Die Illusion des Illusionstheaters
Friedrich Ludwig Schröder, Shakespeare und der natürliche Schauspielstil
Summary
Excerpt
Table Of Contents
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Vorwort und Danksagung
- Inhaltsverzeichnis
- Abkürzungsverzeichnis
- I. Einleitung
- Erster Teil: Historischer Hintergrund
- II. Hamburg und sein Stadttheater
- 1. Hamburgische Kultur und Gesellschaft im 18. Jahrhundert
- 2. Das Hamburger Stadttheater unter Schröders erster Intendanz
- III. Zeitgenössische Diskurse und Textästhetik
- 1. Dramendiskurse im Kontext der Shakespeare-Rezeption
- 2. Wielands Shakespeare-Übersetzung im zeitgenössischen Kontext
- 3. Die Entstehung von Schröders Bearbeitungen
- 4. Der Einfluss des Publikums
- Zweiter Teil: Die Illusion des Illusionstheaters
- IV. Illusionstheater und Bühnenpraxis
- 1. Theaterbau und Bühnentechnik
- 2. Das Hamburger Theatergebäude und seine Bühnentechnik
- 3. Die vierte Wand
- V. Der natürliche Schauspielstil
- 1. Der englische Einfluss
- 2. Die Entwicklung des natürlichen Schauspiels in Deutschland
- 2.1 Die Anfänge: Englische Komödianten und Wandertruppen
- 2.2 Erste Reformbewegungen: Die angebliche Vertreibung des Hanswurst und die Etablierung des neoklassizistischen Schauspielstils
- 2.3 Weitere Reformbewegungen: Lessing und der natürliche Schauspielstil
- 2.4 Reform und Reglementierung: Schauspielschulen und Regelwerke
- 2.5 Der Beginn der deutschen Theaterkritik
- 3. Die Entstehung der Hamburger Schule
- 3.1 Lessing, Ekhof und das Ehepaar Ackermann: Die Grundlagen der Hamburger Schule
- 3.2 Schröders erste Direktion: Zwischen sozialer Anpassung und künstlerischen Idealen
- 3.3 Die Persistenz des Stegreiftheaters
- 4. Die Psychologisierung der Figuren und das Rollenfachsystem
- 5. Beispiel A: Der tatkräftige Hamlet?
- 5.1 Die Bearbeitung und der Text
- 5.2 Brockmanns Hamlet und Schinks Kritik
- 5.3 Der englische Einfluss ‒ Garrick und die deutsche Darstellung des Hamlet
- 5.4 Hamlet als Maßstab schauspielerischer Kunstfertigkeit
- 5.5 Die besondere Rolle des Geistes
- 5.6 Schröders Hamlet
- 5.7 Bühnenbild, Licht und Ton
- 6. Beispiel B: Der ambivalente Shylock
- 6.1 Shylock und die jüdischen Bühnenstereotype
- 6.2 Die Bearbeitung und der Text
- 6.3 Der englische Einfluss ‒ Macklin und die deutsche Darstellung des Shylock
- 6.4 Schröders Shylock und die zeitgenössische Kritik
- 6.5 Bühnenbild, Licht und Ton
- VI. Fazit und Forschungsausblick
- Abbildungsverzeichnis
- Literaturverzeichnis
- 1. Archivalien
- 2. Primärliteratur
- 3. Nachschlagewerke und Bibliographien
- 4. Sekundärliteratur
- Reihenübersicht
Abkürzungsverzeichnis
ADB Allgemeine Deutsche Biographie. Hg v. R. Freiherr von Liliencron/ F. X. von Wegele. 56 Bde. Berlin 1967–1971 (= Leipzig 1875–1912).
AT Almanach fürs Theater. Hg. v. Friedrich Ludwig Schmidt. Leipzig 1809–1812.
DF Dramaturgische Fragmente. Hg. v. Johann Friedrich Schink. Graz 1.1780/81–4.1782/83.
DM Dramaturgische Monate. Hg. v. Johann Friedrich Schink. Schwerin 1.1790–4.1790.
GDS Eduard Devrient: Geschichte der deutschen Schauspielkunst. Bd. II und III. Leipzig 1848.
GHT Gesetze des Hamburger Theaters.
HACN Hamburgische Addreß-Comtoir-Nachrichten.
HD Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie.
HS Friedrich Ludwig Schröder: Hamlet, Prinz von Dänemark. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Nach Shakespeare. Gedrucktes und mit handschriftlichen Notizen und Änderungen versehenes Soufflirbuch.
HT Hamburgisches Theater. Hg. v. Friedrich Ludwig Schröder. 4 Bde. 1775–1778.
HTG Johann Friedrich Schütze: Hamburgische Theater-Geschichte. Hamburg 1794.
JFS Hans Devrient: Johann Friedrich Schönemann und seine Schauspielergesellschaft (Theatergeschichtliche Forschungen, 11). Hamburg/Leipzig 1895.
KVI Friedrich Ludwig Schröder: Der Kaufmann von Venedig. Ein Lustspiel in vier Aufzügen, nach Shakespeare. Handschriftliches Inspektionsbuch.
KVS Friedrich Ludwig Schröder: Der Kaufmann von Venedig. Ein Lustspiel in 5 [Korrektur: vier] Aufzügen von Shakespeare. Handschriftliches Soufflierbuch.
LTB Literatur- und Theaterzeitung. Berlin 1.1778–7.1784.
ShJb Shakespeare-Jahrbuch (Jahrbuch der deutschen Shakespeare-Gesellschaft).
TJD Theater-Journal für Deutschland vom Jahr 1777. Gotha 1.1777–4.1777
TWB Theatralisches Wochenblatt. Hamburg 3.1774–10.1774.
UBH Johann Friedrich Schink: Ueber Brockmanns Hamlet. Berlin 1778.
I. Einleitung
Shakespeare und kein Ende! Das könnte man, Goethe folgend, in Anbetracht einer weiteren Untersuchung zu den Dramen des Briten ausrufen. Die Forschung zu Shakespeare und seiner Rezeption im deutschsprachigen Raum ist so umfangreich,1 dass man davon ausgehen könnte, es sei schon alles bekannt. Gleichzeitig macht die Größe und Komplexität des Themengebiets eine vollständige Darstellung faktisch unmöglich, wie bereits Roger Paulin feststellte: „Shakespeare is an inexhaustible subject, hence narratives of his reception cannot permit themselves the ultimate luxury of exhaustiveness.“2 Dementsprechend hat auch diese Arbeit nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, vielmehr konzentriere ich mich auf zwei Beispiele, die Bearbeitungen und Aufführungen der beiden Shakespeare-Stücke Hamlet und Der Kaufmann von Venedig von Friedrich Ludwig Schröder (1744–1816), um diese detailliert und tiefgreifend auf mehrere Aspekte hin zu untersuchen. Zu diesen Aspekten gehören, erstens, die zeitgenössischen Diskurse und die Textästhetik, die sowohl die Bearbeitungen Schröders wie auch die diesen zugrunde liegenden Übersetzungen Christoph Martin Wielands (1733–1813) beeinflussten, zweitens, der Publikumsgeschmack und die Rezeption, die zu starken Textänderungen führten, drittens, die Rahmenbedingungen der räumlichen wie technischen Möglichkeiten des Hamburgischen Theatergebäudes, die bei der Bearbeitung und Aufführung zu beachten waren, und, viertens, die Anforderungen und Auswirkungen des natürlichen Schauspielstils, der mit seinem Fokus auf Körpersprache und gradierte Gefühlsdarstellungen sowie individualisierte und psychologisierte Figuren nicht nur die schauspielerische Darstellung, sondern auch die Textgrundlage beeinflusste.
Die Wahl der Schröderschen Bearbeitungen ist naheliegend, denn es waren
Schröders bühnenwirksame Fassungen, die in der Folge von zahlreichen Theatern und Truppen nachgespielt wurden, und seine erfolgreichen Hamburger Inszenierungen haben maßgeblichen Anteil an der Einführung des Dramas auf den Bühnen, initiieren ←15 | 16→die weitere Shakespeare-Rezeption und ermöglichen damit einem deutschsprachigen Theaterpublikum Zugang zum Werk des elisabethanischen Dramatikers.3
Bei den ausgewählten Primärtexten handelt es sich um ein von der Forschung bereits stark und ein wenig beachtetes Stück, wie die Bibliographie Blinns deutlich spiegelt.4 Viel beachtet wurde und wird Schröders Hamlet-Bearbeitung, bei der es sich um ein ergiebiges Forschungsobjekt handelt, da das Stück spektakulären Erfolg hatte und dementsprechend stark rezipiert wurde, was sich in mehreren zeitgenössischen Publikationen niederschlägt, allen voran Schinks Rollenportrait Ueber Brockmanns Hamlet. Die Rezeptionsquellen zum Kaufmann von Venedig fallen, ebenso wie dessen Bühnenerfolg, im Vergleich gering aus, sind jedoch nicht weniger interessant.
Die Besonderheit der Bearbeitungen liegt in der dynamischen Natur der Texte, die mehrfach überarbeitet und u. a. in Reaktion auf Kritiken des Publikums hin geändert wurden. Diese Dynamik zeigt sich in den Schröderschen Bearbeitungen, die sich in der Theaterbibliothek der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg befinden, durch mehrfache handschriftliche Streichungen, Hinzufügungen und nachträglich eingeklebte Szenen. Vom Hamburger Hamlet gibt es insgesamt drei Fassungen aus den Jahren 1776 und 1778, wobei die erste nicht überliefert ist und die anderen beiden als Druckfassungen vorliegen. Schröder nutzte die erste Druckfassung von 1776 als Soufflier- und Inspizientenbuch für seine Aufführungen, das er mehrfach handschriftlich bearbeitete und als Vorlage für den zweiten Druck nutzte. Der Hamburger Kaufmann von Venedig liegt sowohl als handschriftliches Soufflier- als auch als Inspizientenbuch vor, die beide ebenfalls mehrere Überarbeitungsschritte in Form von Streichungen, Hinzufügungen und nachträglich eingeklebten Szenen zeigen. 1791 wurde eine von Schröder nicht autorisierte Druckfassung veröffentlicht, die einige Hinweise in Bezug auf die chronologische Einordnung einzelner Bearbeitungsschritte liefert, aber weitere Abdrucke oder gar Editionen dieser Bearbeitungen liegen nicht vor. Die detaillierte Analyse von Einzelaspekten der verschiedenen Textfassungen der beiden Stücke ist möglich durch die grundlegende Forschung von Renata Häublein zum Themenkomplex Shakespeare-Bearbeitungen auf der deutschen Bühne ←16 | 17→und besonders zu den Hamburger Bearbeitungen und ihren Vorlagen aus Wien und Prag.5 Häublein löst sich von den aus dem 19. Jahrhundert übernommenen Forschungsmeinungen und sieht die Bearbeitungen Schröders als „Produkte der Theaterpraxis“6, anhand derer u. a. Rückschlüsse auf den Entstehungskontext und die Wirkungsintention der Stücke gezogen werden können. Die zunehmend anerkannte „semiotisch-historische Bedingtheit des Textes (zwischen Textualität und Performativität)“7 lässt sich anhand der Soufflier- und Inspizientenbücher beispielhaft nachzeichnen. Die Texte waren einerseits bedingt durch die zeitgenössischen Theaterkonventionen und die Publikumsrezeption und andererseits durch die ästhetischen Ansprüche Schröders, der sie u. a. nach Publikation der Shakespeare-Übersetzungen Eschenburgs erneut überarbeitete.
Außerdem konzentriere ich mich bewusst auf einen bestimmten Zeitraum und einen bestimmten Ort, und zwar auf den Zeitraum der ersten Direktion Schröders 1771 bis 1781, während der seine einflussreichen Bearbeitungen mehrerer Shakespeare-Stücke uraufgeführt wurden, und die Stadt Hamburg, an deren Stadttheater diese Uraufführungen stattfanden.
Hamburg nimmt eine Sonderrolle in der deutschen Theatergeschichte ein als die Stadt, in der es die erste bürgerliche Oper und das erste deutsche Nationaltheater gab, „dem Orte wo einst Leßing seine Dramaturgie schrieb ‒ wo einst unter Schröders Direction die erste deutsche Schaubühne existirte […]“8. Die Oper, das Nationaltheater und das Stadttheater in Hamburg folgten zeitlich aufeinander und haben neben der lokalen Übereinstimmung eine grundlegende Gemeinsamkeit: Es handelte sich bei allen um private bürgerliche Unternehmungen, die an keinen Hof gebunden waren und keine Subventionen erhielten.
Das Theater unter Schröders Direktion war also ein wahrhaft bürgerliches Stadttheater in einer freien Reichsstadt, deren Bürger sich seit über einem Jahrhundert selbst regierten. Dementsprechend greift die verbreitete Theorie zum Theater des 18. Jahrhunderts als Ort der Etablierung eines bürgerlichen ←17 | 18→Selbstbewusstseins hier nicht, denn dieses Selbstbewusstsein war hier bereits etabliert. Der damit verbundene Topos der ‚Verbürgerlichung des Theaters‘ ist für Hamburg und vergleichbare Stadttheater damit ebenfalls nicht zutreffend. Ute Daniel kritisiert die Perpetuierung dieses undifferenzierten Topos in ihrer Untersuchung der Geschichte der Hoftheater, da sich die Vergesellschaftung des Bürgertums primär in der städtischen Selbstverwaltung äußerte, die dem Theater mit Desinteresse gegenüberstand.9 Auch der bürgerliche Senat in Hamburg zeigte dem lokalen Theater gegenüber wenig Unterstützung und hielt z. B. lange an den im nationalen Vergleich auffällig strengen Spielverbotsregelungen zu kirchlichen Feiertagen fest.
Das Konzept der Verbürgerlichung lässt sich im 18. Jahrhundert auf mehreren Ebenen erkennen, die u. a. auch die Monarchie betrafen. Politisch und finanziell durch die zahlreichen Kriege und die Folgen der Französischen Revolution geschwächt, versuchten die deutschen Herrscher durch einen nach bürgerlichen und aufklärerischen Vorbildern reformierten Absolutismus ihre Macht zu erhalten.10 In diesem Kontext kann die Öffnung der Hoftheater für zahlendes Publikum als Verbürgerlichung des Theaters gesehen werden, was sich jedoch auf bürgerliche Stadttheater wie das in Hamburg nicht auswirkte. Auf der sozialen Ebene zeigte sich die Verbürgerlichung „für die beruflich mit dem Theater befaßten Personengruppen sinnvollerweise nur an Veränderungen der Lebensführung und an der Art und Weise, in der sie sich selbst wahrnehmen bzw. durch andere wahrgenommen werden.“11 Diese Veränderungen erstreckte sich auf die zunehmende Spezialisierung der Arbeitsbereiche im Theater, was einerseits zur verstärkten Arbeitsteilung und stärkerer sozialer Binnendifferenzierung führte und andererseits zu einer Erhöhung der qualitativen Standards sowie zu einem sesshafteren und deutlich an bürgerlichen Vorstellungen von Moral und Sittlichkeit orientierten Lebenswandel bei einem Großteil der Schauspieler und Schauspielerinnen.12 Die zuvor ausgegrenzte soziale Randgruppe der wandernden Schauspieler und Schauspielerinnen verstand sich vermehrt als Künstler und Künstlerinnen und forderte dementsprechend die damit verbundene Anerkennung, die sie auch häufig erhielt. Doch während dem Theater bildende Funktion zugesprochen und die Schauspielerei verstärkt als erlernbarer Beruf akzeptiert ←18 | 19→wurde, hielten sich die Vorurteile in Bezug auf die mangelnde Sittlichkeit und Ehrlichkeit der Schauspieler und Schauspielerinnen hartnäckig, wie zahlreiche Zeitschriftenbeiträge und Theaterskandale belegen.
Zu den „ideellen und materiellen Faktoren,“13 welche gerade in Hamburg die Entstehung eines wirtschaftlich wie künstlerisch florierenden Theaters förderten, gehörte zusätzlich zu der vergleichsweise großen gestalterischen Freiheit durch die bürgerliche Regierung mit ihrer milden Zensur eine ausreichende Anzahl theaterbegeisterter und finanzkräftiger Aktionäre, die den Bau des Theatergebäudes ermöglichten, ebenso wie eine ausreichende Zahl regelmäßiger Theaterbesucher und -besucherinnen. Die internationalen Handelsverbindungen der großen Hafenstadt boten außerdem besondere soziohistorische Gegebenheiten: Das heterogene Publikum des Theaters setzte sich nicht nur aus den unterschiedlichen Einwohnern der Stadt zusammen, von denen einige auf ihren (Handels)Reisen mehrere andere Theatergesellschaften zu sehen bekommen hatten, sondern auch aus Touristen, Handelsreisenden, ausländischen Gesandten und anderen Würdenträgern sowie Matrosen auf Landgang. Vor allem die Verbindung nach London und damit zur englischen Kultur erwies sich als sehr fruchtbar. Zusätzlich zu den verschiedenen Nationalitäten waren auch verschiedene Glaubensrichtungen vertreten, so existierte in Hamburg mit der Dreigemeinde eine der größten jüdischen Gemeinden des deutschsprachigen Raums, was vor allem bei der Untersuchung der Darstellungen ausländischer und jüdischer Figuren wie im Kaufmann von Venedig von Relevanz ist.
Trotz des ausgeprägten Desinteresses des Senats an der städtischen Theaterkultur und der wiederkehrenden Klagen über das schwer zu begeisternde Publikum wurde die Stadt schon von Zeitgenossen als ein kulturelles Zentrum geschätzt:
Hamburg war von jeher der Sammelplaz der größten Künstler, die Deutschland zu allen Zeiten hatte. Ekhof, Akkerman, Reineke, Stark, die Löwin, die beyden Akkermann, die Seylerin, die Mecour und Brandes glänzten auf seiner Bühne, und es hatte Lessing als Dramaturgen. So war es fast immer der Pflegesiz der wahren Kunst, und ist es noch, denn Schröder ist Muster und Lehrer.14
Den lang anhaltenden Ruf als „Muster und Lehrer“ erwarb sich der junge Theaterdirektor Schröder bereits im Laufe seiner ersten Direktion und baute ihn während seiner zweiten Direktion von 1786 bis 1798 weiter aus. Dabei stellte Schröder selbst einen Sonderfall dar, denn das Theatergebäude in Hamburg gehörte seiner Familie. Der Aufklärer und Freimaurer war damit nicht nur Direktor, Autor und Bearbeiter von Theaterstücken, Tänzer und Schauspieler, sondern auch Mitbesitzer des Theaters. Zusammen mit seinen Erfahrungen als Ballettmeister und Maschinist räumte ihm das eine ungewöhnliche Machtposition ein, die es ihm ermöglichte, auf fast jedes Element der Aufführung ‒ Text, Besetzung, Kostümierung, Licht, Musik, Bühnenbild usw. ‒ Einfluss zu nehmen. Seine Theatergesetze belegen, wie umfassend er Kontrolle über sein Theater und seine Angestellten auf und hinter der Bühne ausübte, was ihn zu einer Art ‚Proto‘-Regisseur macht. Es mag an dieser Kontrolle liegen, dass das Hamburgische Theater den Ruf als „erste deutsche Schaubühne“15 genoss.
Der ausgewählte Zeitraum der ersten Direktion Schröders lässt sich der dritten Phase der Aufklärung zuordnen, die in den 1760ern einsetzte und sich durch eine Vermischung der Aufklärungsideale mit der entstehenden Empfindsamkeit auszeichnete. Diese Phase zeichnet sich durch die „Entdeckung der Sinne, der Seele, der Gefühle“16 aus, was einen weitreichenden Einfluss auf fast alle Lebensbereiche und mit ihnen das zeitgenössische Theater hatte. Dabei äußerte sich die „Vorherrschaft des Sinns […] in der Zeit zwischen 1755 und 1790 am deutlichsten in der Prosa des bürgerlichen Trauerspiels, des Rührstücks und Trivialdramas.“17 Sie prägte auch Schröders Bearbeitungen der Stücke Shakespeares für sein Theater, wie in dieser Arbeit an mehreren Stellen deutlich wird. Das heißt jedoch nicht, dass alle Entwicklungen und Haltungen der Zeit sich den prägenden Aspekten dieser Phase unterordnen lassen und man sie bei fehlender Übereinstimmung als Ausnahmen entwerten oder gar ignorieren darf. Die theatergeschichtliche Forschung ist in vielen Bereichen noch stark geprägt durch die
Beglaubigung und Fortschreibung einer ganz bestimmten kulturellen wie literarästhetischen Norm: des norddeutsch-protestantischen Aufklärungsparadigmas mit seiner heuristischen Dichotomisierung von Rationalismus und Antirationalismus sowie der ←20 | 21→dazugehörigen Epochalisierungsnorm Aufklärung ‒ Empfindsamkeit ‒ Sturm und Drang ‒ Klassik.18
Durch diese Normierung werden die Textkorpora homogenisiert und beispielsweise zahlreiche österreichische Autoren und Autorinnen des 18. Jahrhunderts ausgegrenzt und abgewertet, was nur ein Beispiel für die dem Epochenmodell „immanente Auslöschungsbewegung“19 ist. Dabei erweisen sich die Ausgrenzungen, die u. a. mit der Konstituierung des germanistischen Fachbereichs einhergingen, „nicht nur als folgenreich für all jene Gegenstände, die in einer kurzen Geschichte der deutschen Literatur keinen Platz haben, sondern auch für die Kanontexte selbst.“20 Doch noch existiert kein alternatives Modell, „das das liebgewordene literarhistorische Ordnungsparadigma durch ein den kulturellen Prozessen innerhalb des deutschsprachigen Raumes adäquateres Darstellungsmodell ersetzt.“21
Zusätzlich zur Problematik des vereinfachenden Epochenmodells führt auch die Fächertrennung bzw. führen die „Strukturen der Geisteswissenschaften selbst“22 zu einer unvollständigen Erforschung der Theatersituation des 17. und 18. Jahrhunderts, da die Fragestellungen und Themenbereiche die Arbeitsfelder mehrerer Fächer umfassen: Neben den literarischen und literaturhistorischen Feldern gehören u. a. auch musikwissenschaftliche, übersetzungswissenschaftliche, kulturgeschichtliche, komparatistische, theaterhistorische, anthropologische, sozialgeschichtliche sowie architekturhistorische Fragestellungen zu einer gründlichen Erforschung der damaligen Theatersituation. Denn es ist nicht nur die sich wandelnde Schauspielkunst, die sich „im ‚grenzüberschreitenden‘ Ideen- und Erfahrungsaustausch“23 vor allem zwischen England, Frankreich und Deutschland entwickelt, was eine interdisziplinäre Herangehensweise an die historische Theaterforschung notwendig macht. Dementsprechend fußt diese Untersuchung auf einem intensiven Studium unterschiedlicher Quellen ←21 | 22→unterstützt durch Forschungsliteratur verschiedener Fachrichtungen und Herkunftsländer, wobei die den Theaterabend begleitende Musik und eventuelle Tanzeinlagen keine große Beachtung finden.
Besondere Aufmerksamkeit widme ich dem Einfluss des neu aufkommenden natürlichen Schauspielstils, dessen Aufstieg eng mit der Popularisierung der Dramen Shakespeares verknüpft ist. Meine Hypothese ist, dass sich die mit dem natürlichen Schauspielstil einhergehenden ästhetischen und darstellerischen Ansprüche an die Schauspieler und Schauspielerinnen deutlich in den Bearbeitungen der Stücke spiegelt. Dabei zeigt sich auch der große Einfluss von Schauspielkunst und Literatur aus England auf die Entwicklung deutscher Theaterkultur. An zentraler Stelle steht dabei das beginnende Interesse am Inneren des Menschen und damit an einer sowohl emotiven als auch nachvollziehbaren Darstellung der Gefühlsregungen und Handlungsmotivation von Bühnencharakteren. Dementsprechend beliebt waren die Stücke Shakespeares, in denen auf eine neue Art und Weise individuelle und doch breitenwirksame Figuren auftraten, und ebenso verständlich ist es, dass vor allem die Stücke für die Aufführung gewählt wurden, bei denen eine klar definierte Hauptfigur im Mittelpunkt stand. Dabei stellt sich heraus: „Shylock remains as vivid as Hamlet,“24 weswegen sich die beiden Stücke so hervorragend für eine gemeinsame Untersuchung eignen. Durch die Konzentration auf eine Hauptfigur konnte die erwünschte Identifikation des Publikums mit dieser Figur und eine möglichst intensive Affekterregung erreicht werden, die den Kern des Illusionstheaterkonzepts des 18. Jahrhunderts bildeten.25 Auch wenn Shylock erst ab dem 19. Jahrhundert als Hauptfigur des Kaufmann von Venedig galt, so lässt sich doch Schröders ambivalente Darstellung der Figur als erster Schritt in Richtung dieser Entwicklung sehen. Eine weitere Voraussetzung für diese intendierte Wirkung der Aufführungen war die beginnende Einrichtung der sog. vierten Wand.
Das grundlegende Problem bei der Untersuchung von Theateraufführungen hat bereits Lessing benannt, als er in seiner Hamburgischen Dramaturgie schrieb: „die Kunst des Schauspielers ist in ihren Werken transitorisch.“26 Die Flüchtigkeit der Eindrücke von einer Aufführung und die allgemeine Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses erschweren zusammen mit dem „Mangel an einem Beschreibungs-, ←22 | 23→Aufzeichnungs- und Deutungsverfahren“27 die Erforschung von Theater und Schauspielkunst; die Schwierigkeiten erhöhen sich bei einem historischen Thema wie dem Theater des 18. Jahrhunderts, da in diesem Fall der zeitliche Abstand und eine geringe Anzahl an Quellen dazukommen. Natürlich gab und gibt es die Möglichkeit, das Transitorische des Schauspiels über bildende Kunst festzuhalten oder sich ihm über schriftlich festgehaltene Momentaufnahmen eines visuellen Erlebnisses anzunähern; mit dieser Problematik sahen sich bereits die Biographen von Schauspielern und Schauspielerinnen konfrontiert.28 Der Biograph und Freund Friedrich Ludwig Schröders, Friedrich Wilhelm Meyer, äußerte sich bereits in seiner Schröder-Biographie zu dem Vor- und Nachteil des Transitorischen: „Es ist der Triumph, aber auch der Fluch des Schauspielers, das keine Worte seine Vollkommenheit zu schildern vermögen, und der Umfang seiner Verdienste nur von Augenzeugen begriffen werden kann.“29
Zeitgenössische Zeichnungen oder Stiche von Schauspielszenen oder Schauspielern wie Schauspielerinnen in bestimmten Rollen sind erhalten, aber ihre Anzahl ist eher gering. Wenn sie als Basis für Rückschlüsse auf die Darstellungspraxis genutzt werden sollen, muss man sich bewusst sein, dass sie stark idealisierte Versionen der Szenen wiedergeben. Abbildungen aus dem Untersuchungszeitraum sind ‒ wie die Beschreibungen in Rezensionen, Rollenportraits usw. ‒ meistens normativ und selten deskriptiv; sie geben uns also einen guten Einblick in die verbreiteten Ideale in Bezug auf Theater und Schauspiel, aber weniger in die tatsächlich stattgefundenen Darstellungen. Unter Beachtung dieses Vorbehalts sind es durchaus ergiebige Quellen, die zahlreiche Hinweise auf das damalige Körperbild und den bevorzugten Schauspielstil liefern, wie Alexander Košenina wegweisend in seiner Forschung gezeigt hat.30 Seine ←23 | 24→Theaterhermeneutik bezieht Dramentext, Rollenportraits, Abbildungen usw. mit ein und eröffnet damit neue Perspektiven für die theaterhistorische Forschung.31
Die erhaltenen Abbildungen des Hamburgischen Stadttheaters sowie die Grundrisszeichnungen und Querschnitte des Gebäudes geben Hinweise auf die Architektur des Theatergebäudes und damit auf die für die Inszenierungen verfügbaren räumlichen und technischen Möglichkeiten und Einschränkungen.
Eine weitere theaterspezifische Quelle, deren Erforschung erst begonnen hat, sind die Theaterzettel, die als „performativ ausgerichtete Paratexte […] mit den theatralen Aufführungspraktiken eng verknüpft“32 sind. Dieses theaterhistorische Medium diente der Verbreitung von Informationen vonseiten des Theaters zum Spielplan, der Besetzung, dem Bühnenbild und anderen Themen, mit denen Zuschauer und Zuschauerinnen zu einem Theaterbesuch animiert und die Rezeption eines Theaterabends gesteuert werden konnten. Theaterzettel sind ‒ zusammen mit den Programmankündigungen in Zeitungen und Aufführungslisten in Theaterperiodika ‒ die Quellengrundlage für die quantitative Spielplanforschung, die durch die Auswertung von Theaterspielplänen eine systematische ←24 | 25→Basis für die historische Theaterforschung schafft.33 Auf diesem Wege wurde im Zuge des DFG-Projekts „Bühne und Bürgertum. Das Hamburger Stadttheater 1770–1850“ unter der Leitung von Bernhard Jahn und Claudia Maurer Zenck der Spielplan dieses Stadttheaters für einen Zeitraum von 80 Jahren systematisch aufgearbeitet und online frei zugänglich gemacht.34 Einen großen Teil der Recherchen für diese nun vorliegende Dissertation habe ich während der Mitarbeit in diesem Projekt geleistet und stütze mich durchweg auf die im digitalen Spielplan zusammengetragenen Daten.
Als grundlegende Quellen habe ich zusätzlich Korrespondenzen Friedrich Ludwig Schröders mit anderen deutschen Schriftstellern, Schauspielern und Theaterdirektoren hinzugezogen, vor allem den von Bertold Litzmann herausgegebenen Briefwechsel mit dem Singspielautor und Mitbearbeiter des Kaufmann von Venedig, Friedrich Wilhelm Gotter,35 sowie die von Schröder aufgesetzten Theatergesetze und seine handschriftlichen Anmerkungen in den vorliegenden Soufflierbüchern der beiden untersuchten Theaterstücke. Diese Quellen liefern einen Einblick in Schröders Arbeitsweise, seine Ansprüche an Mitarbeiter wie Publikum und seine persönlichen Schauspielideale. Weitere Informationen zu Schröder als Mensch und Künstler eröffnen die ausführlichen Biographien von Friedrich Wilhelm Meyer und Bertold Litzmann, die Darstellung des Stiefsohns in Herbert Eichhorns Ackermann-Biographie und die Auseinandersetzungen Friedrich Ludwig Schmidts mit dem Freund und Mentor in seiner Autobiographie sowie die Tagebücher von Elisa von der Recke. Die intensive Lektüre der Briefe und Tagebücher von Schauspielern und Schauspielerinnen ermöglicht es, sich deren Alltag mit seinen Herausforderungen und Problemen annähern zu können, was für den sozialhistorischen Aspekt dieser interdisziplinär ausgelegten Arbeit von großer Relevanz ist. Außerdem bilden diese Egoquellen ein aufschlussreiches Gegengewicht zu den häufig zweckgebundenen Rezensionen und anderen theaterbezogenen Schriften in der Presse.
Das 18. Jahrhundert ist ein Jahrhundert der Presseerzeugnisse; besonders in Bezug auf das Theater gab es – ausgehend von England – einen regelrechten ←25 | 26→Boom von spezialisierten Zeitungen, Zeitschriften, Journalen und Almanachen. Im Zuge dieser Entwicklung entstanden und verbreiteten sich auch auf dem europäischen Kontinent die neuen journalistischen Gattungen der Theaterkritiken und Schauspielerportraits, die wertvolle Hinweise zu den Aufführungen liefern. Doch detaillierte Beschreibungen von Darstellungen sind selten überliefert, deswegen bleiben die Bewegungen der Schauspieler und Schauspielerinnen auf der Bühne, ihre Mimik, Gestik und Intonation meist unbekannt oder spekulativ. Außerdem muss beachtet werden, dass diese Textquellen neben ihrer präskriptiven Natur einer stark subjektiven Färbung durch den ‒ häufig anonym schreibenden ‒ Kritiker unterliegen. Wie ich in Kapitel III erläutere, prägte der zeitgenössische literatur- und theaterästhetische Diskurs die Meinung und Ansprüche der Kritiker, die häufig nicht mit den Meinungen und Ansprüchen des Theaterpublikums übereinstimmten. Ein weiteres Problem mit zeitgenössischen Theaterperiodika ist, dass sie in einem „noch nicht grundsätzlich erforschten“36 Spannungsfeld aus Feindschaften, Freundschaften und anderen einer objektiven Darstellung nicht förderlichen Beziehungsstrukturen entstanden.37 Die positiven wie negativen Bewertungen von Direktoren, einzelnen Schauspielern oder Schauspielerinnen oder gar ganzen Gesellschaften sind dementsprechend nicht ausschließlich durch ihr Verhalten und ihre Handlungen bestimmt, sondern häufig von unbekannten Sympathien oder Antipathien geprägt, was Zweifel an der postulierten Objektivität und Zuverlässigkeit der journalistischen Texte erhebt.
Das Theaterpublikum des 18. Jahrhunderts ist ein komplexes Forschungsfeld, das in der neuen Publikationsreihe Proszenium von Hermann Korte und Hans-Joachim Jakob zum ersten Mal ausführlich in den Mittelpunkt gesetzt wird. Die ungewöhnliche Machtposition des Publikums und sein weitreichender Einfluss auf das Repertoire und den Spielplan sowie personelle Entscheidungen innerhalb einer Schauspielgesellschaft müssen bei einer theaterhistorischen Analyse von lokalen Stückadaptionen zwingend Teil der Untersuchung sein, denn sie prägten die äußeren Umstände einer Aufführung maßgeblich. Dabei ist die Aufführung an sich bisher besonders von der germanistischen Forschung vernachlässigt worden, die sich eher durch „Fixierung auf das Drama als Lesedrama ←26 | 27→und die penible Ausdeutung von Dramenpoetiken“38 auszeichnet. Dem dadurch ausgelösten Forschungsdesiderat folgt diese Arbeit, deren Fokus auf den Aufführungsaspekten der beiden ausgewählten Dramentexte und dem historischen wie praktischen Kontext ihrer Umsetzung auf der Bühne liegt. Die Rezeption eines Textes über das Medium der Theateraufführung unterscheidet sich schließlich maßgeblich von anderen Rezeptionsformen, wie Erika Fischer-Lichte eindrücklich beschreibt:
In einer Aufführung gelten entsprechend ganz andere Bedingungen als bei der Produktion und Rezeption von Texten und anderen Artefakten. Während die Akteure handeln ‒ sich durch den Raum bewegen, Gesten ausführen, das Gesicht verziehen, Objekte manipulieren, sprechen und singen ‒, nehmen die Zuschauer ihre Handlungen wahr und reagieren auf sie. Zwar mögen diese Reaktionen teilweise als rein ‚innere‘, d. h. imaginative oder kognitive Prozesse ablaufen. Den überwiegenden Teil stellen jedoch wahrnehmbare Reaktionen dar: Die Zuschauer lachen, jauchzen, seufzen, stöhnen, schluchzen, weinen; sie scharren mit den Füßen, rutschen unruhig auf dem Stuhl hin und her, lehnen sich mit gespanntem Gesichtsausdruck nach vorn oder mit gelangweilten Gesicht zurück; sie halten den Atem an und wer den beinahe starr; sie schauen wiederholt auf die Uhr, gähnen, knistern mit Einwickelpapier, essen und trinken; sie flüstern sich Bemerkungen zu oder kommentieren das Bühnengeschehen laut und ungeniert; sie rufen „Bravo“, „da capo“, klatschen Beifall oder zischen und buhen; sie stehen auf, verlassen den Saal und knallen die Türen hinter sich zu.39
Diese unmittelbar ausgelebten Reaktionen des Publikums auf das Bühnengeschehen hatten selbstverständlich Auswirkungen auf Ablauf wie Gestaltung des Theaterabends „und damit auch auf Aufführungsstile, theatralische Inszenierungen, öffentliche Resonanzen, Erfolg, Misserfolg und mittelbar sogar auf Stückeschreiber und Theaterdichter.“40 Das Publikum war sich seiner Wirkungsmacht auf die Gestaltung des Theaterabends bewusst, was zu einer direkten und vielschichtigen Interaktion zwischen Direktion, Schauspielern und ←27 | 28→Schauspielerinnen auf der einen Seite und Zuschauern und Zuschauerinnen auf der anderen Seite führte.
Diese Interaktion stand im Fokus des im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts aufkommenden Disziplinierungsdiskurses, der eng mit dem Konzept des Theaters als ‚bürgerlicher Sittenschule‘ verknüpft ist und die Beiträge in den Theaterperiodika wie ein roter Faden durchzieht. Zahlreiche Theaterkritiker, -reformer und selbst ernannte „Kenner“ bemängelten darin die Unruhe des Publikums, dessen lautstarke Äußerungen von Beifall und Missfallen als illusionsstörend abgelehnt wurden, denn die Idealvorstellung eines reformierten und bildenden Theaters erforderte ein möglichst reg- und lautloses Publikum, das seinen Beifall gemäßigt äußerte und auf keine weitere Weise in den theatralen Raum eingriff.
Dass die Forderungen der Reformer und Kritiker und die tatsächlichen Zustände im Hamburgischen Theater ‒ trotz eines reformorientierten Direktors ‒ kaum übereinstimmten, zeigt sich wiederholt in den folgenden Untersuchungen. Doch anstatt zu kritisieren, welche Forderungen nicht oder nicht ausreichend umgesetzt wurden, lohnt es sich, einen Blick darauf zu werfen, wie dynamisch performative Kunst und ihre Textgrundlagen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in Hamburg in einem vielschichtigen Spannungsfeld aus ästhetischen, moralischen, didaktischen und disziplinierenden Diskursen, einem machtvollen heterogenen Publikum, einem reformorientierten und mächtigen ‚Proto‘-Regisseur und dem natürlichen Schauspielstil entstanden.
1 Einen Überblick über die Forschung bis 1993 liefert Hansjürgen Blinn: Der deutsche Shakespeare. Eine annotierte Bibliographie zur Shakespeare-Rezeption des deutschsprachigen Kulturraums (Literatur, Theater, Film, Funk, Fernsehen, Musik und bildende Kunst). Berlin 1993.
2 Roger Paulin: The Critical Reception of Shakespeare in Germany 1682–1914. Native Literature and Foreign Genius. Hildesheim/Zürich/New York 2003, S. 9.
3 Beate Hochholdinger-Reiterer: Die deutschsprachigen Hamlet-Bearbeitungen Heufelds und Schröders. In: Hamlet-Handbuch. Stoffe, Aneignungen, Deutungen. Hg. v. Peter W. Marx. Stuttgart/Weimar 2014, S. 24–27, hier S. 27.
4 Die Auflistung der Forschungsliteratur zum Hamlet erstreckt sich über fast 20 Seiten, während die zum Kaufmann von Venedig nur 2 umfasst. Blinn: Bibliographie, S. 186–198, 207 ff.
5 Renata Häublein: Die Entdeckung Shakespeares auf der deutschen Bühne des 18. Jahrhunderts. Adaption und Wirkung der Vermittlung auf dem Theater (Theatron. Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste, 46). Tübingen 2005. Auch die Grundlagen der älteren Forschung werden mitbeachtet, wie z. B. Leopold Stahl: Shakespeare und das deutsche Theater. Wanderung und Wandelung seines Werkes in dreiundeinhalb Jahrhunderten. Stuttgart 1947.
6 Häublein, S. 7.
7 Marx: Hamlet-Handbuch, S. IX.
8 Johann Gottlieb Rohde: Briefe über Schauspielkunst, Theater und Theaterwesen in Deutschland. Altona 1798, S. 3.
9 Ute Daniel: Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart 1995, S. 126 f.
10 Vgl. Daniel, S. 116–123.
11 Ebd., S. 132.
Details
- Pages
- 452
- Publication Year
- 2022
- ISBN (PDF)
- 9783631873861
- ISBN (ePUB)
- 9783631873878
- ISBN (Hardcover)
- 9783631848289
- DOI
- 10.3726/b19467
- Language
- German
- Publication date
- 2022 (May)
- Keywords
- Shakespeare-Rezeption Shylock Performance studies eloquentia corporis Ästhetikdiskurse Theater der Aufklärung Hamlet 18. Jahrhundert Bühnenadaption Übersetzungsgeschichte
- Published
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 452 S., 2 farb. Abb., 9 s/w Abb.