Gustav Kolb und die Reformpsychiatrie in Erlangen 1911–1934
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung
- 1.1 Vorwort
- 1.2 Dank
- 1.3 Forschungsstand, Quellenlage und Aufbau dieser Arbeit
- 1.4 Wer war Gustav Kolb (1870–1938)? Eine Biografie des Erlanger Anstaltsdirektors und Reformpsychiaters
- 1.5 Kolbs Publikationen
- 1.6 Der Leiter der offenen Fürsorge Valentin Faltlhauser: Ein biografischer Abriss
- 2 Die Ausgangslage: praktische Psychiatrie um 1900
- 2.1 Die Entwicklung der praktischen Psychiatrie von 1850–1914. Ein Überblick.
- 2.1.1 Einführung
- 2.1.2 Das Großasyl als primäres Versorgungskonzept
- 2.1.3 Überbelegung und Anstaltsboom
- 2.1.4 Überfüllungszustände in der Erlanger Anstalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts
- 2.1.5 Die Anstaltspsychiatrie zwischen wissenschaftlichem Ehrgeiz & Defiziten in der Patientenversorgung
- 2.1.6 Psychiatriekritiker und „Irrenbroschüren“
- 2.2 Ein Blick von innen: Der Anstaltspatient und Psychiatriekritiker Georg Wetzer und seine „Erlangen’er Irrenhaus-Erlebnisse“
- 2.2.1 Quellenlage & Perspektiven
- 2.2.2 Aus der Sicht des Patienten: Einblicke in die psychiatrische Praxis der Kreisirrenanstalt Erlangen zu Beginn des 20. Jahrhunderts
- 2.2.3 Der Direktorenwechsel 1911 – Veränderungen innerhalb der Anstalt Erlangen
- 3 Das Erlanger Modell der offenen Fürsorge: „dass wir nicht ihre Kerkermeister, sondern ihre Freunde sind“
- 3.1 Wege aus der Krise
- 3.1.1 Das Dilemma der praktischen Psychiatrie – Kolbs Analyse der Lage
- 3.1.2 „ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Anstalt, Kranken und deren Angehörigen“ – Kolbs Reformkonzepte als Mittel gegen das Misstrauen
- 3.2 Von der Familienpflege zur offenen Fürsorge
- 3.2.1 Die „Wiederentdeckung“ der Familienpflege Ende des 19. Jahrhunderts
- 3.2.2 Die Normalanstalt als Voraussetzung für die Familienpflege
- 3.2.3 Von der heterofamiliären zur homofamiliären Familienpflege – neue Perspektiven für die Psychiatrie
- 3.2.4 Ein Plädoyer für die Familienpflege in Bayern: Kolbs Vortrag auf der Jahresversammlung des Vereins bayerischer Psychiater 1908
- 3.2.5 Differenzen zwischen Kolb und Specht: Kolbs Vortrag auf der Jahresversammlung des Vereins bayerischer Psychiater 1911
- 3.2.6 Bedrohte die Familienpflege die Interessen der Universitätspsychiatrie?
- 3.2.7 „Der wichtigste Faktor ist die Persönlichkeit des leitenden Arztes“ – Kolbs Konflikt mit den Anstaltsdirektoren
- 3.2.8 Familienpflege und offene Fürsorge als Bestandteile eines Progressivsystems
- 3.2.9 Die weitere Entwicklung der Familienpflege in Erlangen und ganz Deutschland von 1911–1945
- 3.2.10 Familienpflege in Erlangen – ein Beispiel aus der Praxis
- 3.2.11 Reform der Irrenfürsorge 1919 – Ein deutschlandweiter Diskurs kommt ins Rollen
- 3.3 Die Entwicklung der Erlanger offenen Fürsorge: „die Richtigkeit meiner Anschauungen durch die Tat zu beweisen“
- 3.3.1 Einleitung und Überblick über die Entwicklung der offenen Fürsorge
- 3.3.2 Erste Ansätze einer Entlassenenfürsorge in Kutzenberg 1906–1911
- 3.3.3 „In Erlangen fand er, was Fürsorge betrifft, nur ödes Brachland.“ – Anfangsjahre 1911 bis 1914
- 3.3.4 Der weitere Ausbau der offenen Fürsorge von 1919 bis 1923
- 3.3.5 Neue Aufgabenbereiche: Übernahme der Schutzaufsicht und Psychopathenfürsorge im Jahre 1923
- 3.3.6 Die offene Fürsorge an der Belastungsgrenze im Jahre 1924
- 3.3.7 Einrichtung der Feldbaugruppe Schniegling im Jahre 1925
- 3.3.8 Die Ausdehnung der offenen Fürsorge in die ländlichen Bezirke 1926–1930
- 3.3.9 Auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung – die Erlanger offene Fürsorge 1930
- 3.3.10 Die Ausbreitung der offenen Fürsorge in Deutschland
- 3.4 Die Praxis der offenen Fürsorge
- 3.4.1 Die Aufgaben der offenen Fürsorge
- 3.4.2 Schutzaufsicht & Psychopathenfürsorge
- 3.4.3 Alltag in der offenen Fürsorge
- 3.5 Gustav Kolb – Anstaltsdirektor und Reformpsychiater
- 3.5.1 „Kolb war nicht immer ein bequemer Chef“ – neue Anforderungen an die Ärzte
- 3.5.2 „… gerade wir in Erlangen hatten einen grossen Stamm von altem Personal …“ – Widerstand gegen Reformen von Seiten des Pflegepersonals
- 3.5.3 Kolbs Beziehung zum Direktor der Erlanger Universitätspsychiatrie Gustav Specht und das konfliktanfällige Arrangement zwischen Anstalt und Klinik
- 3.5.4 „Der Mann hat eine schreckliche Angst vor dem Bolschewismus“ – Gustav Kolb und die Politik
- 3.5.5 Einblicke in Gustav Kolbs Verhältnis zur Weimarer Republik
- 4 Offene Fürsorge, psychiatrische Eugenik und Nationalsozialismus
- 4.1 Die Erlanger Reformpsychiatrie und die psychiatrische Eugenik: „… eine Schicksalsfrage für unser Volk.“
- 4.1.1 Einleitung
- 4.1.2 Das Verhältnis der Reformpsychiatrie Gustav Kolbs zur psychiatrischen Eugenik im Zeitraum 1902–1928
- 4.1.3 „Der gegenwärtige Stand der Entartungsfrage“ – die Jahresversammlung des Vereins bayerischer Psychiater 1928, ein Schlüsselmoment?
- 4.1.4 Kolbs medizinalstatistische Bestrebungen 1929/1930
- 4.1.5 Der erbbiologischen Forschung eine empirische Grundlage verleihen – Kolbs Zusammenarbeit mit Ernst Rüdin und Hans Luxenburger
- 4.1.6 “We can no longer reject in advance, as we used to, the proposal to limit the propagation of these unfortunates” – Kolb auf dem First International Congress on Mental Hygiene 1930
- 4.1.7 Gustav Kolb und der Aufstieg Ernst Rüdins zum Vorsitzenden des Deutschen Verbandes für psychische Hygiene
- 4.1.8 Kolb und die Planung des eugenischen Lehrgangs an der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München
- 4.1.9 Die offene Fürsorge und das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses – Kolbs Haltung zu Sterilisation und Zwangssterilisation
- 4.2 Kolbs letzte Monate als Direktor der Heil- und Pflegeanstalt: Das Ende der Erlanger Reformpsychiatrie.
- 4.2.1 Die ersten Monate der NS-Herrschaft in Erlangen und Mittelfranken
- 4.2.2 Die Verordnung rigoroser Sparmaßnahmen durch den NS-Stadtrat Nürnberg und die NS-Bezirksregierung
- 4.2.3 Kolbs Konflikt mit einem Kreistagsmitglied und der Versuch, die Homöopathie an der Heil- und Pflegeanstalt Erlangen einzuführen
- 4.2.4 „Wenn ich gesund wäre, würde ich selbst versuchen sie durchzusetzen.“ – Kolbs Pläne für die weitere Entwicklung der praktischen Psychiatrie
- 4.2.5 Versetzung in den Ruhestand
- 4.2.6 Gustav Kolb und der Nationalsozialismus
- 4.3 Fazit und Ausblick
- 4.3.1 Fazit
- 4.3.2 Ausblick
- Abkürzungsverzeichnis
- Abbildungsverzeichnis
- Quellen und Bibliographie
- Erläuterungen zur Zitierweise
- Archivalien
- Veröffentlichungen Gustav Kolbs
- Literatur vor 1946
- Veröffentlichungen ohne Autor oder Herausgeber
- Sekundärliteratur
- Personenregister
- Reihenübersicht
1 Einleitung
1.1 Vorwort
Seit Entstehung der Anstaltspsychiatrie in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts bestand psychiatrische Versorgung für mehr als hundert Jahre primär darin, psychisch kranke und unangepasste Menschen von der Gesellschaft abzusondern und in Anstalten zu verwahren. Eine Versorgung von Psychiatriepatienten außerhalb der Anstalten gab es zwar in einzelnen Regionen Deutschlands in Form der sogenannten Familienpflege, doch war nur ein vergleichsweise geringer Anteil aller Patienten auf diese Weise untergebracht. Durch die vom Erlanger Anstaltsdirektor Gustav Kolb (1870–1938) entwickelte offene Fürsorge, einer extramuralen psychiatrischen Versorgungsform, sollte sich dies erstmals ändern: Die Beaufsichtigung, Unterstützung und Beratung durch spezialisierte Fürsorgeärzte und Fürsorgepflegerinnen ermöglichten einer großen Zahl von Psychiatriepatienten die Rückkehr in ein Leben jenseits der Anstaltsmauern.1
Sein Konzept einer psychiatrischen Außenfürsorge in Anbindung an die Anstalt veröffentlichte Kolb erstmals im Jahre 1902 und begann es ab 1906 ansatzweise an der oberfränkischen Kreisirrenanstalt Kutzenberg und ab 1911 im großen Stil von der Heil- und Pflegeanstalt Erlangen aus zu realisieren. Obwohl sich Kolb in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg darum bemühte, seine Fachkollegen von der Notwendigkeit einer Reformierung der psychiatrischen Praxis durch Implementierung von familiären Versorgungsformen zu überzeugen, stand ihm die Mehrheit der Psychiater zunächst ablehnend gegenüber. Erst ab Mitte der 1920er Jahre, angetrieben u.a. durch ökonomische Faktoren, begann sich das sogenannte Erlanger Modell der offenen Fürsorge in ganz Deutschland durchzusetzen. Im Zuge dessen erfüllte die von der Anstalt Erlangen aus zu beeindruckender Größe entwickelte offene Fürsorge auf nationaler wie internationaler Ebene eine Vorbildfunktion: Jedes Jahr reisten führende Persönlichkeiten auf dem Gebiet der Psychiatrie und des Gesundheitswesens, darunter Anstaltsdirektoren, Professoren und Politiker nach Mittelfranken, um das Erlanger Modell zu studieren.←13 | 14→
Obwohl er sich zeitlebens für eine Verbesserung der Lebensbedingungen von Psychiatriepatienten eingesetzt hatte, wandte sich Gustav Kolb ab etwa 1928, die eugenische Wende in der deutschen Psychiatrie antizipierend, der psychiatrischen Erbbiologie und Eugenik zu. Im Zuge dieses Annäherungsprozesses, der eine Priorisierung der Interessen von Staat und Mehrheitsgesellschaft zu Lasten der Interessen von Patienten bedeutete, ging er eine Zusammenarbeit mit den Forschern der Genealogisch-Demographischen Abteilung der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München, Ernst Rüdin (1874–1952) und Hans Luxenburger (1894–1976), ein. Das gemeinsame Ziel bestand darin, auf Basis der durch die offene Fürsorge durchgeführten Erfassung und Registrierung von außerhalb der Anstalten lebenden psychisch kranken bzw. als abnorm angesehenen Personen zukünftig in grossem Umfang empirisches Datenmaterial zur Untermauerung von erbbiologischen Forschungshypothesen zu erheben. Obwohl dieses Vorhaben letztlich nie realisiert wurde, war die Annäherung Kolbs an die psychiatrische Erbbiologie und Eugenik für die weitere Entwicklung der offenen Fürsorge richtungsweisend. An der Ausführung des im Juli 1933 verabschiedeten Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, das die Zwangssterilisation von sogenannten erbkranken Personen legitimierte, beteiligten sich die Erlanger Fürsorgeärzte aus Überzeugung und mit großem Einsatz. Gleichwohl veranlassten die Nationalsozialisten im Laufe der 1930er den sukzessiven Abbau der offenen Fürsorge in Erlangen und anderen deutschen Städten. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die offene Fürsorge in stark reduzierter Form vereinzelt weiterhin betrieben, ihr ursprünglicher Reformcharakter war allerdings verloren gegangen. Der Name Gustav Kolb geriet zunehmend in Vergessenheit; die in den 1970er Jahren sich formierende psychiatrische Reform-Bewegung innerhalb der Bundesrepublik Deutschland nahm, obwohl sie ähnliche Forderungen erhob wie Kolb Jahrzehnte zuvor, auf ihren historischen Vorläufer keinen Bezug.
Während die Anstalt Erlangen unter der Leitung Gustav Kolbs von 1911 bis 1934 ein Zentrum der Reformpsychiatrie gewesen war, entwickelte sie sich im Laufe der 1930er Jahre zu einer Verwahranstalt, in der sich die Lebensbedingungen der Patienten stetig verschlechterten. Im Rahmen der „Aktion T4“ wurden in den Jahren 1940–1941 mehr als 900 Patienten von der Heil- und Pflegeanstalt Erlangen aus in Tötungseinrichtungen transportiert sowie in den Jahren darauf schätzungsweise 1000 bis 1500 Patienten in der Anstalt durch Verabreichung einer kalorienarmen Hungerkost und durch strukturierte Vernachlässigung ermordet.2 Als Teil des am Institut für Geschichte und Ethik der ←14 | 15→Medizin der Friedrich-Alexander-Universität angesiedelten Forschungsprojektes zur Aufarbeitung der NS-„Euthanasie“ in Erlangen beleuchtet diese Arbeit die Vorgeschichte zu den Geschehnissen während der Zeit des Nationalsozialismus.
1.2 Dank
First and foremost möchte ich meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. med. Karl-Heinz Leven von Herzen danken. Im Verlauf der letzten vier Jahre, in denen ich an dieser Dissertation gearbeitet habe, war er mir stets unterstützend, motivierend, mit hilfreichen Anregungen und konstruktiver Kritik zur Seite gestanden. Wann immer ich professionellen Rat brauchte, hatte er ein offenes Ohr für mich und war immerzu bemüht, mir bestmöglich zu helfen; eine bessere Betreuung hätte ich mir nicht wünschen können! Durch Professor Leven erhielt ich die Möglichkeit, mich im Rahmen einer sogenannten strukturierten Promotion 10 Monate lang völlig der Forschungsarbeit zu widmen. Diesbezüglich möchte ich auch den Förderern des Forschungsprojekts zur Aufarbeitung der NS-„Euthanasie“ in Erlangen herzlich danken, die mir in Form eines Stipendiums großzügigerweise eine finanzielle Unterstützung haben zukommen lassen. Das Forschungsjahr am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin wird mir als eine ganz besondere Zeit in Erinnerung bleiben. Dort erhielt ich einen eigenen Arbeitsplatz, unbeschränkten Zugang zur Bibliothek und, was ich besonders zu schätzen gelernt habe, die Chance, mich regelmäßig mit den Mitarbeitern des Instituts auszutauschen. Diesbezüglich möchte ich ganz besonders danken: Marion Voggenreiter, die mich auf zahlreiche Quellen aufmerksam machte, stets äußerst kollegial und hilfsbereit war und deren leidenschaftliches Engagement für das Forschungsprojekt ich als sehr inspirierend wahrgenommen habe. Frau PD Dr. Nadine Metzger, die mit ihrem profunden Wissen nicht nur auf dem Gebiet der Psychiatriegeschichte hilfreiche Denkanstöße gab. Frau Renate Rittner, die mir bei vielen organisatorischen Angelegenheiten eine große Hilfe war und deren positive Ausstrahlung einem auch an trübseligen Lockdown-Tagen ein Lächeln aufs Gesicht zaubern konnte. Weiterhin danken möchte ich ganz herzlich Frau Dr. Angelika Kretschmer, die sich mit viel Geduld die Zeit nahm, selbst die am schwierigsten zu findenden Quellen aufzuspüren, sowie Prof. Dr. Fritz Dross, der mir 2018 die Möglichkeit gab, im Rahmen eines interessanten Wahlfachs als Vorbereitung auf die medizingeschichtliche Doktorarbeit eine Seminararbeit zu verfassen und so bereits die Grundzüge medizinhistorischen Arbeitens kennenzulernen. Darüber hinaus war mir Frau Prof. Dr. Renate Wittern-Sterzel eine sehr große Hilfe: Sie ←15 | 16→nahm sich die Zeit, die Rohfassung der Arbeit komplett durchzusehen, zu korrigieren und mir äußerst hilfreiche Anregungen zu geben. Zudem ging die im Dezember 2020 anlässlich Kolbs 150ten Geburtstag mit großem Erfolg vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin organisierte Tagung zurück auf die zündende Idee Frau Prof. Dr. Wittern-Sterzels.
Unter allen Mitarbeitern des Instituts habe ich Frau Dr. Susanne Ude-Koeller ganz besonders zu danken. Sie gab mir die Gelegenheit, als ihr Coautor einen Beitrag in einer im Jahre 2020 erschienenen Publikation des Bezirks Mittelfranken über die Erlanger Psychiater Kolb, Valentin Faltlhauser und Gustav Specht zu verfassen. Im Rahmen der gemeinsamen Arbeit konnte ich von Frau Dr. Ude-Koeller nicht nur viel über die Erlanger Psychiatriegeschichte lernen, sondern auch über das wissenschaftliche Arbeiten in der Medizingeschichte und hinsichtlich der Analyse von Quellenmaterialien. Zudem erhielt ich dank der Initiative von Frau Dr. Ude-Koeller die Chance, für die Neue Deutsche Biographie den Beitrag über Gustav Kolb zu verfassen. Darüber hinaus war Sie mir während der zahlreichen gemeinsamen Besuche der Außenstelle des Staatsarchiv Nürnbergs in der Festung Lichtenau die beste Gesellschaft. Für die vorliegende Arbeit gab Sie mir viele wertvolle Impulse und ich bin Ihr sehr dankbar, dass Sie und Herr Professor Leven mir dieses faszinierende Forschungsthema überlassen haben, das meinen persönlichen Interessen so sehr entspricht.
Last but not least möchte ich meiner Familie für Ihre liebevolle Unterstützung danken: Meiner Mutter, die mit unendlicher Geduld die Arbeit mehrmals Korrektur gelesen und mich auf viele sprachliche Aspekte aufmerksam gemacht hat, mir aber auch aufgrund ihres Verständnisses für historische Zusammenhänge eine enorme Hilfe war! Meinem geliebten Vater, der stets fest an mich geglaubt hat und dessen Liebe immer bei mir ist. Meiner Schwester Catherine und meine Nichte Helen, mit denen ich bei einer Runde Siedler von Catan nach einem längeren Tag an der „Diss“ entspannen konnte. Und meiner Freundin Ela, die mich immer liebevoll ertragen hat, auch wenn ich manchmal nicht so leicht zu ertragen war. Von Herzen danke an euch Alle!
1.3 Forschungsstand, Quellenlage und Aufbau dieser Arbeit
Die historiographische Forschung zu Gustav Kolb und der Erlanger Reformpsychiatrie begann etwa Mitte der 1980er Jahre. Im Folgenden wird ein Überblick über die wichtigsten Arbeiten und ein Umriss des Forschungsstands gegeben.
Eine der ersten Wissenschaftlerinnen, die sich mit der Thematik auseinandersetzte, war die damalige Medizinstudentin und heutige Psychiaterin Ursula ←16 | 17→Gast. Sie wurde 1986 in Hannover über das medizinhistorische Thema „Alternativen zur Anstaltspsychiatrie. Familienpflege und Offene Fürsorge zwischen bürgerlicher Revolution und Faschismus.“ promoviert. Gasts Arbeit stützt sich zwar auf eine Vielzahl von Veröffentlichungen bedeutender Reformpsychiater der 1920er Jahre, darunter Gustav Kolb, Hans Roemer und Valentin Faltlhauser, jedoch werden Verwaltungsakten, Personalakten sowie private Korrespondenzen kaum berücksichtigt. Kolbs Haltung zur psychiatrischen Eugenik und dem Nationalsozialismus wird in Gasts Dissertation nicht exploriert; ihre Annahme, dass Kolb kein Anhänger des u.a. von Emil Kraepelin vertretenen Degenerationstheorems war, ist angesichts des heute bekannten Quellenmaterials nicht aufrechtzuhalten.3
Im gleichen Zeitraum wie Gast veröffentlichte Hans-Ludwig Siemen seine Dissertation „Menschen blieben auf der Strecke … Psychiatrie zwischen Reform und Nationalsozialismus“, die bezüglich der Reformpsychiatrie Kolbs wichtige Forschungsarbeit leistete.4 Siemen arbeitet klar die Gründe heraus, weshalb die offene Fürsorge sich trotz der vorherigen allgemeinen Ablehnung von Seiten der Anstaltspsychiater letztlich ab Mitte der 1920er Jahre deutschlandweit auszubreiten begann, und kontextualisiert sie innerhalb des Entwicklungsverlaufs der praktischen Psychiatrie.5 Parallelen zu Hermann Simons (1867–1947) aktiverer Heilbehandlung, dem anderen bedeutenden psychiatrischen Reformkonzept der 1920er Jahre, werden dabei beleuchtet.6 Im Rahmen einer tiefergehenden Analyse untersucht Siemen, inwiefern die offene Fürsorge Kolbs, so wie sie sich in Erlangen und auf nationaler Ebene entwickelte, mit einer neuen Sichtweise auf Psychiatriepatienten einherging bzw. inwiefern die Reformpsychiatrie tatsächlich eine Reform bewirkte und nicht allein eine Modernisierung im Sinne einer Rationalisierung und effizienteren Gestaltung der praktischen Psychiatrie.7 Darüber hinaus veröffentlichte Siemen auch einige aufschlussreiche kürzere Beiträge über die Reformpsychiatrie der 1920er Jahre.8
Eine Reihe von Autoren betrachten die offene Fürsorge Kolbs unter verschiedenen thematischen Aspekten. Während der Psychiater Felix Böcker sich in ←17 | 18→seinem 1985 veröffentlichten Aufsatz sowie in späteren Beiträgen auf biografischer Ebene mit Kolb beschäftigt und die Entwicklung der offenen Fürsorge aus der traditionellen Familienpflege nachzeichnet, betrachtet Helmut Haselbeck sie im Kontext der Sozialgeschichte.9 Sowohl Böcker als auch Haselbeck postulieren in ihren Veröffentlichungen allerdings eine NS-Gegnerschaft Kolbs, die in Anbetracht des gesamten Quellenmaterials als nicht zutreffend bezeichnet werden muss. Die Entwicklung der offenen Fürsorge in der Provinz Westfalen und Berührungspunkte zwischen den Reformbestrebungen Hermann Simons (1867–1947) und Gustav Kolbs thematisiert der Historiker Bernd Walter in seiner 1996 veröffentlichten, umfangreichen Monographie.10
Wichtige Forschungsarbeit zur Erlanger offenen Fürsorge leistete Astrid Ley. In ihrer 2004 erschienenen Dissertation geht sie auf verschiedene Aspekte der offenen Fürsorge näher ein; es werden Ziele, Entwicklung, historische Bedeutung und therapeutische Absichten beleuchtet. Dabei ist ihre Darlegung der professionspolitischen Motive Kolbs und der Erlanger Fürsorgeärzte besonders aufschlussreich. Wie der Titel ihrer Arbeit nahelegt, arbeitet Ley ebenso die Beteiligung der offenen Fürsorge an der Zwangssterilisation von Psychiatriepatienten während der NS-Zeit im Detail heraus.11
Alfons Zenk stellt in seiner eindrucksvollen Arbeit über die Geschichte der Kreisirrenanstalt Kutzenberg Kolbs maßgebenden Einfluss auf die Entwicklung dieser Anstalt in umfassender Weise dar.12
Heinz-Peter Schmiedebach betrachtet die offene Fürsorge Kolbs aus verschiedenen Blickwinkeln. Gemeinsam mit Thomas Beddies, Jörg Schulz und Stefan Priebe vergleicht er die offene Fürsorge mit zwei späteren Reformbewegungen in Deutschland, den 1963 in der DDR veröffentlichten Rodewischer Thesen sowie der Psychiatrie-Enquete von 1975 in der BRD.13 Stefan Priebe und Schmiedebach kontextualisieren die offene Fürsorge mit dem Entwicklungsverlauf der Sozialpsychiatrie in Deutschland und vergleichen das Konzept der offenen Fürsorge mit dem Konkurrenzmodell Friedrich Wendenburgs (1888–1967), das nicht unmittelbar an die Anstalt angebunden war und demnach nicht der Kontrolle des Anstaltsdirektors unterlag, sondern vom kommunalen ←18 | 19→Fürsorgeamt ausging.14 Auf die Bedeutung der offenen Fürsorge und anderer psychiatrischer Reformkonzepte der 1920er Jahre hinsichtlich der Psychiatriekritikerbewegung und des Reputationsproblems der Psychiatrie weist Schmiedebach in einem 2011 erschienenen Aufsatz hin.15
Felicitas Söhner arbeitet in ihrem aufschlussreichen Artikel über die Geschichte der familiären Versorgungsformen Kolbs Beitrag zur Entwicklung der Familienpflege überzeugend heraus.16 Außerdem verfasste sie im äußerst informativen Biographischen Archiv der Psychiatrie einen sehr interessanten Beitrag über Kolb, in dem wichtige Quellen und Forschungsergebnisse zusammengetragen sind.17
Auf die Beziehung zwischen Kolb und den Wissenschaftlern der Genealogisch-Demographischen Abteilung der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie (DFA) in München, Ernst Rüdin (1874–1952) und Hans Luxenburger (1894–1976), ging Hans-Walter Schmuhl erstmals näher ein. Schmuhls 2016 veröffentlichte Monographie über die Geschichte der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater im Nationalsozialismus zeichnet den Aufstieg Rüdins zum Vorsitzenden des Deutschen Verbandes für psychische Hygiene und stellvertretenden Vorsitzenden des Deutschen Vereins für Psychiatrie eindrucksvoll nach; Kolbs Unterstützung Rüdins wird hierbei erstmals thematisiert.18
Die Erlanger Psychiater Johannes Kornhuber und Birgit Braun verfassten 2014 eine Würdigung Gustav Kolbs, welche die Entwicklungsgeschichte der Erlanger offenen Fürsorge umreißt.19 Die im Artikel aufgestellte Behauptung, dass Kolb im Jahre 1933 auf Druck der Nationalsozialisten in den Ruhestand versetzt wurde, lässt sich anhand des heute bekannten Quellenmaterials nicht bestätigen und ist kritisch zu betrachten.←19 | 20→
Neben den genannten Arbeiten findet Kolb in zahlreichen Publikationen kurze Erwähnung.20
Obwohl, wie dargelegt, zu Gustav Kolb und der Erlanger Reformpsychiatrie bereits wichtige Forschungsarbeit geleistet wurde, eröffnete zuvor noch nicht analysiertes Quellenmaterial, das im Zuge ausgedehnter Archivrecherchen und Nachforschungen erhoben wurde, neue Forschungsperspektiven. Bislang unzureichend geklärte Fragestellungen konnten so weitergehend bearbeitet werden, und hinsichtlich Kolbs Beziehung zur psychiatrischen Eugenik und zum Nationalsozialismus sowie zu seinen politischen Ansichten und persönlichen Überzeugungen war es möglich, neue Erkenntnisse zu gewinnen. Das neue Quellenmaterial gewährt tiefere Einblicke in das Leben des Erlanger Reformpsychiaters und lässt eine in der Sekundärliteratur bislang noch nicht thematisierte Zusammenarbeit mit den erbbiologischen Forschern der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie, Ernst Rüdin und Hans Luxenburger, erkennen. Darüber konnten die Umstände bezüglich Kolbs Versetzung in den Ruhestand Ende des Jahres 1933 nun aufgeklärt werden.
Zu den erstmalig im Rahmen dieser Arbeit ausgewerteten Quellenmaterialien zählen u.a. Korrespondenzen Kolbs mit Rüdin, Luxenburger, Hans Roemer, Wilhelm Einsle und NS-Politikern Mittelfrankens, verschiedene Veröffentlichungen Kolbs, wie z.B. seine Artikel über „Diktatur und Psychiatrie“ und „Okkultismus“, der erstmals im Zuge dieser Arbeit analysierte „Sammel-Atlas für den Bau von Irrenanstalten“ und der Vortrag Kolbs auf dem Ersten Internationalen Kongress für psychische Hygiene in Washington D.C.. Darüber hinaus wurden im Zuge von Recherchen im Stadtarchiv und Staatsarchiv Nürnberg sowie dem Historischen Archiv des Bezirksklinikums am Europakanal in Erlangen auch zahlreiche bislang unbekannte Verwaltungsdokumente, Jahresberichte und amtliche Korrespondenzen ausgewertet. Des weiteren wurden erstmals die Tagebucheinträge des Anarchisten, Schriftstellers und Mitglieds der Münchener Räterepublik Erich Mühsams (1878–1934) berücksichtigt, den Kolb als Gefängnisarzt behandelte und den er, wie in dieser Arbeit gezeigt wird, psychopathologisch beurteilte, um seine Befunde den Psychiatern ←20 | 21→der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München zur Verfügung zu stellen.
Zu besonderem Dank bin ich meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. med. Karl-Heinz Leven, verpflichtet, der die Memoiren des langjährigen Nürnberger Fürsorgearztes Ewald Grimm (1892–1974) ausfindig und für die Forschung verfügbar machen konnte.21 Die ca. 1973, d.h. kurz vor seinem Tod, zusammengetragenen Lebenserinnerungen Grimms basieren zum Großteil auf seinen Tagebüchern und reichen von seiner Jugendzeit bis ins Pensionsalter. Ihr Umfang beträgt etwa 200 Schreibmaschinenseiten. Während Grimm inhaltlich einen Fokus auf die Zeit nach seiner Pensionierung legte und die Memoiren viele private, für die historiographische Forschung nicht unmittelbar relevante Informationen enthalten, liefern die Schilderungen seiner Zeit als Fürsorgearzt (1924–1939, 1947–1954) und als Anstaltsdirektor (1954–1959) wertvolle Einblicke in die Geschichte der Erlanger Psychiatrie. Soweit bekannt, sind die Memoiren Ewald Grimms die einzigen erhaltenen Lebenserinnerungen eines Psychiaters der Heil- und Pflegeanstalt Erlangen; auch diese stellen eine im Rahmen dieser Arbeit erstmals ausgewertete Quelle dar.
Details
- Seiten
- 438
- Erscheinungsjahr
- 2022
- ISBN (PDF)
- 9783631877746
- ISBN (ePUB)
- 9783631877753
- ISBN (Hardcover)
- 9783631877708
- DOI
- 10.3726/b19767
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2022 (Juni)
- Schlagworte
- Offene Fürsorge Psychiatriegeschichte Heil- und Pflegeanstalt Erlangen Eugenik Psychiater Psychiatrie Nationalsozialismus Weimarer Republik Erbbiologie Rassenhygiene
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 438 S., 33 s/w Abb.