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Musikalische Geometrie

Die bildlichen Modelle und Arbeitsmittel im Klavierwerk Hermann Meiers

by Michelle Ziegler (Author)
©2022 Thesis 338 Pages
Open Access

Summary

Der Solothurner Komponist Hermann Meier (1906–2002) strebte nach einer ständigen Erneuerung seiner Musiksprache: Abseits der Zentren der Avantgarde fand er um 1950 zu einem eigenen seriellen Verfahren, er explorierte Klangflächen und vertiefte im Spätwerk seine elektronischen Visionen. Die Orientierung an der Kunst Piet Mondrians, Sophie Taeuber-Arps und Paul Klees sowie ein eigenes Arbeitsverfahren mit großformatigen Verlaufsdiagrammen zielten auf eine «abstrakte» oder «geometrische Musik». Deren Bildlichkeit wird anhand der nachgelassenen Skizzen und Schaffensdokumente erstmals im historischen Kontext, in ihrer Operativität und im Zusammenspiel mit anderen kompositionsästhetischen Orientierungen gedeutet.

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Einleitung
  • I Schaffensstationen und Orientierungen
  • 1. Später Einstieg: frühes Schaffen bis 1945
  • 1.1. Von Solothurn nach Zullwil: Berufsleben und Familie
  • 1.2. Musikalische Tätigkeiten ab 1926
  • 1.3. «Aus innerm Müssen»: Annäherung an die Zwölftontechnik
  • 1.4. Selbststudium: Radio und Lektüre (ab 1938)
  • 2. Vernetzung und frühe Aufführungen von 1945 bis 1950
  • 2.1. «Die totale Isolierung ist weg»: Wladimir Vogels Einführung in die Zwölftontechnik
  • 2.2. Frühe Aufführungen
  • 2.3. Vorbereitungstreffen zum Ersten Internationalen Zwölftonkongress (1948)
  • 2.4. Ein Umweg über Paris: Vom Unterricht bei René Leibowitz zum «Weg Weberns» (1950)
  • 3. Auf Distanz: individueller Weg der fünfziger und sechziger Jahre
  • 3.1. «Mutterseelenallein auf der Gerichtsbank»: Absagen und Rückzug in den frühen fünfziger Jahren
  • 3.2. Das Jahr 1955 als Wendepunkt
  • 3.3. Nähe zu den bildenden Künsten: Lektüre, Ausstellungsbesuche und persönliche Kontakte
  • 3.4. Fern von Bühnen: die sechziger Jahre
  • 4. Ein «elektronischer Stil»: umfangreiches Spätwerk ab 1973
  • 4.1. Studiobesuch und Realisation der Klangschichten (1976)
  • 4.2. Elektronisches Schaffen in Yvonand und Yverdon
  • 4.3. Späte Rezeption: Aufführungen durch Urs Peter Schneider ab 1984
  • II Die Schreibfläche als Ordnungsmatrix: die Verlaufsdiagramme
  • 1. Bildliche Skizzen und graphische Notationen in der Musik des 20. Jahrhunderts: Voraussetzungen und Diskurse
  • 2. «Simple Rechtecksgeometrie»: Überblick über Meiers Verlaufsdiagramme
  • 3. Die Operativität der Verlaufsdiagramme
  • 4. Nur «Rechtecksgeometrie»? – Potenziale und Widerstände
  • III Wege zu einer «abstrakten Musik»: vier Analysen
  • 1. Serielle Verfahren in den Gattiker-Variationen HMV 27 (1951–52)
  • 1.1. Im Vorfeld: von der Zwölftontechnik zur «abstrakten Musik»
  • 1.2. Die «neue Theorie» (1949–50)
  • 1.3. «Blockbildung» als Prinzip im Schaffensprozess
  • 1.4. Serielle Komposition: historischer Kontext
  • 2. «Punkte», «Striche» und «Flächen» im Stück für zwei Klaviere HMV 44 (1958)
  • 2.1. «Analogien zu Mondrian»: bildliche Modelle ab 1953
  • 2.2. Komponieren mit «Punkten», «Strichen» und «Flächen»
  • 2.3. Proportionen und ihr Abbild auf Verlaufsdiagrammen
  • 2.4. Montage als Kompositionsverfahren
  • 3. «Die Architektur einer komplexen Flächenlandschaft»: das Stück für zwei Klaviere HMV 64 (1965)
  • 3.1. Auf dem Weg zur Klangfläche: die Jahre 1959 bis 1965
  • 3.2. Konstellationen von Klangflächen
  • 3.3. Graphische Notation der Klangflächenmusik
  • 4. «Aus dem Geist der Elektronik»: Klangflächengefüge oder Wandmusik HMV 75 (1970–71)
  • 4.1. Frühe Annäherungen an die Elektronik
  • 4.2. Komposition und Analyse mit Diagrammen
  • 4.3. Von den Tasteninstrumenten zur ersten elektronischen Komposition
  • 4.4. Zeitlose «Grundrisse»
  • IV Schreiben als Gedankenschmiede: Schlussbetrachtungen
  • Anhang
  • Systematisch-chronologisches Werkverzeichnis
  • Abkürzungen
  • Abbildungsnachweise
  • Quellenverzeichnis
  • Personenregister
  • Reihenübersicht

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Vorwort

Einzeltöne neben unterschiedlich breiten Clustern, in drei Lautstärken oft abrupt gegeneinander abgesetzt, mitunter unentwegt repetiert, doch durch die Verteilung auf Register und die ausdifferenzierte rhythmische Gestaltung individuell gewichtet – wie Punkte, Striche und Flächen auf einer Zeitleinwand: In der Hörerfahrung mit den Dreizehn Stücken für zwei Klaviere HMV 45 (1959) von Hermann Meier tritt einem der klangliche Reichtum von dem entgegen, was sich der Schweizer Komponist unter einer «abstrakten Musik» vorstellte. Die Aufführung des Stücks in einem Konzert des Klavierduos Tamriko Kordzaia und Dominik Blum am 19. Mai 2011 in der Reihe des Musikpodiums Zürich stand am Beginn meiner Auseinandersetzung mit dem Schaffen Meiers. Seit diesem Konzert ist in dessen Rezeption einiges in Gang gekommen, viele Orchesterstücke sind erstmals zum Erklingen gebracht worden, eine Ausstellung und ein Sammelband (2017) haben eine Grundlage geschaffen für die weitere Auseinandersetzung mit einem immer wieder erstaunenden musikalischen Œuvre – und dem dahinter stehenden Denker mit seiner unbeirrt kritischen Haltung, einem feinen Humor und einer alles begründenden, unbändigen Intensität der Lebensweise.

Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 2018 von der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern als Dissertation angenommen und für den Druck leicht überarbeitet. Ihr Entstehen wurde durch eine ganze Reihe von Personen und Institutionen ermöglicht und unterstützt. Meinem Doktorvater Anselm Gerhard danke ich für die stets bestärkende Betreuung, meinem Zweitbetreuer Roman Brotbeck für seine einsichtsvolle Beratung und sein Engagement für das vom Schweizerischen Nationalfonds geförderte Forschungsprojekt Das Auge komponiert an der Hochschule der Künste, aus dem nicht nur meine Dissertation sondern auch eine Ausstellung in Solothurn mit vielfältigen Begleitveranstaltungen hervorging. Der Abschluss meiner Arbeit wurde durch ein Stipendium der Dr. Joséphine de Kármán-Stiftung ermöglicht.

Ein ganz besonderer Dank gilt Heidy Zimmermann (Paul Sacher Stiftung): Ihre Unterstützung und ihre Ratschläge waren in jeder Phase prägend und werden noch lange nachwirken. Sie hat die Untersuchung nicht nur angeregt, sondern die ergiebigen Archivrecherchen ermöglicht und die Entstehung des Textes mit aufbauender, weitsichtiger ←9 | 10→Kritik begleitet. Zudem danke ich Meiers Nachkommen Veronika Oesch-Meier, Max Meier und Alfons Meier für das Vertrauen, die Gespräche und Auskünfte. Für den Zugang zur Sammlung Hermann Meier, für das Interesse und die enorme Hilfe über viele Jahre danke ich Felix Meyer und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Paul Sacher Stiftung, insbesondere Michèle Noirjean-Linder! Zugänge und Informationen haben mir darüber hinaus die Musikabteilung der Zentralbibliothek Zürich, das Institut für Musikwissenschaft der Universität Bern (Nachlass Hermann Gattiker), Pia Bürki (Selzacher Passionsspiele), Verena Heimgartner und Raymond Petzold gegeben.

Für Diskussionen und diverse Hinweise danke ich unter anderem Dominik Blum, Iris Eggenschwiler, Christoph von Imhoff, Marc Kilchenmann, Doris Lanz, Katharina Michel, Urs Peter Schneider, Alfred Zimmerlin und meinen Kolleginnen und Kollegen der Graduate School of the Arts Bern und der Hochschule der Künste Bern. Ein Dank geht zudem an die Schweizerische Musikforschende Gesellschaft und deren Zentralpräsidentin Cristina Urchueguía für die Aufnahme in die Publikationsreihe, an Julia Bungardt für das verständige und äußerst sorgfältige Lektorat und an die Ortsgruppe Basel der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft, die Hochschule der Künste Bern, die Karrer-Stiftung sowie den Kanton Solothurn für die großzügigen Druckkostenzuschüsse.

Hinter allem aber steht Anthony Tooher, seine Unterstützung ist die schönste Bestärkung.

Michelle Ziegler,

Juni 2021

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Einleitung

Februar 1950, im Arbeitszimmer der Lehrerwohnung in Zullwil, einem kleinen Dorf im abgelegenen Solothurner Schwarzbubenland: Hermann Meier (1906–2002), der hier als Dorfschullehrer tätig war, vertiefte sich in ausgiebigen Notizen in seinen Arbeitsheften in eine «neue Theorie» für seine Kompositionen. Mit seinem Schaffen hatte er bereits Aufmerksamkeit erregt: Eine Komposition war in einem der Hausabende für zeitgenössische Musik des Berner Publizisten Hermann Gattiker (1899–1959) aufgeführt worden, ein Instrumental-Satz wurde bei einer Orchesterleseprobe gespielt, und er hatte im Kreis der Schweizer Zwölftonmusik Kontakte geknüpft. Die datierten Eintragungen deuten auf eine intensive Arbeitsphase hin, die inhaltliche Neuorientierung auf eine treibende Vorstellungskraft: Meier beabsichtigte, in seiner Musik fortan nicht mehr melodische Gestaltungsprinzipien über alles zu stellen, sondern Rhythmus und Dynamik aufzuwerten – womit er sich von der Zwölftontechnik distanzierte und zu einem eigenen seriellen Verfahren fand. In den Vordergrund trat die Vorstellung einer «abstrakten Musik», die sich aller expressiver Ausdrucksgebärden entledigte, auf Geometrie und Mathematik beruhte und zu einem «reinen Geist» und einer «reinen Statik» führte.1 Damit löste er sich nicht nur von seinem Lehrer, dem deutsch-russischen Komponisten Wladimir Vogel (1896–1984) und dem kleinen Kreis der Schweizer Zwölftonmusik und deren Schönberg-Nachfolge, sondern er wandte sich nach einer kurzen Phase der Orientierung an Anton Webern von musikalischen Vorbildern weitgehend ab und suchte in der abstrakten Kunst von Paul Klee, Sophie Taeuber-Arp, Hans Arp, Piet Mondrian und Max Bill neue Anregungen. Die durchaus wirkungsstarke bildliche Referentialität in seinem Schaffen äußerte sich später in Widmungen beispielsweise an Mondrian und Arp oder in bildhaften Werktiteln wie Flächen-Konstellationen für Elektronik HMV 88 (1978) oder Grosse Wand ohne Bilder für Klavier, Cembalo und elektrische Orgel je vierhändig HMV 100 (1988–89).2←11 | 12→

Fünf Jahr später: im Oktober 1955 – Meier hatte mit seiner siebenköpfigen Familie in der Zwischenzeit ein eigenes Haus im Dorf bezogen – arbeitete er ohne Aussicht auf Aufführungen an seinem vierten Orchesterstück HMV 34, das er Mondrian widmete. In seinem Arbeitszimmer hat er sich einen Ort geschaffen, an dem er sich durch Lektüre und Radioübertragungen nicht nur über zeitgenössische Musik und Kunst informierte, sondern auch Schriften der Philosophie, Mathematik und Literatur studierte. Für das Orchesterstück HMV 34 löste er erstmals einzelne Seiten aus einem Schulheft, montierte sie zu einem über 80 Zentimeter langen Streifen und skizzierte unter der Überschrift «Zu Sinfonie Nr. IV» den formalen Ablauf einer Komposition: Auf drei horizontal verlaufenden Streifen zeichnete er graphische Symbole für «Fl[ächen]», «Striche» und «Bänder», «Tutti», «P[au]ke» und «P[un]kte» ein. In dieser eigenen Form der Niederschrift hatte er in seiner Lebensmitte ein Arbeitsmittel entdeckt, dessen Potenzial er bis zum Ende seines Schaffens ausschöpfen würde. Solche Visualisierungen von Klangvorstellungen begleiteten von da an den Kompositionsprozess von den ersten groben Skizzen über verschiedene Phasen der kompositorischen Ausarbeitung bis zur endgültigen Festlegung des formalen Ablaufs vor der Niederschrift in Notenschrift.3 Das erste Verlaufsdiagramm zum vierten Orchesterstück HMV 34 A Mondrian steht am Anfang einer langen Reihe von oft großformatigen Kompositionsplänen. Aus den Schaffensjahren von 1955 bis 1999 sind über 250 solcher Diagramme erhalten, die sich in ihrer äußeren Erscheinung (verwendete Schreibstoffe, Beschreibstoffe, Formate, Darstellungsformen etc.), in der Art der Verweisung auf Klangereignisse und in der Stellung im Kompositionsprozess voneinander unterscheiden: Die bildliche Vergegenwärtigung mithilfe von Verlaufsdiagrammen steht an zentraler Stelle im Schaffen Meiers.

An den zwei Wendepunkten der Jahre 1950 und 1955 treten zwei wechselseitig aufeinander einwirkende Faktoren von Meiers Komponieren zutage, die ihn in seinem fern von jeder Aufführungsmöglichkeit entstehenden Werk zu einer kontinuierlichen Weiterentwicklung ←12 | 13→trieben und es gleichzeitig in einem starken Personalstil verankerten: aus den bildenden Künsten abgeleitete ästhetische Konzeptionen und ein eigenes Kompositionsverfahren mit großformatigen Verlaufsplänen. Die bildlichen Modelle und Arbeitsmittel stehen in jeweils unterschiedlicher Gewichtung hinter den Schwerpunkten in einzelnen Phasen seines Schaffens: hinter den seriellen Kompositionen der frühen fünfziger Jahre, den charakteristischen Cluster-Kompositionen der späten fünfziger Jahre und den strukturierten Klangflächen der sechziger Jahre, und sie schlossen sich im umfangreichen Spätwerk nach seiner Pensionierung 1973, in der er zunächst nur elektronische Musik konzipierte und ab 1984 wieder Klavierstücke und Kammermusik schrieb, zu einem «elektronischen Stil». Diese Schwerpunkte kommen im Klavierwerk besonders zur Geltung, da es Meiers gesamtes kompositorisches Œuvre von den Studienkompositionen ab 1935 bis zu den letzten Kompositionen von 1989 umspannt. Es umfasst nicht nur 18 Stücke für Klavier solo, die – mit einer Ausnahme – bis 1968 entstanden, sondern auch ein umfangreiches Schaffen für mehrere Tasteninstrumente. Meier komponierte von 1958 bis 1989 insgesamt 21 Werke für zwei und mehr Klaviere, die er ab den späten sechziger Jahren mit elektrischer Orgel und Cembalo ergänzte. Am Ende dieser Reihe steht eine Komposition mit dem aussagekräftigen Titel Grosse Wand ohne Bilder HMV 100 (1988–89) für Klavier, Cembalo und elektrische Orgel, die jeweils vierhändig zu spielen sind.

Die Vorstellung einer «abstrakten Musik» und seine individuelle Arbeitsweise mit großformatigen Verlaufsplänen sind mit zwei für sein Schaffen prägenden Aspekten zusammen zu bringen, die sich aus Meiers Werdegang und Persönlichkeit ergeben und die für sein Komponieren prägende Dynamik von (gegebener) Distanz und (gesuchter) Distanzierung ausmachen.4 Einerseits blieb er als Komponist lange Zeit völlig unbekannt: Er war nicht in den Musikbetrieb eingebunden, und von den über hundert vollendeten Kompositionen wurde zu Lebzeiten nur ein kleiner Teil aufgeführt. Meier arbeitete bis zu seiner Pensionierung als Dorfschullehrer in Zullwil. Von seiner kompositorischen Tätigkeit drang bis zur späten Rezeption seines Schaffens in hohem Alter nur wenig an die Öffentlichkeit. Andererseits führte dies nicht dazu, dass er sich abschottete – im Gegenteil: Meier verfolgte die musikalischen und kulturellen Strömungen seiner Zeit sehr aufmerksam und ←13 | 14→positionierte sich bewusst dazu. In seinem Arbeitszimmer in Zullwil las er Zeitungen und Zeitschriften, er hörte Radio und konsultierte Partituren und Bücher. Für Konzerte und Begegnungen mit Exponentinnen und Exponenten der Schweizer Musikszene fuhr er regelmäßig nach Basel und Bern. Sein Schaffen führte von der Zwölftontechnik zu einem eigenen seriellen Verfahren um 1950, zu Klangflächen-Kompositionen in den sechziger Jahren und zu elektronischen Kompositionen ab 1973. Es verlief mitunter parallel zu den die Avantgarde dominierenden Strömungen, doch fand er gleichwohl in jeder Phase seines Schaffens eigene, sehr charakteristische Lösungen. Typisch für seine Kompositionen der fünfziger Jahre sind eine ausgeprägte rhythmische Gestaltung, weite Sprünge, undurchdringliche Felder mit schnellen Notenwerten neben statischen Ruhepunkten. Während hart geschnittene Cluster in den Klangflächen-Kompositionen der sechziger Jahre den Eindruck von Statik vermitteln, erzeugte er in den späten Schaffensjahren eine mehrschichtige, bis ins Kleinste berechnete Profilierung von Tondauern, die er in langen Rhythmuspartituren festhielt. Die zugleich den Umständen geschuldete und selbstgewählte Außenseiterposition ist also im Kontext der historischen Strömungen der Avantgarde der Zeit zu deuten und ermöglicht in der Rückspieglung gleichzeitig eine Differenzierung der eingängigen historiographischen Narrative.

Die Rezeption von Meiers Schaffen nahm mehrere Wendungen. Der Unterricht bei Vogel nach dem Zweiten Weltkrieg und die Vernetzung im Kreis der Schweizer Zwölftonmusik führten zu einigen frühen Aufführungen. In den fünfziger Jahren folgten Rückschläge: Meier kassierte auf seine Anfragen hin zahlreiche Absagen und distanzierte sich aufgrund unterschiedlicher Auffassungen von Vogel. Ohne Hoffnung auf Aufführungen und öffentliche Wahrnehmung komponierte er kontinuierlich weiter und schloss zahlreiche Kompositionen ab. Nachdem ihm der Basler Musikwissenschaftler Hans Oesch (1926–1992) im Jahr 1976 eine Zusammenarbeit mit Hans Peter Haller (1929–2006) im Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung in Freiburg im Breisgau ermöglicht hatte, erhielt er für sein erstes und einziges realisiertes Tonbandstück Klangschichten HMV 83 im gleichen Jahr im Alter von siebzig Jahren den Werkpreis des Kantons Solothurn – und damit die einzige Auszeichnung seines Lebens. Nach Jahren der Stille um den eigenwilligen Komponisten setzte sich der Pianist, Komponist und Konzertveranstalter Urs Peter Schneider (*1939) in den achtziger Jahren dafür ein, Meiers Werk bekannt zu machen, und er gab den Anstoß für eine allmählich einsetzende Rezeption. So kam es am 4. Februar 1984 in der Konzertreihe «Neue Horizonte Bern» zur Aufführung von vier ←14 | 15→Werken Meiers. Daran schlossen sich im Folgejahr ein Konzert mit sechs Uraufführungen und weitere Programme an. Von Schneider auf Meier aufmerksam gemacht, studierte der Pianist Dominik Blum (*1964) schließlich das ganze Klavierwerk ab 1948 ein, führte es in verschiedenen Kontexten auf und brachte es auf CD heraus.5 Trotz diesen späten Unternehmungen war, als Meier 2002 im hohen Alter von 96 Jahren in Zullwil starb, von seinem umfangreichen Schaffen nach wie vor wenig an die Öffentlichkeit gedrungen: Seine Kompositionen blieben bis auf eine Ausnahme unveröffentlicht,6 eine tiefer greifende Auseinandersetzung fehlte gänzlich. Erst als der Fagottist, Komponist und Musikwissenschaftler Marc Kilchenmann (*1970) im aart Verlag ab 2007 die säuberlich notierten Kompositionen Meiers in Faksimile-Ausgaben zu publizieren begann, wurde der Grundstein für eine breitere Rezeption gelegt. Auf das seit einem halben Jahrhundert erste Erklingen eines Orchesterstücks mit der Sinfonietta Basel unter Jürg Henneberger im Jahr 20107 folgten weitere Uraufführungen des umfangreichen Orchesterwerks mit verschiedenen Schweizer Orchestern, 2015 erste Aufführungen der Werke für bis zu fünf Tasteninstrumente8 und 2018 eine Uraufführung bei den Donaueschinger Musiktagen mit dem SWR Symphonieorchester unter der Leitung von Peter Rundel.

Details

Pages
338
Year
2022
ISBN (PDF)
9783034344531
ISBN (ePUB)
9783034344548
ISBN (Softcover)
9783034344524
DOI
10.3726/b19584
Open Access
CC-BY-NC-SA
Language
German
Publication date
2022 (April)
Keywords
Schweizer Musik Schwarzbubenland Solothurn Zwölftontechnik Serielle Musik Klangflächen Elektronische Musik Klaviermusik Graphische Notation Musikalische Schrift Schriftbildlichkeit Kunst und Musik Operativität Materialität Skizzenforschung Creative Process Musikalische Komposition Wladimir Vogel Erich Schmid
Published
Bern, Berlin, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 338 S., 18 farb. Abb., 37 s/w Abb., 4 Tab.

Biographical notes

Michelle Ziegler (Author)

Michelle Ziegler studierte in Freiburg (CH) Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Kommunikations-/Medienwissenschaften. Sie war als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule der Künste Bern tätig und promovierte 2018 an der Universität Bern.

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Title: Musikalische Geometrie