Loading...

Raum als berufspädagogische Dimension

Empirische Befunde und theoretische Überlegungen zu Interdependenzen zwischen Orten und Berufsbildungssystemen

by Marco Hjelm-Madsen (Author)
©2022 Thesis 550 Pages

Summary

„Räumlichkeit“ ist weitgehend als Desiderat in der Berufsbildungsforschung anzusehen. In der vorliegenden Studie werden orts- und raumbezogene Fragestellungen aus berufspädagogischen Perspektiven untersucht. Dabei steht im empirischen Teil eine exemplarische Betrachtung der Disparatheit öffentlicher berufsbildender Schulen in Schleswig-Holstein im Mittelpunkt. Analysiert werden ferner topologische Wechselwirkungen zwischen Räumen und Berufsbildungssystemen sowie daraus entstehende Folgerungen und Widersprüche, sodass – trotz des interdisziplinären Charakters an den Nahtstellen von Raumsoziologie, Sozialgeographie und Berufsbildungsforschung – eine genuin berufspädagogische Position entwickelt wird. Daher ist das Werk als Beitrag zu einer raumbezogenen Berufsbildungsforschung zu verstehen.
Dieses Werk enthält zusätzliche Informationen als Anhang. Dazu wenden Sie sich bitte an orders@peterlang.com. Sie erhalten den Anhang dann per E-Mail.

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Teil I: Hintergrund, Fragestellung, Vorgehensweise und Relevanz
  • 1. Raum als berufspädagogische Dimension
  • 1.1. Unordnung im berufspädagogischen „Vorgarten“
  • 1.2. Hintergrund, Fragestellung und Zielsetzung der Untersuchung
  • 1.3. Vorüberlegungen, begriffliche Setzungen und Prämissen
  • 1.3.1. Orientierungsmöglichkeiten – zur (berufs-)pädagogischen Leere des Raums
  • 1.3.2. Raum und Disparität – begriffliche Annäherungen
  • 1.3.3. Vom Ort zum Raum – Lokalisierung berufsbildungsbezogener Disparate
  • 1.3.4. Zwischen Konstruktivität und Evidenz – syllogistische Vorüberlegungen
  • 1.4. Folgerungen und Konkretisierung der Fragestellung
  • 1.5. Ablauf und Gliederung der Untersuchung
  • 2. Zur berufspädagogischen Relevanz räumlicher Disparate
  • 2.1. Mikroebene: Raumbezogene Vielfalt als Grundmuster der Lernfeldumsetzung
  • 2.2. Mesoebene I: Zur vielfältigen Erscheinungsform berufsbildender Schulen
  • 2.3. Mesoebene II: Disparitäten in der faktischen Funktion von Ausbildungsgängen
  • 2.4. Exoebene I: Komplexität als Problem einer (Berufs-)Schulentwicklungsplanung
  • 2.5. Exoebene II: raumbezogene Unterschiede in Berufsbildungsangebot und -nachfrage
  • 2.6. Exoebene III: Regionen als Orte (berufs-)bildungspolitischer Gestaltung
  • 2.7. Makro-/Supranationalebene: Transformationsbeschreibungen und Raumbezug
  • 2.8. Folgerungen: Relevanz von und Perspektivität auf raumbezogene Disparate
  • Teil II: Raum zwischen Einheit und Vielfalt – empirische Analyse
  • 3. Interdependenz von Räumen und Berufsbildungsindikatoren in Schleswig-Holstein
  • 3.1. Zur Einordnung des empirischen Untersuchungsansatzes
  • 3.2. Erkenntnisinteresse und Zielsetzung der empirischen Untersuchung
  • 3.3. Individuelle Bedeutung der Interdependenz von Raum und Berufsbildungssystem
  • 3.4. Zum Forschungsdesign der empirischen Vergleichsuntersuchung
  • 3.4.1. Theoretisch-methodische Aspekte des (raumbezogenen) Vergleichens
  • 3.4.2. Perspektivität raumbezogener Vergleichsbetrachtungen
  • 3.4.3. Berufsbildung und reziproke Person-Umwelt-Relationen
  • 3.4.4. Objektebene des raumbezogenen Vergleichs berufsbildender Schulen
  • 3.4.5. Kategorien des raumbezogenen Vergleichs berufsbildender Schulen
  • 3.4.6. Vorgehensweise und Systematik der Vergleichsanalyse
  • 3.4.7. Herkunft, Umfang, Aufbereitung und Qualität des Datenmaterials
  • 3.5. Hintergrundinformationen zur empirischen Untersuchung
  • 3.5.1. Rahmenbedingungen zur beruflichen Bildung in Schleswig-Holstein
  • 3.5.1.1. Demographie und Siedlungsstruktur
  • 3.5.1.2. Ökonomische Rahmenbedingungen
  • 3.5.1.3. Jüngere Reformen des Bildungs- und Berufsbildungssystems
  • 3.5.1.4. Entwicklungstendenzen im Bildungs- und Berufsbildungssystem
  • 3.5.2. Aspekte öffentlicher berufsbildender Schulen in Schleswig-Holstein47
  • 3.5.2.1. Standorte, Organisationsformen und rechtlicher Status
  • 3.5.2.2. Entwicklung der Schülerzahlen nach Schularten51
  • 3.5.2.3. Entwicklung der Schülerzahlen an öffentlichen berufsbildenden Schulen
  • 3.5.2.4. Entwicklung von Berufsschülerzahlen nach dualen Ausbildungsberufen
  • 3.5.2.5. Genderaspekte
  • 3.5.2.6. Durchschnittsalter von Schülerinnen und Schülern
  • 3.5.2.7. Bildungsinstitutionelle bzw. schulische Herkunft von Lernenden
  • 3.5.2.8. Entwicklungen allgemeinbildender Eingangsabschlüsse
  • 3.5.2.9. Landesberufsschulen und Bezirksfachklassen
  • 3.5.2.10. „Unterkritische Klassengrößen“ an Berufsschulen
  • 4. Inspatialer Vergleich von (berufs-)schulischen Indikatoren zur Berufsbildung
  • 4.1. Klientelstruktur im raumbezogenen Vergleich
  • 4.1.1. Klientelstruktur an berufsbildenden Schulen
  • 4.1.1.1. Allgemeine Angaben zu Lernenden an berufsbildenden Schulen
  • 4.1.1.2. Indikator 1: Altersstruktur
  • 4.1.1.3. Indikator 2: Geschlechterrelation
  • 4.1.1.4. Indikator 3: Migrationsaspekte
  • 4.1.1.5. Indikator 4: bildungsinstitutionelle bzw. schulische Herkunft
  • 4.1.1.6. Indikator 5: allgemeinbildende Schulabschlüsse
  • 4.1.2. Klientelstruktur an Berufsschulen
  • 4.1.2.1. Allgemeine Angaben zu Schülerinnen und Schülern an Berufsschulen
  • 4.1.2.2. Indikator 1: Altersstruktur
  • 4.1.2.3. Indikator 2: Geschlechterrelation
  • 4.1.2.4. Indikator 3: Migrationsaspekte
  • 4.1.2.5. Indikator 4: bildungsinstitutionelle bzw. schulische Herkunft
  • 4.1.2.6. Indikator 5: allgemeinbildende Schulabschlüsse
  • 4.2. Angebotsstruktur im raumbezogenen Vergleich70
  • 4.2.1. Struktur des Berufsbildungsangebotes an berufsbildenden Schulen
  • 4.2.2. Struktur des Ausbildungsangebotes an Berufsschulen
  • 4.2.2.1. Indikator 1: Anzahl und relationale Gewichtung dualer Ausbildungsberufe
  • 4.2.2.2. Indikator 2: Relationale Anteile von Berufsfeldern
  • 4.3. Einzugsgebiete im raumbezogenen Vergleich
  • 4.3.1. Einzugsgebiete berufsbildender Schulen
  • 4.3.1.1. Zu Einzugsgebieten berufsbildender Schulen
  • 4.3.1.2. Indikator 1: Versorgungsleistung durch berufsbildende Schulen
  • 4.3.1.3. Indikator 2: Entfernung zwischen Schul- und Wohnort
  • 4.3.1.4. Indikator 3: Versorgungsleistung durch berufsbildende Schulen84
  • 4.3.1.5. Indikator 4: Entfernung zwischen Schul- und Wohnort85
  • 4.3.1.6. Indikator 5: relationale Einmündungsquoten in berufsbildende Schulen
  • 4.3.2. Einzugsgebiete von Berufsschulen
  • 4.3.2.1. Indikator 1: Versorgungsleistung durch Berufsschulen
  • 4.3.2.2. Indikator 2: Entfernung zwischen Berufsschule und Wohnort
  • 4.3.2.3. Indikator 3: Anteile von Bezirksfachklassen und Landesberufsschulen
  • 4.3.2.4. Indikator 4: Versorgungsleistung durch Berufsschulen nach Betriebsort
  • 4.4. Zwischenfazit zum raumbezogenen Vergleich aus inspatialer Perspektive
  • 5. Exspatialer Vergleich von (berufs-)schulischen Indikatoren zur Berufsbildung
  • 5.1. Vorbemerkung zur exspatialen Vergleichsperspektive
  • 5.2. Klientelstruktur im raumbezogenen Vergleich
  • 5.2.1. Strukturmerkmale von Schülerinnen und Schülern an berufsbildenden Schulen
  • 5.2.1.1. Gesamtzahl von Schülerinnen und Schülern an berufsbildenden Schulen
  • 5.2.1.2. Indikator 1: Altersstruktur
  • 5.2.1.3. Indikator 2: Geschlechterrelation
  • 5.2.1.4. Indikator 3: Migrationsaspekte
  • 5.2.1.5. Indikator 4: bildungsinstitutionelle bzw. schulische Herkunft
  • 5.2.1.6. Indikator 5: allgemeinbildende Schulabschlüsse
  • 5.2.2. Strukturmerkmale von Schülerinnen und Schülern an Berufsschulen
  • 5.2.2.1. Indikator 1: Altersstruktur
  • 5.2.2.2. Indikator 2: Geschlechterrelation
  • 5.2.2.3. Indikator 3: Migrationsaspekte
  • 5.2.2.4. Indikator 4: bildungsinstitutionelle bzw. schulische Herkunft
  • 5.2.2.5. Indikator 5: allgemeinbildende Schulabschlüsse
  • 5.3. Nutzung des Berufsbildungsangebotes im raumbezogenen Vergleich
  • 5.3.1. Nutzung des Angebotes an berufsbildenden Schulen nach Schularten
  • 5.3.2. Nutzung des Angebotes an Berufsschulen
  • 5.3.2.1. Indikator 1: Berufswahlspektrum
  • 5.3.2.2. Indikator 2: duale Berufsausbildung nach Berufsfeldern
  • 5.4. Mobilitätsaspekte im raumbezogenen Vergleich
  • 5.4.1. Anmerkungen zu Mobilitätsbetrachtungen
  • 5.4.2. Mobilitätsaspekte der Teilhabe an beruflichen Lernprozessen
  • 5.4.2.1. Indikator 1: Mobilitätsaspekte im Kontext berufsbildender Schulen
  • 5.4.2.2. Indikator 2: Mobilitätsaspekte im Kontext von Berufsschulen
  • 5.4.2.3. Indikator 3: Entfernungen zwischen Wohngebiet und Schulort
  • 5.4.3. Bildungsbeteiligung an Bezirksfachklassen und Landesberufsschulen
  • 5.4.3.1. Indikator 1: Bildungsbeteiligung an Bezirksfachklassen
  • 5.4.3.2. Indikator 2: Bildungsbeteiligung an Landesberufsschulen
  • 5.4.3.3. Indikator 3: Interdependenzen von Wohn- und Betriebsorten
  • 5.5. Zwischenfazit zum raumbezogenen Vergleich aus exspatialer Perspektive
  • Teil III: Theoretische Überlegungen zu Interdependenzen zwischen Orten und Berufsbildungssystemen
  • 6. Interpretation/Reflexion: Zur topologischen Komplexität berufsbildender Schulen
  • 6.1. Abgleich: Erkenntnisinteresse, Erwartungshaltung und Ergebnis
  • 6.2. Deskription: Ergebnisse der empirischen Vergleichsanalyse im Überblick
  • 6.3. Interpretation: Von raumbezogenen Disparitäten zu topologischen (Un-)Ordnungen
  • 6.4. Reflexion: Methodik und Modellbildung des raumbezogenen Vergleichs
  • 6.4.1. Raumordnungsexperiment 1: „Schwellwerte“ der Äquivalenzmaße
  • 6.4.2. Raumordnungsexperiment 2: „Objektsubstitution“ des Vergleichs
  • 6.5. Polymorphie, Perspektivität und Rekursion: Einordnung und Folgerungen
  • 7. Raumbezogene Disparitäten und (Berufs-)Bildung: zum Forschungsstand
  • 7.1. Zur raumbezogenen Berufsbildungsforschung
  • 7.2. Raum als Dimension individueller (Berufs-)Bildungsungleichheit
  • 7.2.1. „Katholisches Arbeitermädchen vom Lande“
  • 7.2.2. Zur raumbezogenen Ungleichheit individueller Bildungschancen
  • 7.2.2.1. Raum als Hintergrundfolie individuell wirksamer Kontexteffekte
  • 7.2.2.2. Disparitäten als „blinder Fleck“ der Bildungsforschung
  • 7.2.2.3. Hinweise auf die Persistenz räumlicher Disparitäten im Bildungssystem
  • 7.3. Räumliche Disparität als Gegenstand der Berufsbildungsforschung
  • 7.3.1. Frühe Ansätze einer raumbezogenen Berufsbildungsforschung
  • 7.3.1.1. Zum nachrangigen Interesse der Berufsbildungsforschung an Disparitäten
  • 7.3.1.2. Grundlagen einer „regionalen Berufsbildungsforschung“ bei Derenbach
  • 7.3.1.3. Aktualität und Bezug zur vorliegenden Studie
  • 7.3.2. Räumliche Disparitäten als Gegenstand der Berufsbildungsberichterstattung
  • 7.3.2.1. Zum (gesetzlichen) Hintergrund raumbezogener Berichterstattung
  • 7.3.2.2. Anfänge regionaler Berufsbildungsberichterstattung (1977 – 1988)
  • 7.3.2.3. Ernüchterung und pragmatische Wende (1989 – 1990)
  • 7.3.2.4. Wendezeit als Zeitenwende regionaler Berichterstattung (1991 – 2001)
  • 7.3.2.5. Disparitäten als politisch motivierte Interpretationen (2001 – 2008)
  • 7.3.2.6. Raumbezogene Berichterstattung als Teil des Datenreports (2009 – 2016)
  • 7.3.2.7. Folgerungen und Bezug zur vorliegenden Studie
  • 7.3.3. Ergänzende berufspädagogische Befunde
  • 8. Raum als berufspädagogische Dimension: Ausblick und Fazit
  • 8.1. Zusammenführende Betrachtung der Untersuchungsteile
  • 8.2. Ausblick: Folgerungen, Desiderate und Ansätze
  • 8.3. Wissenschaftliche Verortung: Räume als Sujet der Berufspädagogik
  • 8.4. Fazit: Zwischenräume als berufspädagogische Reflexionsflächen
  • Literaturverzeichnis
  • Tabellenverzeichnis
  • Kartenverzeichnis
  • Abbildungsverzeichnis
  • Reihenübersicht

Abkürzungsverzeichnis

ANR

Angebots-Nachfrage-Relation

APIFG

Ausbildungsplatzförderungsgesetz

AVJ

Ausbildungsvorbereitendes Jahr

BA

Bundesagentur für Arbeit

BbiG

Berufsbildungsgesetz

BBR

Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung

BBS

Berufsbildende Schule

BBZ

Berufsbildungszentrum

BEK

Berufseingangsklasse

BfBSR

Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung

BFS

Berufsfachschule

BG

Berufliches Gymnasium

BIBB

Bundesinstitut für Berufsbildung

BLK

Bund-Länder-Kommission für Forschungsförderung und Bildungsplanung

BMBF

Bundesministerium für Bildung und Forschung

BOS

Berufsoberschule

BS

Berufsschule

BVM

Berufsvorbereitende Maßnahme

Bzfk

Bezirksfachklassen

EQJ

Einstiegsqualifizierungsjahr

FH

Fachhochschule

FOS

Fachoberschule

FS

Fachschule

GEW

Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft

HIBB

Hamburger Institut für Berufliche Bildung

Hw

Handwerk

HwO

Handwerksordnung

KldB

Klassifikation der Berufe

←17 | 18→KMK

Kultusministerkonferenz

KMU

kleine und mittlere Unternehmen

Lbs

Landesberufsschulen

PISA

Programme for International Student Assessment

RBZ

Regionales Berufsbildungszentrum

Uni

Universität

1. Raum als berufspädagogische Dimension

„Es gibt heutzutage so viele Räume. Der eine meint die Euklid’sche Geometrie, der andere die von Gauss, ein Fachmann hat’s mit der Riemannschen Kurvenkonstanten und klärt uns darüber auf, dass die Gestaltsverhältnisse des Raumes durch die infinitesimale Summe der Dreiecke gegeben ist, während die Raumpflegerin den Raumplaner für zuständig hält, der aber eigentlich Flachplaner heißen müsste, weil er gar nicht in dreidimensionalen Räumen arbeitet, sondern nur zweidimensional denkt. Der Physiker versucht, uns anhand der Lorenztransformation von der Einheit von Raum und Zeit zu überzeugen und der Philosoph ist überzeugt davon, dass der real-existierende dreidimensionale Raum durch die Relativitätstheorie überholt sei, weshalb er ihm sogar den Charakter des Konkreten abspricht, was unsere Kids längst wissen, die bei einer Dose Red-Bull im Cyberspace herumsurfen und sich dabei wie zuhause fühlen. Der Architekt stellt indessen ein Bücherregal quer ins Zimmer und bezeichnet es als ‚Raumteiler‘, womit sein Landsmann aus der DDR seinen Zimmergenossen meinte.“

(Bächer, 2003, S. 15)

1.1. Unordnung im berufspädagogischen „Vorgarten“

Das Berufsbildungssystem ist gekennzeichnet von erheblichen raumbezogenen Unterschieden, die nicht zufällig entstehen, sondern als systemimmanentes Strukturmerkmal desselben und daher als Disparate zu werten sind. Aus ortsbezogener Sicht unterbreitet das Berufsbildungssystem Menschen quantitativ und qualitativ systematisch differenzierte Angebote zur Entfaltung ihrer (Berufsbildungs-)Biographien. Auch Klientelstrukturen sowie deren Rezeptionsmuster in Bezug auf berufliche Bildungsangebote sind in Räumen unterschiedlich gegliedert. So lautet zumindest die Ausgangshypothese der vorliegenden Untersuchung. Mit der Studie wird vorrangig die Zielsetzung verfolgt, ortsbezogene Verhältnisse des Berufsbildungssystems zunächst systematisch zu erfassen, um darauf aufbauend topologische Strukturmuster sichtbar zu machen. Auf jener Basis könnten dann Rekonstruktionsperspektiven auf Konstitutionsmomente der Interdependenzbeziehung von Raum und Berufsbildungsprozessen eingenommen werden.←21 | 22→

Es ist als berufspädagogisches Gemeingut anzusehen, dass sich ausgehend von den Bedingungen der ständischen Handwerksausbildung in einem Prozess flächendeckender Systematisierung und Differenzierung in Gesellschaften unterschiedliche Formen von Berufsbildung innerhalb herrschaftlicher Grenzen und Nationalstaaten etabliert haben (vgl. z. B. Deißinger/Frommberger, 2010, S. 345). Raumbezogene Differenzierungen von Berufsbildungsprozessen samt ihren institutionalisierten Formen sind damit zumindest im Vergleichsmaßstab der administrativen Grenzen von Staaten kein aufsehenerregender Befund. Die Tradition berufsbildungssystemischer Vergleichsbetrachtungen aus jener Perspektive mag ein Grund für bestehende Erwartungshaltungen sein, nach denen Berufsbildungssysteme unterhalb der politischen Entscheidungsebene von Staatsqualität weitgehend homolog strukturiert seien. So wird beispielsweise gemeinhin im Singular von dem deutschen Berufsbildungssystem gesprochen und nicht im Plural von -systemen. Eine solche Sichtweise wird der im Feld anzutreffenden Vielfalt innerhalb des deutschen Berufsbildungssystems jedoch nur bedingt gerecht.

Im Mittelpunkt der vorliegenden Forschungsarbeit stehen daher nicht Differenzen von Berufsbildungssystemen zwischen Staaten, sondern das beachtliche Nebeneinander institutionalisierter Berufsbildungsprozesse samt rahmender Faktoren innerhalb des Bundeslandes Schleswig-Holstein. Der Weg zur Beschreibung und Analyse disparater Verhältnisse führt damit – sinnbildlich gesprochen –, nicht weiter vor die Tür des berufspädagogischen Schneckenhauses als in den eigenen Vorgarten des Berufsbildungssystems.

Den Ausgangspunkt der vorliegenden Studie bilden Beobachtungen berufspädagogisch relevanter Gegenstände, nach denen sich Aspekte der Organisation, Nutzung, Planung, Durchführung und Institutionalisierung der Berufsbildung an unterschiedlichen Orten in Schleswig-Holstein als erheblich disparat darstellen. Verschiedenheit in so vielen Facetten kann nicht ohne Folgen bleiben für die konkrete Ausgestaltung von Berufsbildungsprozessen, denn sie reicht über die Vielgestaltigkeit formal-institutioneller Aspekte bei ansonsten nahezu äquivalenten In-/Output-Relationen hinaus. Zu erwarten sind weitreichende Auswirkungen, sowohl im Hinblick auf betrieblich relevante Aspekte, wie z. B. unterschiedliche ortsbezogene Potentiale zur Deckung des Fachkräftebedarfes sowie differierende Ausbildungsqualitäten, als auch für Entfaltungsmöglichkeiten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die innerhalb des Berufsbildungssystems nach Teilhabe an Lebenschancen suchen und dabei ortsabhängig mit differenzierten Zugangsperspektiven konfrontiert werden.←22 | 23→

Anders ausgedrückt zeigte das Berufsbildungssystem in Abhängigkeit des Ortes unterschiedliche „Gesichter“, und zwar in einem Umfang, der gleichsam verwunderte und Interesse an weiterführenden Forschungen und vertiefter Auseinandersetzung wachsen ließ. Die Bewertung erster Befunde schwankte dabei zwischen Trivialität, denn – nach kurzer Eingewöhnung – erscheint es durchaus einleuchtend, dass es in ortsbezogener Interdependenz zu Unterschieden in Bezug auf das Berufsbildungssystem kommt oder gar kommen muss. Zu beobachten ist eine durch die Berufsbildungsforschung selten beachtete Pluralität im Zwischenraum von Individuum und Gesellschaft, die sich bekannten raumbezogenen Ordnungsmustern entzieht.

Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit unterschiedlichen ortsbezogenen Verhältnissen im Kontext des Berufsbildungssystems führt dabei nahezu zwangsläufig zum Begriff des „Raumes“ als übergeordneter Kategorie zur Strukturierung von Überlegungen. Berufspädagogische Auseinandersetzungen oder Konzeptualisierungen dieses Konstruktes sind jedoch bislang selten zu beobachten. Im Kontext raumbezogener Disparate von dem Bundesgebiet oder den Bundesländern untergeordneter Strukturebenen sind sie als weitläufiges Desiderat anzusehen.

Obwohl – oder vielleicht gerade weil – sich mit dem bislang innerhalb der Berufsbildungsforschung vorhandenen Forschungsstand sowie dem methodologischen Repertoire nur sehr begrenzt zufriedenstellende Antworten auf die beobachtete Vielfalt des ortsbezogenen Nebeneinanders innerhalb des Berufsbildungssystems formulieren lassen, könnten raumbezogene Perspektiven daher eine bereichernde Ergänzung bisheriger Forschungsrichtungen darstellen.

Dabei ist es nicht die Berufspädagogik allein, die eine gewisse „Raumvergessenheit“ (Schroer, 2006, S. 17) an den Tag legt, die Läpple – bezogen auf dominierende Sozialwissenschaften – gar als „Raumblindheit“ bezeichnete (Läpple, 1991, S. 163). Es ist unser gesellschaftliches Leben insgesamt, das eine ambivalente Haltung gegenüber Fragen ortsbezogener Unterschiede und Räumlichkeit aufweist: Räume samt ihren Konstitutionsprozessen und deren (Re-) Produktionen sind einerseits allgegenwärtig und andererseits doch scheinbar unbedeutend.

Menschen, die reisen, haben beispielsweise eine Vielzahl von Motivationen, um den einen Ort zu verlassen und einen anderen aufzusuchen. Das Eintauchen in andere Kulturen zählt ebenso dazu, wie der besondere Reiz bestimmter Landschaftsbilder, besseres Wetter, spannende Architektur oder kulinarische ←23 | 24→Abwechslung, um einige gängige Klischees der Reiselust zu bemühen. Niemand würde ernsthaft bestreiten, dass in Abhängigkeit von Orten tiefgreifende Unterschiede in den Rahmenbedingungen und sozialen Praktiken des täglichen Lebens bestehen.

In Studien lässt sich beispielsweise herausarbeiten, dass Menschen, die in Norwegen, Dänemark oder Island leben, im Mittel glücklicher sind als jene in Deutschland oder Belgien (vgl. Helliwell u. a., 2017). Ein Blick auf den „Big-Mac-Index“ verrät, dass ein gleichnamiges Fastfood-Produkt in der Schweiz am teuersten zu erwerben ist – in Ägypten hingegen am preiswertesten.1 Derartige Unterschiede können zwischen – aus geographischer Sicht – weit entfernten Orten ebenso existieren wie zwischen relativ nahegelegenen. In mancherlei Hinsicht mögen gewisse Lebensbedingungen und -stile in Berlin denen in Sydney daher ähnlicher erscheinen als jenen in Aschau im Chiemgau – trotz der geographisch kürzeren Distanz. Je nach eingenommener Perspektive ist geographisch näher daher nicht immer auch gleichbedeutend mit ähnlicher. Ortbezogene Vielfalt ist demnach nicht grundsätzlich an nationalstaatliche oder administrative Grenzen gebunden. Wer eine Immobilie mieten oder erwerben möchte, wird im Münchener Großraum auf andere Preisvorstellungen treffen als in Neumünster, und auch kulturelle Unterschiede scheinen in kleinräumigeren Kontexten ebenso wie in großen zu bestehen. So wird beispielsweise norddeutschen Menschen bisweilen eine kommunikative Direktheit bescheinigt, während man Personen aus dem Schwabenland einen Hang zur Sparsamkeit nachsagt.

Orts- bzw. gebietsbezogene Unterschiede sind demnach einerseits alltägliche Phänomene, die jedoch andererseits nur selten in den Mittelpunkt gerückt werden. Das mag daran liegen, dass Zeit die wesentliche analytische Bezugsdimension bildet – sowohl bezogen auf gesellschaftliche als auch berufspädagogische Diskurse. Zeit ist als vorherrschende Leitsemantik eines Wachstums- und Entwicklungsparadigmas anzusehen, das dem Nebeneinander nur untergeordnete Aufmerksamkeit einräumt. Die grundlegende Systematik zur Erfassung gesellschaftlich relevanter Veränderungen, beschrieben als Entwicklungen, Transformationen und dergleichen mehr, vollzieht sich vorrangig über die Betrachtung von Indikatoren über normierte Zeiträume. Allgegenwärtig sind in diesem Zusammenhang beispielsweise Meldungen zur Entwicklung von Bruttoinlandsprodukt, Preisentwicklung, Arbeitslosenzahlen, Geschäftsklima- und ←24 | 25→Aktienindizes, Steuereinnahmen, Flüchtlingszahlen, Geburtenentwicklung, Neuwagenzulassungen, Quartalszahlen von Unternehmen und vielen weiteren. Jene Sichtweise lässt sich auch für die Berufsbildungsforschung nachzeichnen. Deren statistische Ordnungen werden ebenfalls vorrangig über die Analyse von Indikatoren und deren zeitlicher Veränderung vollzogen. Beispielhaft sind Statistiken zu neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen, Ausbildungsbilanzen sowie Eingangsquoten in duale Ausbildung zu nennen. Einige Sachverhalte, z. B. die komplexen korporatistischen Strukturmerkmale der beruflichen Erstausbildung, werden erst durch eine vertiefte Auseinandersetzung mit historischen Entstehungsprozessen nachvollziehbar. Retrospektive Betrachtungsformen gehören daher – wie selbstverständlich – zum Repertoire berufspädagogischer Diskursformate. Es scheint, als würde erst durch die Betrachtung zeitlicher Verläufe eine Auseinandersetzung mit Gegenständen sinnhaft werden, weil sie eine kategoriale Dimension zur Einordnung bereitstellt. Die Zeit „taktet“ also, im wahrsten Sinne des Wortes gesellschaftliche wie wissenschaftliche Diskurse in Form von Zustandsbewertungen, Zielsetzungen und Sinnbildungen.

Orts- bzw. Raumbezüge sind in den erwähnten Indikatorenbetrachtungen mindestens als implizites Ordnungsmoment zweiten Ranges enthalten, denn dargestellt werden jeweils Veränderungen von Aspekten, die auf jeweils abgegrenzte Gebiete bzw. Territorien wie beispielsweise dem Bundesgebiet, einzelnen Bundesländern, dem Euroraum oder gar der gesamten (industrialisierten) Welt bezogen werden. Eher vereinzelt werden Indikatoren in regelmäßigen Bezug zu unterschiedlichen Raum- bzw. Gebietsbezügen innerhalb nationalstaatlicher Grenzen gesetzt, wie dies bei der Betrachtung von Erwerbslosenstatistiken für Ost- und Westdeutschland zu beobachten ist. Seltener zu beobachten sind demgegenüber Ordnungen, die primär von Raumdifferenzierungen als strukturierender Dimension ausgehen. Hintergrund dieser Konkretisierung ist dann vorwiegend die Bewertung von gesellschaftlich unerwünschten Entwicklungsunterschieden von administrativen Gebieten. In den Berufsbildungsberichten findet man solche Darstellungen zum Beispiel im Zusammenhang mit regionalen Disparitäten des Ausbildungsstellenmarktes (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.), 2014, S. 40). Primär an Zeitdimensionen orientierte Ordnungen tendieren so letztlich dazu, Zusammenhänge zu Lasten des Nebeneinanders zu mitteln und lenken den Blick eher auf die Gesamtheit übergeordneter Räume und deren übergeordnete Konstitutionsmomente und Entwicklungsverläufe. Die bestehende Vielfalt des Nebeneinanders wird so häufig durch Verzeitlichung verdeckt, wodurch der Eindruck homologer Verhältnisse und Entwicklungsverläufe in „untergeordneten“ Räumen entstehen ←25 | 26→kann. Im seltenen Falle der Auseinandersetzung wird die Komplexität raumbezogener Vielfalt dabei nicht selten auf ein Ranking verkürzt, um damit letztlich wieder in den leistungsorientierten Turnus vornehmlich zeitskalierter Betrachtungsperspektiven überführt zu werden. Die Fragen, welche Realitäten sich in konkreten Lebensräumen ergeben und aus welchen Konstitutionsmomenten heraus sie entstehen, geraten darüber regelmäßig in den Hintergrund.

Greifbar werden die Ambivalenzen derartiger Vergleichsperspektiven am Beispiel der PISA-Studien, innerhalb derer erhebliche Unterschiede in der Leistungsfähigkeit von Bildungssystemen zwischen Nationalstaaten, aber auch einzelnen Bundesländern ermittelt wurden (vgl. Baumert u. a., 2003). Auch für die Berufsbildung wurden derartige Leistungsvergleiche – im Sinne eines „Berufsbildungs-Pisa“ – verschiedentlich angemahnt, wenngleich weniger aus Gründen der regionalen Vergleichbarkeit von Indikatoren, sondern vielmehr, um im Hinblick auf die zunehmende Internationalisierung zusätzliche Orientierung zu erhalten (vgl. Pütz, 2002; Baethge/Achtenhagen, 2009). Umstritten ist allerdings, welche Folgerungen aus derartigen Studien im Hinblick auf raumbezogene Ordnungen des Nebeneinanders zu ziehen sind. So kritisierte beispielsweise die frühere stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Marianne Demmer, die Ergebnisse eines Leistungsvergleiches von Grundschülerinnen und Grundschülern zwischen den Bundesländern scharf:

Eine verstärkte Erforschung von Ursachen raumbezogener Unterschiede sei daher ebenso notwendig, wie neue Akzente in der Bildungsforschung. Die seien eher aus Analysen wirtschaftlich und soziokulturell ähnlicher Räume zu erwarten statt aus stereotypen Vergleichen zwischen Bundesländern und damit Raumaggregaten, die ausschließlich auf Grenzen des föderativen politischen Systems beruhen. Die wissenschaftliche Analyse und Rekonstruktion raumbezogener Unterschiede ist demnach weniger trivial, als es sich auf den ersten Blick andeutet, denn wie ermittelt man, welche Räume soziokulturell oder wirtschaftlich ähnlich sind? Offenkundig ist es erziehungswissenschaftlichen ←26 | 27→Disziplinen bislang nur begrenzt gelungen, nachvollziehbare und gleichzeitig anwendbare Ergebnisse zu den Interdependenzen von Räumen und (Berufs-) Bildungsprozessen hervorzubringen. Wenn Zeit als ordnendes Prinzip von Vergangenheit und Zukunft verstanden werden kann, dann braucht es Konzeptionen des Raums, um Ordnungen des Nebeneinanders zu begründen und rekonstruieren zu können (vgl. Löw, 2001, S. 12).

Antworten auf Fragen nach Konstitutionsaspekten des Nebeneinanders innerhalb des schleswig-holsteinischen Berufsbildungssystems sind daher vornehmlich von der Auseinandersetzung mit dessen ortsbezogener Verfasstheit zu erwarten. In der vorliegenden Studie gerät Räumlichkeit daher zur maßgeblichen Perspektive in der Analyse von Unterschieden im Kontext beruflicher Bildungsprozesse.

Details

Pages
550
Year
2022
ISBN (PDF)
9783631859360
ISBN (ePUB)
9783631859377
ISBN (Hardcover)
9783631830086
DOI
10.3726/b18914
Language
German
Publication date
2022 (April)
Keywords
Regionale Unterschiede Vergleichende Bildungsforschung Vergleichende Berufsbildungsforschung Region Stadt-Land-Unterschiede Vergleichsmethodologie Raumkonzepte Raumbezogene Berufsbildungsforschung Raumtheorien Raumbezogene Disparitäten
Published
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 550 S., 90 farb. Abb., 6 s/w Abb., 98 Tab.

Biographical notes

Marco Hjelm-Madsen (Author)

Marco Hjelm-Madsen (zuvor Marco Böhss) ist Akademischer Rat am Arbeitsbereich Berufspädagogik des Berufsbildungsinstituts Arbeit und Technik (biat) der Europa-Universität Flensburg.

Previous

Title: Raum als berufspädagogische Dimension