in die Bezugswissenschaften der Theaterwissenschaft und der Kulturmanagementforschung. Innerhalb der Theaterwissenschaft positioniert sich dieser Forschungsbeitrag daher mit einer produktionsästhetischen, an sozialwissenschaftlichen Methoden orientierten Perspektive und knüpft damit an jüngere Entwicklungen des interdisziplinären Dialogs und der damit verbundenen Öffnung des Faches an (vgl. Balme/Szymanski-Düll 2020; Wihstutz/Hoesch 2020). Schulte zeigt anhand des Regieduos Auftrag:Lorey auf, wie freie Gruppen mit und gleichzeitig gegen institutionalisierte Strukturen des öffentlich getragenen Theaters arbeiten und spiegelt damit die Ambivalenz von ästhetischer Verflüssigung einerseits und einer „Institutionsästhetik“ (Schulte 2015: 92 f) der öffentlich getragenen Häuser andererseits, mit der freie Gruppen im Rahmen einer Kooperation konfrontiert sind. Neumann reflektiert im Interview mit Regisseur Tomas Schweigen – der sowohl an öffentlich getragenen Theatern, wie auch in der Freien Szene arbeitet –, dass Kooperationen zwischen Freier Szene und öffentlich getragenen Theatern ein jüngeres ←18 | 19→Phänomen im Gegenwartstheater darstellen, dem ein institutioneller Wandel zugrunde liegen könnte und plädiert für eine weiterführende Analyse (Neumann 2015: 106). Aus kulturmanagerialer Perspektive sind die Arbeiten von Weber (2015) und Keil (2012) zu nennen, in denen konkret Kooperationstätigkeiten zwischen freien Gruppen und öffentlich getragenen Theatern benannt werden. Weber untersucht anhand ausgewählter Kooperationen den Fonds „Doppelpass“ der Kulturstiftung des Bundes und inwiefern die Kooperationspartner von der Zusammenarbeit profitieren. Inhaltlich schließt dieser Forschungsbeitrag an die Evaluation der Kulturstiftung des Bundes an (de Perrot 2016), bei der Projektpartner zur Zusammenarbeit befragt wurden und infolgedessen die Kulturstiftung die Regelungen des Fonds „Doppelpass“ u.a. hinsichtlich der Möglichkeiten des Tourings oder der Integration eines dritten Theaters oder Produktionshauses in die Zusammenarbeit überarbeitet hat. Keil (2012) konstatiert eine verstärkte Wahrnehmung der Freien Szene in den öffentlich getragenen Theatern, plädiert aber für den Erhalt des Stadt- und Staatstheatersystems in seiner aktuellen Ausprägung als einen Schutzraum vor den projektkapitalistisch geprägten Arbeitsbedingungen in der Freien Szene. Dass in öffentlich getragenen Theatern dieser Schutzraum durch erhöhte Rentabilitätsanforderungen und eine gestiegene Marktabhängigkeit von Künstler:innen erodiert, stellen Haunschild/Eikhof (2009) bereits Ende der 2000er Jahre fest. In der Art und Weise der Verknüpfung zwischen Förderung, Produktions- und Arbeitsbedingungen sowie der Ästhetik in der Freien Szene arbeitet zum Eschenhoff (2021) spezifische marktökonomische Mechanismen dieses Organisationsfelds mit dort geltenden Legitimationsmechanismen heraus, z.B. dass „nationale und internationale Kooperationen zum erstrebenswerten und konstituierenden Merkmal geworden sind“ (zum Eschenhoff 2021: 103), um Förderung zu erhalten.

Diese Feststellung spiegelt sich auch in Erkenntnissen der jüngeren Kulturpolitikforschung, die untersucht, inwiefern im Zusammenhang einer aktivierenden Kulturpolitik der Grad der Kooperationsfähigkeit einer öffentlichen oder privaten Non-Profit-Einrichtung existenzentscheidend für diese sein wird (Föhl/Neisener 2009; Schneider 2016). Schmidt attestiert dem deutschen Theatersystem insgesamt eine Systemkrise und plädiert für eine grundlegende Reform der Strukturen (Schmidt 2017; Schmidt 2018). Anschließend daran wird für das künstlerisch-kreative ←19 | 20→Feld aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ein arbeitsgesellschaftlicher Strukturwandel beobachtet (Manske/Schnell 2010). Dieser Strukturwandel äußert sich im Feld der darstellenden Künste u.a. in Form einer gewachsenen Bedeutung der Ästhetiken und Produktionsstrukturen der freien Theaterarbeit (Brauneck 2016) und der Adressierung öffentlich getragener Theater aus der Freien Szene heraus, die mit einem Struktur- und Innovationsdiskurs verknüpft ist (von Hartz 2011). Für das Forschungsfeld der freien darstellenden Künste lässt sich abschließend sagen, dass sich dieses aus heterogenen Forschungsperspektiven zusammensetzt und ein Gesamtüberblick über Studien und Untersuchungen zu diesem Themenfeld bislang fehlt. Blumenreich bemängelt, dass es in Deutschland kein kulturpolitisches Forschungsportal gibt, das Studien zur Freien Szene zusammenträgt und aufbereitet (Blumenreich 2016: 17). Aussichtsreich erscheint in diesem Zusammenhang das Vorhaben des Fonds Darstellende Künste, der ausgehend vom 2. Bundesforum des Bundesverbands Freie Darstellende Künste (BFDK) und des Fonds Darstellende Künste im Jahr 2019 ein interdisziplinär zusammengesetztes Forschungsprogramm in Auftrag gegeben hat, um Desiderate im System der Kulturförderung sowie Wirkmechanismen und Potentiale kulturpolitischer Instrumentarien zu untersuchen, darunter auch die Förderung von Kooperationen zwischen Freier Szene und öffentlich getragenen Theatern.

Um die vielfältigen Kooperationsformen zwischen Freier Szene und öffentlich getragenen Theatern besser zu verstehen, ist es notwendig, auf Erkenntnisse der Organisationsforschung zu institutionellem Wandel einzugehen (Hasse/Krücken 2009; Krücken/Mazza/Meyer/Walgenbach 2017), da Kooperationen als neues Phänomen auf eine Transformationsdynamik im Praxisfeld der (freien) darstellenden Künste hinweisen. Diese Dynamik in organisationalen Feldern zeigt sich u.a. durch Interorganisationsbeziehungen. Daher bezieht sich der theoretische Ansatz dieses Forschungsbeitrags auf praxistheoretische Ansätze innerhalb des Neoinstitutionalismus (vgl. Kapitel 4.1.3.; Kapitel 9.2.), um das Spannungsverhältnis zwischen institutionellen Strukturen und der Handlungsautonomie von Akteur:innen systematisch in die Analyse einbeziehen zu können (Schiller-Merkens 2008).

Aus neoinstitutionalistischer Perspektive wird davon ausgegangen, dass Wandel mit einem krisenhaften Moment konnotiert ist und durch externe Einflüsse evoziert wird: „Es sind veränderte Erwartungen, Anforderungen, ←20 | 21→Wünsche, Interessen und Maßgaben organisationsrelevanter Einflussfaktoren und Stakeholder, die für das Theater krisenauslösend, -verschärfend oder -befriedend wirken können“ (Mandel/Zimmer 2021: 4). Die Entwicklung der Freien Szene ist mit einem Krisenmoment der öffentlich getragenen Theater verbunden, da diese bestehende Organisationsform für eine bestimmte Theaterpraxis zu einschränkend war:

Die Praxis der freien Darstellenden Künste in Deutschland entstand aus einem inhaltlichen Interesse, bestimmte Projekte zu realisieren; um bewusst außerhalb der großen Theaterbetriebe zu arbeiten, weil diese andere, auch experimentellere, Formen von Theater oder Tanz nicht zuließen; oftmals, um Theater über besondere Zielgruppen zu entwickeln, zum Beispiel für Kinder und Jugendliche. Schnell hat diese Theaterpraxis größere kulturpolitische Aufmerksamkeit und zunehmend auch Finanzierung erhalten, weil die künstlerischen Beiträge als relevant erkannt wurden (Heering 2016: 7).

Daraus ergibt sich auch die für diesen Beitrag relevante Forschungsfrage mit entsprechenden Unterfragen: Warum kooperieren freie Gruppen mit öffentlich getragenen Theatern, angesichts der historischen Entwicklung der Freien Szene und der dezidierten Abkehr freier Gruppen/freier Theaterschaffender von Strukturen und Arbeitsweisen öffentlich getragener Theater? Welche Kooperationsformen gibt es und wie laufen diese ab? Welche Auswirkungen haben die Kooperationen zum einen für freie Gruppen und zum anderen für öffentlich getragene Theater? Interorganisationsbeziehungen zwischen freien Gruppen und öffentlich getragenen Theatern zeigen, dass sich im Praxisfeld der darstellenden Künste ein Wandel vollzieht, wenn sich zwei – hinsichtlich ihrer Ressourcen sowie Arbeits- und Produktionsweisen – unterschiedliche Theaterorganisationsformen annähern. Ein kooperatives Denken (Kapitel 9.5.) zeigt sich nicht nur auf der Ebene der konkreten Theaterarbeit (vgl. Landesbüro Freie Kultur/Verband Freie Darstellende Künste Nordrhein-Westfalen 2011: 5), sondern auch in szeneübergreifenden Zusammenschlüssen und Netzwerken (Kapitel 10). Die Arbeit in institutionalisierten Netzwerken, wovon Kooperationen zwischen freien Gruppen und öffentlich getragenen Theatern eine Ausprägung sind, zeigen, dass sich neue Legitimationsstrategien im Feld der darstellenden Künste entwickeln. Diese Legitimationsstrategien zielen auf eine diskursive Ebene ab, denn „Legitimität ist nicht einfach gegeben, sondern muss in Argumentationsstrategien und Aushandlungsprozessen immer wieder gesucht und hergestellt ←21 | 22→werden“ (Haunschild/Michaels 2021: 82). Wie dieser Aushandlungsprozess zwischen den beiden Sphären der deutschen Theaterlandschaft derzeit diskursiv verläuft, zeigt Kapitel 2.

Während sich das Verhältnis von Freier Szene und öffentlich getragenen Theatern dynamisiert, befindet sich der Begriff der Freien Szene schon länger in einem Aushandlungsprozess, ist gar umstritten (Sprenger 2012; Matzke 2013; Tinius 2017) und nicht einheitlich definiert. Während beispielsweise das Land Berlin die sogenannte Freie Szene als freie Gruppen und Einzelkünstler:innen ohne eigene Spielstätte definiert, dazu aber auch Privattheater, Spielstätten und freie Gruppen mit eigener Spielstätte zählt, schließt Sachsen-Anhalt in seiner Definition neben dem professionellen freien Theater auch semiprofessionelle Gruppen und Amateurtheater ein (von Bernstorff 2011: 13). Im Folgenden werden Begriffsdefinitionen, die dieser Studie zugrunde liegen, erläutert. Freie Theaterschaffende werden im Kontext dieser Arbeit als nicht-abhängig Beschäftigte, professionelle Theaterschaffende verstanden (vgl. Kapitel 6). Sie arbeiten selbständig, also ‚frei‘ von konkreten Anstellungsverhältnissen an öffentlich getragenen Theatern. Die sogenannte Freie Szene bezeichnet in diesem Zusammenhang ein organisationales Feld (vgl. Kapitel 4.1.1.). Das Organisationsfeld bezeichnet auch die Ebene, auf der sich einzelne Organisationen zusammenschließen und Verbände gründen, sich Regeln und Satzungen geben, um professioneller zu agieren (vgl. Kapitel 6) und schließt damit eine interessenpolitische Agenda mit ein. Beim Begriff der Freien Szene handelt es sich um einen Abgrenzungsbegriff in Hinblick auf die Strukturen und Arbeitsweisen der öffentlich getragenen Theater. Der Begriff des Freien Theaters legitimiert sich aus einer historisch gewachsenen Opposition zum öffentlich getragenen Theater sowie aus einer alternativen Produktionsweise (Matzke 2013: 262). Aus diesem Grund wird das Adjektiv ‚frei‘ im Kontext dieser Studie mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben.

Details

Seiten
342
Erscheinungsjahr
2022
ISBN (PDF)
9783631876442
ISBN (ePUB)
9783631876459
ISBN (Hardcover)
9783631855263
DOI
10.3726/b19625
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Juni)
Schlagworte
Arbeitsweisen öffentlich getragener Theater Interorganisationsbeziehungen zwischen Akteur:innen der Freien Szene Kurator:innen der darstellenden Künste
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 342 S., 3 Tab.

Biographische Angaben

Mara Ruth Wesemüller (Autor:in)

Mara Ruth Wesemüller studierte Theaterwissenschaft, Soziologie und Kulturmanagement in München, Paris und Zürich. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin war sie Teil der interdisziplinären und ortsverteilten DFG-Forschungsgruppe „Krisengefüge der Künste". Sie arbeitet im Bereich des Wissenstransfers und entwickelt Formate zwischen Kultur und Wissenschaft.

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