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Reisen durch die Pädagogik und Bildung

Transepochale Forschung in der Erziehungswissenschaft

by David Paulus (Volume editor) Patrick Gollub (Volume editor)
©2022 Edited Collection 246 Pages

Summary

Zur Würdigung ihrer wissenschaftlichen Arbeit in den Bereichen der historischen Schul- und Curriculumforschung, der Forschung zu (Fach-)Unterricht und Didaktik, zur ästhetischen Bildung sowie der frühneuzeitlichen Lehrer:innenbildungsforschung ist Stephanie Hellekamps diese Festschrift gewidmet. Die Spannweite ihrer Forschungstätigkeit umfasst nicht nur mehrere Jahrhunderte pädagogischen Handelns in vornehmlich schulischen Kontexten, sondern ist nicht selten interdisziplinär mit Nachbardisziplinen der Erziehungswissenschaft verwoben.

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Disziplingeschichte und Disziplinpolitik. Pädagogische Historiographie im Kontext gegenwärtiger Bildungsreform (Johannes Bellmann)
  • Allgemeinheit und Sozialität als operative Bereiche und moderne Aufgaben der Erziehung (Dietrich Benner)
  • „Was man im allgemeinen unter Erziehung versteht, ist als bekannt vorauszusetzen.“ – Über einen Satz Friedrich Schleiermachers (Friedhelm Brüggen)
  • „Unser Leben ist Erziehung“. Gelebte Pädagogik bei Elisa von der Recke (1754–1833) (Anne Conrad)
  • Die Bildungsgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit in der tschechischen Geschichtsforschung der letzten zwanzig Jahre (Mlada Holá und Martin Holý)
  • Die Identitätsbehauptung der Schulwelt im lutherischen Deutschland in der Frühen Neuzeit (Jean-Luc Le Cam)
  • Der Studierendenhabitus als Brücke zwischen Schüler:innen- und Lehrer:innenhabitus – Sequenzanalytische Rekonstruktionen in der Studieneingangsphase (David Paulus und Patrick Gollub)
  • Traditionslinien der Lehrplantheorie – Zwei klassische Ansätze und ihre historisch-systematische Bedeutung (Daniel Scholl und Wilfried Plöger)
  • Erziehungswissenschaft: Von der Nachkriegszeit bis heute – Probleme der Selbstdeutung und Periodisierung (Ewald Terhart)
  • Das soziale Profil der höheren Lehranstalten in Münster, 1931–1934 (Bernd Zymek)
  • Autor:innenverzeichnis
  • Reihenübersicht

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Einleitung

Festschriften, so heißt es im Wörterbuch der deutschen Sprache, werden zu Ehren einer Persönlichkeit oder eines bestimmten Ereignisses herausgegeben und bestehen zumeist aus einer Sammlung von Aufsätzen verschiedener Autor:innen. Konkrete Vorgaben gibt es für diese Gattung einer wissenschaftlichen Sammelpublikation wenige bis gar keine. Empfehlungen sehen vor, dass ein runder Geburtstag oder eine Pensionierung ein würdiger Anlass sind. Ein solcher Anlass liegt diesem Liber Amicorum zugrunde. Nach mehr als zwei Jahrzehnten als Professorin im Arbeitsbereich der Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt für historische Schul- und Curriculumforschung am Institut für Erziehungswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster tritt Stephanie Hellekamps am Ende des Sommersemesters 2022 in den Ruhestand.

Zur Würdigung Ihrer wissenschaftlichen Arbeit in den Bereichen der historischen Schul- und Curriculumforschung, der Forschung zu (Fach-)Unterricht und Didaktik, zur ästhetischen Bildung sowie der frühneuzeitlichen Lehrer:innenbildungsforschung ist ihr diese Festschrift gewidmet. Die Spannweite ihrer Forschungstätigkeit umfasst nicht nur mehrere Jahrhunderte pädagogischen Handelns in vornehmlich schulischen Kontexten, sondern ist nicht selten transdisziplinär mit Nachbardisziplinen der Erziehungswissenschaft verwoben.

Frei von Allotria sind ihre Schriften, die sich mit den Grundsätzen der Schulpädagogik – hier sei beispielsweise auf die 2003 mit Hans-Ulrich Musolff veröffentlichte Monographie Die Bildung und die Sachen. Zur Hermeneutik der modernen Schule und ihrer Didaktik verwiesen – oder etwa mit dem Unterricht an westfälischen Gymnasien zwischen 1600 und 1750 (die Herausgeber:innenbände erschienen 2009 und 2014) auseinandersetzen. „[D]aß meine Feder stets zeichnen könnte“ schreibt Johann Wolfgang von Goethe im Sommer 1771 in einem Brief an Johann Gottfried Herder und bezieht sich dabei auf seine Eindrücke beim Anblick des Apoll von Belvedere. Ganz ähnlich verhält es sich bei den Schriften der Geehrten: wissenschaftlich pointiert und mit ästhetischer Sprache „zeichnet“ Stephanie Hellekamps die Ergebnisse ihrer Forschung auf Papier.←7 | 8→

„Mein ganzes Ich ist erschüttert, das können Sie dencken“ schreibt Goethe im Brief weiter als er sein Zusammentreffen mit dem Apoll von Belvedere an Herder darlegt. Positiv erschüttert waren auch die Herausgeber der Festschrift, als erste Ideen, Skizzen oder Titelvorschläge – man beachte hier auch das Coverbild – der Beitragenden – anders als 1771 per E-Mail – eintrafen. Und so kam es, dass die Beiträge der Festschrift ebenso perspektivreich wie die Forschung Stephanie Hellekamps ausgefallen sind, ohne „daß wir uns der unsrigen schämen müssen“ (; so schließt Goethe). Die Beiträge sind – akademisch egalitär – nach den Nachnamen der (Erst-)Autor:innen sortiert und bereichern durch ihre thematische Durchmischung den Band.

Den Anfang macht Johannes Bellmann, indem er auf die hohe Relevanz der Disziplin- und Bildungsgeschichte im Kontext gegenwärtiger Bildungsreformen hinweist und anhand dreier Beispiele Kennzeichen für einen Identitätswandel der Disziplin herausarbeitet. Daran anschließend führt Dietrich Benner seine Gedanken zu Allgemeinheit und Sozialität als operative Bereiche und moderne Aufgaben der Erziehung(swissenschaft) aus und schließt mit dem Gedanken, diesen intradisziplinär wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Dass diese Themen nicht erst die gegenwärtigen Diskurse bestimmen, arbeitet Friedhelm Brüggen in seinem Beitrag zu einem Zitat Friedrich Schleiermachers heraus und endet mit seinem Beginn, da Erziehung nie ganz neu anfängt, sondern immer schon angefangen hat. Anne Conrad fokussiert in ihrem Beitrag Elisa von der Recke als Netzwerkerin der Spätaufklärung, die ihren eigenen Werdegang als Erziehungsprozess stilisiert, sich mit philanthropischen Initiativen auseinandersetzt und selbst als Erzieherin wirkt. Mlada Holá und Martin Holý wagen einen Rückblick auf die Bildungsgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit in der tschechischen Geschichtsforschung der letzten zwanzig Jahre und eröffnen uns so eine erste internationale Perspektive. Im Folgenden setzt sich Jean-Luc le Cam mit der Identitätsbehauptung der Schulwelt im lutherischen Deutschland in der Frühen Neuzeit auseinander und zeigt damit auch die Aktualität deutscher Bildungsgeschichte im europäischen Ausland auf. David Paulus und Patrick Gollub richten den Blick auf die Professionalisierung von (angehenden) Lehrkräften und untersuchen mithilfe sequenzanalytischer Rekonstruktionen den Studierendenhabitus als Brücke zwischen Schüler:innen- und Lehrer:innenhabitus. Daniel ←8 | 9→Scholl und Wilfried Plöger vergleichen die traditionellen lehrplan- und bildungstheoretischen Ansätze von Erich Weniger und Wolfgang Klafki, um zu zeigen, dass das darin zum Ausdruck kommende Problembewusstsein eine unverzichtbare Basis für gegenwärtige und künftige Argumentationen in der Fortführung lehrplantheoretischer Überlegungen darstellen könnte. Ewald Terhart untersucht die Entwicklung der Disziplin Erziehungswissenschaft, indem er Probleme der Selbstdeutung und Periodisierung von der Nachkriegszeit bis heute herausarbeitet. Den passenden Abschluss mit regionalem Bezug bildet der Beitrag von Bernd Zymek, der das soziale Profil der höheren Lehranstalten in Münster in der Zeit von 1931 bis 1934 untersucht und in den Daten Hinweise für eine historisch beispiellose Bildungsauslese findet.

So wünschen wir Stephanie Hellekamps wie den anderen Leser:innen im Sinne des Apoll eine „schöne Aussicht“ auf die Beiträge und anregende Lektüre der Festschrift.

Münster im Februar 2022

David Paulus und Patrick Gollub

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Johannes Bellmann

Disziplingeschichte und Disziplinpolitik. Pädagogische Historiographie im Kontext gegenwärtiger Bildungsreform

1. Einleitung

Ausgangspunkt dieses Beitrags ist die Beobachtung, dass im Kontext gegenwärtiger Bildungsreform Rekurse auf die Disziplin- und Bildungsgeschichte eine neue Bedeutung gewonnen haben. In einer so sehr von Reform bestimmten Bildungslandschaft ist dies keineswegs selbstverständlich. Reformen sind bekanntlich stets der Zukunft zugewandt, und das mit demonstrativer Entschlossenheit. Sie bauen geradezu auf ein schlechtes Gedächtnis, zumindest – wie Niklas Luhmann pointiert formulierte – auf das „Vergessen der Gründe, aus denen frühere Reformen gescheitert sind“ (Luhmann, 2000, S. 338).

Die Rekurse auf die Disziplin- und Bildungsgeschichte sind noch aus einem anderen Grund überraschend: Gerade die gegenwärtige Bildungsreform versteht sich doch als „evidenzbasierte“ Bildungsreform, die sich bei der Bestimmung ihrer Ziele, der Beschreibung von Ausgangszuständen, der Messung von Ergebnissen und Ist-Soll-Diskrepanzen sowie bei der Ermittlung der wirksamsten Interventionen – zumindest dem eigenen Anspruch nach (vgl. Prenzel & Heiland, 1985) – allein auf empirische Daten stützt. Das im Rahmen einer evidenzbasierten Bildungsreform notwendige und hinreichende Wissen wird von der empirischen Bildungsforschung bereitgestellt. Historische Forschung mag ein interessantes akademisches Betätigungsfeld sein, aber das von ihr generierte Wissen ist im Selbstverständnis evidenzbasierter Bildungsreform nicht reformrelevant. Auch beim Vergleich von Ergebnissen standardisierter Messungen über die Zeit und bei der Ermittlung von „Trendindikatoren“ ist die Empirische Bildungsforschung nicht auf die Unterstützung der Historischen Bildungsforschung angewiesen. Nicht uninteressant ist auch, dass schon in den Empfehlungen des Deutschen Bildungsrats (1974) zu „Möglichkeiten und Grenzen der Bildungsforschung“ ←11 | 12→die historische (Bildungs-) Forschung im breiten Spektrum der genannten bildungswissenschaftlichen Disziplinen und Forschungszweige nicht vorkommt. Was bedeutet es also, dass im Kontext gegenwärtiger Bildungsreform wider Erwarten ein Bedarf an Geschichte entsteht?

Als erste Vorbemerkung sei erwähnt, dass der Bedarf an Geschichte gegenwärtig nicht allein von Vertretern der historischen Bildungsforschung gedeckt wird. Auch bei Vertretern der empirischen Bildungsforschung finden sich bemerkenswerte Rekurse auf die Disziplin- und Bildungsgeschichte, die ich unter den allgemeineren Begriff „pädagogische Historiographie“ subsummiere.

Die zweite Vorbemerkung bezieht sich auf das, was hier mit „gegenwärtiger Bildungsreform“ gemeint ist. Ich verstehe die im deutschsprachigen Raum spätestens nach PISA, international aber bereits in den 1990er Jahren einsetzende Reformphase nicht als eine bloße Summe punktueller Versuche der politischen Steuerung des Bildungssystems, sondern als eine neue komplexe Konstellation von Bildungstheorie, Bildungsforschung und Bildungspolitik, die im Ergebnis mit einer Rekonfiguration des pädagogischen Feldes verbunden ist. Es geht hierbei um „eine eigentliche Neudefinition dessen, was unter Schule oder institutionalisierter Bildung in ihrem Gesellschaftlichen Setting verstanden wird“ (Tröhler, 2019, S. 6). Im Anschluss an Peter A. Hall (1993) kann man die gegenwärtige Bildungsreform durchaus als „third order change“ oder Wechsel eines „policy paradigm“ bezeichnen. Die enge Koordination der drei genannten Dimensionen ist unübersehbar: So wird das bildungstheoretische Konzept von Grundbildung oder Literacy in der evidenzbasierten Bildungsforschung in Form von Kompetenzen und Kompetenzmodellen operationalisiert, welche wiederum in Gestalt von Standards national verbindlich kodifiziert und so zum zentralen bildungspolitischen Instrument einer outputorientierten Steuerung werden.

Es ist nun auffällig, dass die gegenwärtige Bildungsreform in allen drei Dimensionen nicht ohne einen Rekurs auf die Disziplin- und Bildungsgeschichte auszukommen scheint. Um pädagogische Historiographie im Kontext gegenwärtiger Bildungsreform zu beleuchten, werde ich im Folgenden für jede der drei Dimensionen ein Beispiel untersuchen. (1) Im Blick auf die Bildungstheorie und ihre Geschichte geht es um die Anbindung der internationalen Grundbildungsprogrammatik von PISA an das ←12 | 13→deutsche Bildungsdenken. (2) Im Blick auf die Bildungsforschung und ihre Geschichte geht es um die Anbindung gegenwärtiger evidenzbasierter Bildungsforschung an frühere Empirisierungsprogramme in der Erziehungswissenschaft. (3) Im Blick auf die Bildungspolitik und ihre Geschichte geht es um die Anbindung gegenwärtiger Modelle outputorientierter Steuerung an eine Vorgeschichte von Standardsetzung im Bildungssystem.

Details

Pages
246
Publication Year
2022
ISBN (PDF)
9783631877906
ISBN (ePUB)
9783631878651
ISBN (Hardcover)
9783631862513
DOI
10.3726/b19868
Language
German
Publication date
2022 (June)
Keywords
Festschrift Lehrer*innenbildungforschung Historische Bildungsforschung Allgemeine Erziehungswissenschaft Unterrichtsforschung Historische Schulforschung
Published
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 246 S.

Biographical notes

David Paulus (Volume editor) Patrick Gollub (Volume editor)

David Paulus ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Historische Schul- und Curriculumforschung am Institut für Erziehungswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Patrick Gollub ist Lehrkraft für besondere Aufgaben in der Arbeitsgruppe Allgemeine Didaktik und Unterrichtsforschung am Institut für Erziehungswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

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