Mährische Moderne
Ein Beitrag zur regionalen Literaturgeschichte der Böhmischen Länder
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Danksagung
- Inhaltsverzeichnis
- 1. Einführung
- 1.1. Forschungsgegenstand
- 1.2. Regionalliteratur und Regionalforschung
- 1.2.1. Region Böhmische Länder
- 1.2.2. Mähren – Brünn: Historische Entwicklung, kulturelle Voraussetzungen
- 1.3. Der Begriff der Moderne
- 1.3.1. Naturalismus kontra Moderne?
- 1.3.2. Die Grenzen des Naturalismus
- 1.3.3. Schreibverfahren der Moderne
- 1.4. Brünner literarische Landschaft um die Jahrhundertwende
- 1.5. Mährische Moderne
- 1.6. Textkorpus und Methode(n)
- 2. Literarische Familie
- 2.1. Das Bild der traditionellen Familie
- 2.1.1. Wilhelm Heinrich Riehl: Die Familie (1855)
- 2.1.2. Johann Jakob Bachofen: Das Mutterrecht (1861)
- 2.1.3. Kritik der traditionellen Familie – Deutsche und österreichische Frauenbewegung
- 2.1.4. Diskursivierung bürgerlicher und proletarischer Familien
- 2.2. Literarische Diskursivierung der Familie im ausgehenden 19. Jahrhundert
- 2.3. Mährische Familienkonzepte
- 2.3.1. Franz Schamann: Die Liebe (1901)
- 2.3.2. Philipp Langmann: Korporal Stöhr (1901)
- 2.3.3. Helene Hirsch: Ein Auserwählter (1901)
- 2.3.4. Eugen Schick: Feierabend (1902)
- 2.3.5. Vaterlose Arbeiterfamilie
- 2.3.6. Richard Schaukal: Die Rückkehr (1894)
- 2.3.7. Karl Hans Strobl: Die Herren, Die jungen Frauen (1901)
- 2.3.8. Jakob Julius David: Woran starb Sionida? (1892)
- 2.3.9. Familie als Spiegel der Gesellschaft
- 3. Kleinformen und Schreibweisen der mährischen Moderne
- 3.1. Vorbilder
- 3.2. Exkurs: Literarischer Impressionismus
- 3.3. Schreibweisen der mährischen Moderne
- 3.3.1. Karl Hans Strobl und die literarische Moderne
- 3.3.2. Eugen Schick: Empfindsames Notierbüchlein (1905)
- 3.3.3. Eugen Schick: Auf der Gass’n (1909)
- 3.3.4. Exkurs: Literarischer Dialog
- 3.3.5. Philipp Langmann: Wie sie untergeht (1893)
- 3.4. Adaptionen der Wiener Moderne
- 3.4.1. Jakob Julius David: Die Hanna (1904) und Halluzinationen (1906)
- 3.4.2. Hans Müller: Lao (1909)
- 4. Brünner Romane – Großstadtromane?
- 4.1. Brünn als Topos
- 4.2. Die soziale Frage
- 4.3. Der Kampf der Nationen und das Versagen des Patriarchats
- 4.4. Mangelnde Autorität
- 5. Schlussbetrachtung
- 6. Literaturverzeichnis
- 6.1. Textkorpus
- 6.2. Andere Quellen
- 6.3. Forschungsliteratur
- Reihenübersicht
1. Einführung
1.1. Forschungsgegenstand
Gegenstand dieser Studie ist die mährische Moderne, ein Teilbereich der deutschmährischen Literatur, eines „unselbstverständlichen Objektes“1, das aus historischen, geographischen, politischen und ideologischen Gründen lange an den Rand des fachlichen sowie öffentlichen Interesses gedrängt wurde und erst seit Ende der 1990er Jahre verstärkt in den Fokus wissenschaftlicher Aktivitäten rückte. Die besagte Unselbstverständlichkeit hängt zu großem Teil mit einer gewissen ‚Heimatlosigkeit‘ der deutschmährischen Literatur zusammen. In der heutigen Tschechischen Republik, deren östliche Hälfte Mähren bildet, ist die deutschgeschriebene Literatur ein Teil der überwiegend vergessenen oder gar verdrängten gemeinsamen deutsch-tschechischen (Kultur-)Geschichte und wird vom Lesepublikum kaum noch rezipiert. Problematisch ist auch die Einordnung der deutschmährischen Texte unter die Flagge der österreichischen Literatur, deren Teil sie bis zu der Entstehung der Ersten Tschechoslowakischen Republik 1918 war, denn die österreichische Literaturgeschichte klammert die in Österreich nicht ansässigen Autoren aus den ehemaligen Kronländern der Monarchie (mit Ausnahme ‚großer‘ Namen wie Franz Kafka, Rainer Maria Rilke oder Charles Sealsfield) weitgehend aus. Im Umfeld der Germanistik wird die deutschsprachige Literatur aus Böhmen und Mähren zusätzlich immer noch gerne auf die deutsche Literatur aus Prag eingeschränkt, bzw. in die hochwertige Prager deutsche Literatur und die übrigen, weniger interessanten oder gar deutschnational gesinnten Texte aus den Regionen Tschechiens, d. h. Böhmen, Mähren oder Mährisch-Schlesien geteilt.
Die mährische Moderne als Begriff wirkt auf den ersten Blick noch weniger selbstverständlich. Während die literarische Moderne nicht nur in der deutschsprachigen Literaturgeschichte üblicherweise mit den Metropolen Paris, Berlin oder Wien in Verbindung gebracht wird, bezieht sich die mährische Moderne auf eine ganze Region, die dazu noch über keine Großstadt vergleichbarer ←11 | 12→Bedeutung verfügt. Auch in dem engeren Rahmen der Böhmischen Länder bzw. der Tschechischen Republik wird ‚Moderne‘ üblicherweise anders konnotiert. Am häufigsten tritt sie wohl in der tschechischen Literaturgeschichte in der Bezeichnung „Česká moderna“, also „Tschechische Moderne“ auf die Szene, die auf eine in den 1890er Jahren entstehende Gruppierung junger tschechischer Schriftsteller und Unterzeichner des gleichnamigen Manifestes2 Bezug nimmt. Seltener begegnet man schon einem tschechischen, auf Mähren bezogenen Pendant des Begriffs, nämlich der „moravská moderna“ („mährische Moderne“). Diese wird allerdings nicht auf dem Feld der Literatur, sondern in der Musik im Umfeld des tschechischen Komponisten Leoš Janáček, in der Malerei und etwas überraschend auch in der Gobelin-Herstellung3 zur Bezeichnung von lokalen Entwicklungen am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts verwendet4, die parallel mit den künstlerischen Tendenzen in Prag verliefen. Auch die „Moderne Österreich-Schlesiens“5 bezieht sich nicht auf die Literatur, sondern zeichnet sich durch einen eigenständigen Bau- und Bildhauerstil aus, der die traditionellen schlesischen Elemente mit modernen Formen des Jugendstils zu verbinden vermochte. Im Zusammenhang mit Prag und den literarischen Tendenzen um 1900 wird in letzter Zeit, diesmal in deutscher Sprache, von „Prager Moderne(n)“6 gesprochen, worunter keine zeitgenössische Selbstbezeichnung einer Gruppe, sondern eine Neugestaltung und Präzisierung des überholten Konzeptes der sog. Prager deutschen Literatur aus der Sicht der heutigen Germanistik zu verstehen ist. Die deutschsprachige „mährische Moderne“ fand unter allen genannten Modernen bisher sicherlich die geringste Resonanz. ←12 | 13→Üblicherweise begegnet man dieser Bezeichnung nur in Zusammenhang mit der gleichnamigen Broschüre des mährischen Schriftstellers Eugen Schick7. Dieser präsentiert darin mährische Autoren – Jakob Julius David, Karl Wilhelm Fritsch, Helene Hirsch, Philipp Langmann, Hans Müller, Richard Schaukal, Karl Hans Strobl sowie kurz seine eigene Person –, die in seiner Sicht durch die ästhetische sowie thematische Ausrichtung ihrer Texte an den literarischen Strömungen der ästhetischen Moderne teilhaben. Die literarisch ausgerichtete ‚Mährische Moderne‘ schreibt somit gegen bestehende Stereotype an. Es wird hier eine Literatur hervorgehoben, die an der Peripherie der großen kulturellen Zentren Prag und Wien liegt und somit im Rahmen der Böhmischen Länder gerne mit der Heimatkunstbewegung und antitschechischen Tendenzen konnotiert wird. Die provinzielle Herkunft dieser Literatur kollidiert außerdem mit der üblicherweise für Großstädte vorbehaltenen Zuschreibung der Modernität.
Solche allzu einfachen Teilungen in Zentrum und Peripherie, in humanistische Literatur aus Prag und ästhetisch weniger wertvolle Literatur aus der Provinz dürften für die untersuchte Region spätestens 2017 mit der Herausgabe des Handbuchs der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder8 beseitigt worden sein. Das Handbuch räumt mit ähnlichen überholten Konzepten auf und liefert eine interkulturell grundierte Untersuchung der deutschen Literatur der Böhmischen Länder. Die Moderne aus Mähren ist darin mit einem selbstständigen Kapitel vertreten9. Aber auf dem engen Raum der epochen-, themen- und textformenüberblickenden Publikation war es natürlich nicht möglich, auf die Spezifika der von Schick beschriebenen mährischen Moderne einzugehen.
Die vorliegende Arbeit nimmt sich daher vor, festzustellen, ob und inwieweit die literarischen Texte der von Schick genannten mährischen Schriftsteller an den formalen und inhaltlichen Tendenzen der modernen Literatur partizipieren und ob es berechtigt ist, die mährische Moderne als spezifisches Phänomen der Literaturgeschichte zu betrachten, das sich im Kontext anderer literarischer Modernen durch Selbstständigkeit auszeichnet. Gleichzeitig soll durch die Untersuchung dieses Objekts gezeigt werden, dass die Verhältnisse in der Teilregion ←13 | 14→Mähren nicht weniger komplex sind, als dies bei anderen regionalen Modernen der Fall ist, die zum Gegenstand ähnlicher Forschungsarbeiten wurden.10 Nicht zuletzt sollen im analytischen Teil dieser Studie Texte präsentiert und erneut ans Licht gebracht werden, die vom literarischen Kanon aus den oben besagten Gründen ausgeschlossen wurden, jedoch über unbestreitbare Reize verfügen.
Bevor das Textkorpus präsentiert, seine Zusammenstellung erklärt und die Analysen einzelner Aspekte der untersuchten Literatur durchgeführt werden, soll zuerst auf die vermutliche Widersprüchlichkeit des Begriffs ‚Mährische Moderne‘ eingegangen werden, d. h. auf die ungewöhnliche Verbindung des regionalen Bezugs dieser Literatur, der Heimatbezogenheit, Dialekt, Traditionsbewusstsein impliziert, mit der weitgehend auf hoch entwickelte urbane Räume eingegrenzten Modernität. Um die scheinbare Widersprüchlichkeit zu klären, sollen zunächst die Termini ‚Region‘ sowie ‚Moderne‘ in ihrer wissenschaftlichen Herleitung für den Referenzrahmen dieser Arbeit geklärt werden.
1.2. Regionalliteratur und Regionalforschung
Die Forschung zur Regionalliteratur leidet immer noch unter dem Fehlen einer etablierten Definition. Wie Manfred Weinberg noch 2012 feststellte11, sucht man nach dem Stichwort ‚Regionalliteraturʻ in einschlägigen Lexika12 entweder vergeblich oder es werden einem bestenfalls Definitionen angeboten, die das Schlagwort mit der Heimatkunstbewegung und somit mit Attributen wie „gemütvoll, antimodern, gegen die Großstadt- oder Hauptstadt positioniert“ in Verbindung bringen oder gar „eine Nähe zur nazistischen ‚Blut-und-Bodenʻ-Programmatik“13 konstatieren. An diesem Zustand hat sich bis zum jetzigen Zeitpunkt scheinbar wenig geändert. Wilperts Sachwörterbuch der Literatur14 führt lediglich eine allgemeine Definition des Regionalismus an, die direkt zum ←14 | 15→Schlagwort „Heimatkunst“ weiterleitet und diese als „[g]egen die seit Naturalismus und Symbolismus drohende Gefahr e[iner] Vergroßstädterung, Internationalisierung, Intellektualisierung und Verkünstelung der Dichtung in der Dekadenz“15 ausgerichtet erklärt. Weniger einengend ist die Definition im Online-Lexikon deacademic.com, das Google auf den einschlägigen Suchbefehl als eines der ersten auflistet. Hier wird die Regionalliteratur als eine in Europa sowie Amerika in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreitete Literatur definiert,
die das Schwergewicht auf die besonderen Merkmale bestimmter Landschaften und ihrer Bewohner legt und zur Wahrung kultureller Eigenheiten beitragen will. Wenn auch die Grenze zur Heimatliteratur und Mundartdichtung nicht immer scharf zu ziehen ist, so ist die Regionalliteratur oft stärker politisch motiviert und tritt historisch v. a. in Opposition zu staatlichem Zentralismus auf. In der Gegenwart hat die Regionalliteratur als Gegengewicht zu internationalen Angleichungen für das Bewusstsein einer unverwechselbaren Identität eine wesentliche Funktion.16
Als Positivum dieser Definition sind sicherlich die Hervorhebung kultureller Spezifität von Literatur sowie die Berücksichtigung der Opposition zwischen Regionalliteratur und staatlichen bzw. internationalen Zugangsweisen zur Literaturforschung zu sehen. Die Verbindung zu Heimat- und Mundartliteratur sowie zu bestimmten Landschaften impliziert trotzdem, dass hier unter dem Begriff der Regionalliteratur v. a. heimatlich-provinzielle Texte verstanden werden. Die Region wirkt nach den genannten Ansichten dementsprechend als Opposition zur Großstadt und wird somit mit dem Begriff der Provinz gleichgesetzt, deren Literatur per se keine Weltliteratur sein kann. Der regionalen Literaturforschung haftet immer noch das Image an, sie solle auf das „Registrieren unansehnlicher Schmetterlingsarten beschränkt“17 bleiben.
Auf der wissenschaftlichen Ebene wird diese Auffassung der Regionalliteratur bereits seit dem spatial turn in den 1970er Jahren, spätestens aber seit der kulturwissenschaftlichen Wende in den späten 1990er Jahren angezweifelt, die den Anspruch stellt,
←15 | 16→Regionen als Kultur- resp. Literaturräume wieder zu entdecken und in einem interdisziplinären Zugriff auf diese literarische Feldforschung in dem Sinn zu betreiben, dass die funktionale Analyse des gesellschaftlichen Subsystems Literatur in einem eingrenzbaren Raum […] Gegenstand der Forschung ist.18
Die Literaturforschung auf der Ebene der Regionen bringt im Vergleich zu der „immer noch prestigeträchtigeren“19, auf nationale Literaturen ausgerichteten Forschung den Vorteil mit sich, dass sie Prozesse und Elemente ans Licht bringt, die auf der Ebene der nationalen Literaturgeschichtsschreibung unsichtbar geblieben wären20, und dadurch nicht nur (literatur-)geschichtliche Zusammenhänge der Region aufklären, sondern auch allgemeine Korrekturen an der bisherigen Literaturgeschichte vornehmen kann.
Die Diskussion über die Art und Weise, wie mit der regionalen Literatur umgegangen werden soll, brachte zwei grundsätzliche und bis heute prägende Ansätze hervor21. Der erste ist Renate Heydebrands literatursoziologischer Ansatz Die Literatur in der Provinz Westfalen 1815–194522. Darin wird eine Untersuchung der regionalen Literatur als literarisches Feld im Sinne von Bourdieus Feldanalyse vorgeschlagen. Im Mittelpunkt einer solchen literatursoziologischen Analyse stehen also regionale Presse, kulturelle, literaturfördernde Institutionen, Vereinsleben, Verlagswesen, Theater u. ä. – Merkmale also, die eine Charakterisierung der literarischen Produktion und Rezeption sowie der wesentlichen Züge der jeweiligen Literaturszene ermöglichen.
Eine andere, textuell orientierte Richtung schlägt Norbert Mecklenburg ein, der in seiner Habilitationsschrift Erzählte Provinz23 Romane zum Untersuchungsgegenstand macht, deren Thema die Provinz selbst ist, die jedoch zugleich ←16 | 17→als „Modellentwurf der ‚Weltʻ“24 eine „überregionale oder sogar weltliterarische Geltung“25 behaupten können. Dazu bedarf es allerdings der Erfüllung von drei Kriterien, nämlich „Mimesis ans Besondere, Verfremdung zur ästhetischen Form und Offenheit für die Welt außerhalb der Provinz“26.
Beide Richtungen spielten auf dem Gebiet der regionalen Literaturforschung in den letzten Jahrzehnten eine prägende Rolle, beide zeigen sich jedoch für die komplexe Beschreibung einer Region und ihrer Literatur problematisch.27 Bei der Untersuchung des literarischen Feldes und der soziokulturellen Grundbedingungen einer literarischen Region, wie es Heydebrand vorschlägt, spielen die literarischen Texte nur eine untergeordnete Rolle. Die Untersuchungsweise Mecklenburgs setzt wiederum eine vorrangige Stellung einiger (weniger) Texte voraus und teilt somit die regionalen Autoren wieder in poetae majores und poetae minores, wobei die Letzteren und ihre Bedeutung für die regionalen Entwicklungsprozesse unbeachtet bleiben.28 Durch die weitere Entwicklung der beiden Richtungen sowie durch Versuche, sie miteinander zu kombinieren, ←17 | 18→häufte sich außerdem eine „unüberschaubare Menge von Begrifflichkeiten“29, die immerhin in gewissem Maße als hilfreich zu bezeichnen sind, da sie einige der möglichen Gesichtspunkte, aus denen die regionale Literatur betrachtet werden kann, überhaupt erst bewusst machen. Dadurch zeigt sich aber auch, wie viele diverse Aspekte und Kategorien auf dem Gebiet der Regionalforschung im Spiele sind, die Zuordnungsmöglichkeiten einzelner Phänomene ermöglichen wollen. Bei einem Versuch um ihre praktische Anwendung, um eine interpretative „dichte Beschreibung“30 einer auf ein Gebiet begrenzten Literatur würden allerdings die vielen Kategorien zu einer Aufsplitterung derselben führen, zumal sie suggerieren, dass die ursprünglich in ihrer Entstehungszeit durch kulturelle, politische sowie diskursive Bedingungen verbundenen Texte eine inkohärente Menge bilden, wobei gerade das Gegenteil aufzuzeigen das Ziel einer regionalen Geschichtsschreibung ist.
Auch Roger Vorderegger sucht nach einem Ausweg aus der bereits durch die Herangehensweisen Heydebrands und Mecklenburgs geprägten Aporie zwischen einem kulturwissenschaftlichen und einem philologischen Zugang zur Literaturgeschichtsschreibung. Als eine mögliche Lösung schlägt er vor, die Literatur eines bestimmten Raums in zwei Literaturgeschichten zu beschreiben. Die erste konzentriere sich auf das „‚Handlungssystemʻ Literatur“, das die Kontexte, die sozialen, historischen und kommunikativen Zusammenhänge des Raums umfasst. Die zweite Art der Literaturgeschichte, die erst imstande sei, die wichtigen Fragen „nach der Geschichte in den Texten und nach der Geschichte der Texte selbst“ zu beantworten, konzentriere sich dann auf das „‚Symbolsystemʻ Literatur“31. Dementsprechend ist die Literaturgeschichte im regionalen Rahmen als Geschichte einer bestimmten Gattung zu konzipieren, um in die heterogene Menge an Texten aus der Region einen strukturhaltigen roten Faden einzuführen. Die Forderung an die regionale Literaturgeschichte, sich den Texten stärker zuzuwenden, ist berechtigt und sinnvoll, um die Literaturwissenschaft nicht zum bloßen positivistischen Beiwerk der (Literatur-)Soziologie werden zu lassen. Es erhebt sich allerdings die Frage, inwieweit man eine rein auf Texte konzentrierte Literaturgeschichte der Region schreiben kann, ohne auf einige (Vor-)Kenntnisse des oben beschriebenen ‚erstenʻ literaturgeschichtlichen Typs, also der Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen, der kulturellen Beschaffenheit der Region sowie letztendlich vielleicht auch auf die ←18 | 19→biographischen Daten der einzelnen Autoren zurückzugreifen. Eine vollständige Beschreibung der Region durch die von Heydebrand angeforderten Kriterien ist dabei gar nicht notwendig, denn es genügt, sich bei einer Beschreibung der durch ein festes Kriterium ausgewählten Texte auf Phänomene zu konzentrieren, die für die Einbettung dieser Texte in ihren kulturellen Kontext relevant sind. Gerade in der Kafka-Forschung konnte in den letzten Jahren gezeigt werden, dass eine Kontextualisierung Kafkas, die die regionalen Bezüge seiner Texte berücksichtigt, durchaus gewinnbringend sein kann.32
Wie soll aber nun die Region, die eine kulturelle und geographische Eingrenzung der untersuchten Literatur ermöglicht und die von intra- und interkulturellen Austauschprozessen dominierte Regionalliteratur von der nationalen Literatur unterscheidet, definiert werden? Die Definitionen des aktuell in vielen Disziplinen angewandten Begriffes variieren in Umfang sowie Funktion, die darin der Region zugeschrieben werden. Gemeinsam ist ihnen das Verständnis der Region als eines „funktionale[n] Begriff[s], der als solcher weniger durch ein An-sich der Verhältnisse denn durch eine bestimmte Summe von Zuschreibungen bestimmt ist.“33 Die Region kann daher aus verschiedenen Standpunkten und unter Berücksichtigung ihrer verschiedenen Funktionen unterschiedlich konstruiert und ihre Grenzen jeweils anders verhandelt werden.34
In dem viel beachteten Ansatz von Jürgen Joachimsthaler35 wird die Region als „geographische[r] Klein(st)- und Mittelr[a]um“ definiert. Sie wird als eine den „geographischen Raum einnehmende Kulturraumverdichtung“36 charakterisiert, in der sich „Verbreitungsgebiete vieler […] einzelner Kulturgüter ←19 | 20→überlappen und akkumulieren“37 und die sich gleichfalls mit anderen danebenliegenden und mehr oder weniger unterschiedlich gearteten Verdichtungen überlagern können. Zu den wichtigsten „Kulturgütern“, die die Region prägen, gehört die Sprache. Diese kann natürlich eigene „Sprachregionen“ bilden, die mehrere politisch abgegrenzte Regionen überdecken. Innerhalb der Regionen bildet die Sprache regionale Varietäten; sie variiert in der Zeit und übt außerdem eine grundsätzliche identitätsbildende Funktion aus, indem sie „Selbst- und Fremddeutungen“38 sowie „Auto- und/oder Heterostereotype“39 produziert, was zu einem großen Teil durch Literatur geschieht. Problematisch bleibt allerdings die Frage, wo die Grenze einer Region gesetzt wird, denn auch nach dem Kriterium der gemeinsamen Sprache kann es sich bei einer Region sowohl um eine Stadt, einen Bezirk, ein Bundesland, staatliche Grenzen übergreifende Sprachregionen oder auch einen Kleinstaat handeln. Bei der ethnisch gemischten Region der Böhmischen Länder ist die Frage der Grenzziehung natürlich noch schwieriger, denn hier verliefen die Sprachgrenzen nicht selten mitten durch Städte, Stadtviertel, Häuser oder auch einzelne Familien. Um dieses Problem zu beheben, plädiert Vorderegger für die Abgrenzung der Region durch politische Grenzen40, denn diese sind bei der Untersuchung eines literarischen Raums, der neben den Kriterien der Sprache und Kultur durch Herrschafts-, Verwaltungs-, Konfessions- oder auch Infrastrukturbedingungen geprägt wurde, ausschlaggebend. Eine literarische Region kann sehr wohl über diese Grenzen hinausreichen, „in der Überschreitung aber ist auf die Grenzsituation zu reflektieren.“41
Joachimsthaler bedient sich später42 wie Weinberg43 des durch Homi K. Bhabha geprägten Begriffs des „dritten Raumes“44, der es erlaubt, die Region und ihre Literatur nicht nur hinsichtlich ihrer identitätsproduktiven Funktion zu untersuchen45, sondern sie als „Vielfalt zu denken, in der sich einzelne ←20 | 21→Phänomene anziehen, abstoßen, immer aber in einem nachweisbaren Zusammenhang miteinander stehen“46, der also die von außen kommenden gedanklichen Einflüsse, die Austauschprozesse innerhalb der Region und den sich daraus ergebenden hybriden Charakter47 einer kulturell und ethnisch vermischten Region stärker reflektiert.
Für den Teilbereich der Böhmischen Länder ist dieses Modell durchaus tauglich, denn es handelt sich bei Mähren um einen Raum, in dem sich sowohl das tschechische als auch das deutsche Sprachgebiet überdeckten, und der dazu noch in unterschiedliche dialektale Ausprägungen und somit kleinteilige identitätsstiftende Gruppen zerfiel. Der Raum war nicht nur durch die Koexistenz deutscher, tschechischer und jüdischer Kultur, sondern auch durch kulturelle Einflüsse aus den Metropolen Wien, Prag, Berlin und München geprägt, die in den lokalen Bedingungen jeweils unterschiedliche Aufnahme fanden und hier somit vielfältige neue Denkkonzepte entstehen ließen. Dementsprechend vielfältig ist auch die Literatur der Region, die diese spezifische Heterogenität repräsentiert, weswegen bei ihrer Bearbeitung mit Rücksicht auf diese Vielfalt vorgegangen werden muss.
1.2.1. Region Böhmische Länder
Die Erforschung der deutschmährischen Literatur wurde lange durch die Optik der Dichotomie zwischen der Prager deutschen Literatur, die teilweise weltliterarische Bedeutung erreichte, und der übrigen Literatur aus Böhmen und Mähren erschwert. Die Zweiteilung wird bekanntlich seit der zweiten Kafka-Konferenz in Liblice 1965 tradiert, die zur Rehabilitierung Kafkas und eines im Grunde recht heterogenen Kreises48 weiterer mit Prag verbundener Autoren dienen sollte. Diese wurden von Eduard Goldstücker und noch deutlicher Paul Reimann von dem vermeintlich deutschnationalen, chauvinistischen Rest der sog. Sudetendeutschen abgegrenzt, die im Vergleich zur Prager deutschen Literatur also als minderwertig und nicht beachtenswert erschienen.49 Das Problem einer solchen Teilung war nicht nur ihr Konstruktcharakter, sondern auch die Suggestion einer gewissen Homogenität der beiden Literaturgruppen, die es in Wirklichkeit nie gab. Die Markierung der beiden Literaturen als „Prager“ bzw. „sudetendeutsch“ schien, so Kristina Lahl, darüber hinaus an geographische ←21 | 22→Räume gebunden zu sein, differenzierte jedoch in Wirklichkeit auf Grundlage ideologischer Kategorien. So kam es, dass neben den in Prag geborenen oder lebenden und nicht deutschnational und antisemitisch orientierten Autoren daher auch andere, zwar gleichgesinnte Autoren der ‚Prager deutschen Literatur‘ zugerechnet wurden, die zu der Stadt keinen Bezug hatten (wie z. B. Oskar Jellinek oder Ernst Sommer) und andere wiederum, die durchaus in Prag lebten und darüber schrieben (beispielsweise Karl Hans Strobl), aus ideologischen Gründen nicht miteinbezogen wurden50.
Diese dichotomische Sichtweise lässt sich freilich durch ihre Entstehungsbedingungen „unter dem totalitären Zwang der politischen Verhältnisse und der marxistisch ausgerichteten Germanistik“51 rechtfertigen. Das eigentlich Problematische besteht aber darin, dass sie auch nach dem Fall des kommunistischen Regimes, als sich neue Forschungsmöglichkeiten und Auseinandersetzungen mit der deutsch-tschechischen Vergangenheit der Region anboten, noch lange unkritisch sowohl von Teilen der inländischen als auch der ausländischen Germanistik übernommen und immer neu behauptet wurde52.
Seit den 1990er Jahren erlebte die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der regionalen Literatur der Böhmischen Länder einen erheblichen Aufschwung. Dieser betraf allerdings aus den oben angedeuteten Gründen hauptsächlich die deutsche Literatur Prags, die in zahlreichen Monographien und Sammelbänden beschrieben oder neu aufgelegt wurde. Manche von diesen Publikationen bezogen unter der Marke des ‚Prager Deutschen‘ auch Autoren aus der Region mit ein, derer Verbindung mit Prag nur als sehr lose zu bezeichnen ist53. Nur wenige ←22 | 23→Studien, vordringlich von Kurt Krolop, zeigten, dass auch die deutschen Autoren aus Prag zahlreiche Bezüge in die Region pflegten.54
Die Forschung zur deutschböhmischen Literatur begrenzte sich weitgehend auf die Literatur des Böhmerwaldes55; verstreut liegen Studien zu bzw. Neuauflagen von Texten einzelner deutschböhmischer Schriftsteller vor, wovon wiederum manche von Institutionen der Vertriebenen zur Heimatpflege inszeniert wurden56. Wesentlich breiter erforscht ist die deutsche Literatur aus Mähren. Das ist v. a. der 1998 in Olmütz gegründeten Arbeitsstelle für deutschmährische Literatur zu verdanken, welche im Laufe ihrer Tätigkeit neben dem Sammeln von grundlegendem Material auch Vorarbeiten zum methodischen Zugang zu den regionalen Literaturen leistete. Von den zahlreichen Publikationen57 sind v. a. das Lexikon deutschmährischer Autoren58 zu erwähnen sowie die regional orientierten Studien von Ingeborg Fiala-Fürst.59 Aus der Kooperation mährischer, böhmischer, Prager sowie ausländischer Germanisten und Kulturwissenschaftler entstand 2017 schließlich das Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder, das erstens den Versuch unternahm, ein theoretisches Gerüst für die Erforschung dieser literarischen Region anhand einer ←23 | 24→interkulturellen Sichtweise sowie des (mit einigen Vorbehalten) angewandten Semiosphären-Modells von Jurij Lotman aufzustellen. Zweitens wird hier eine ausführliche Übersicht über die (Kultur-)Geschichte und Spezifika Böhmens und Mährens sowie über einzelne Epochen, Themen und Motive dieser Literatur erarbeitet und somit eine Grundlage für „vielfältige weitere (Archiv-)Forschungen und theoretische Reflexionen“60 zu der literarischen Region der Böhmischen Länder zur Verfügung gestellt. In der folgenden Untersuchung dient das Handbuch v. a. in den Teilen als wichtige Stütze, die auf Texte zur Thematik oder auf den geschichtlichen Hintergrund des deutsch-tschechischen Konfliktes eingehen.
Als wichtiges Basiswerk für die folgenden Textanalysen dient die Monographie Allerhand Übergänge von Jörg Krappmann. Der Autor stellt darin zunächst Überlegungen über die Zugangsweise zu der Literatur aus Böhmen und Mähren an. Er plädiert dafür, dass bei der Untersuchung einer regionalen Literatur sowohl die Bedingungen ihrer Entstehung, ihre Rezeption, ihr Kontext sowie vor allem die Texte selbst Berücksichtigung finden. Einen pragmatischen Zugang zur Beschreibung eines solchen heterogenen Raumes und seiner Texte bieten ihm die Kategorien „Komplexität, Schlichtheit und Abstraktion“61. Die Komplexität zielt auf die Anerkennung der vielschichtigen kulturellen, literatursoziologischen und geschichtlichen Zusammenhänge und der geistigen Einflüsse innerhalb der Region, „denn eine Region ist nicht einfacher strukturiert als eine größere Einheit wie etwa Deutschland oder Österreich-Ungarn“62. Die Kategorie der Schlichtheit plädiert für das Nutzen grundlegender, traditioneller literaturwissenschaftlicher Begrifflichkeiten bei der literarischen Textbeschreibung, die sich den „vorab kanonisierten Einstellungen“63 entziehen, also nicht davor zurückscheuen, auch scheinbar Banales – sei es an bekanntem oder unbekanntem Material – philologisch zu analysieren. Diese Arbeitsweise bezeichnet Krappmann in plakativer Zuspitzung als „prätheoretisch“, d. h. an kein einheitliches theoretisches Modell gebunden und grundsätzlich interdisziplinär, was eine Einbettung der Literatur in ihre „historischen, soziologischen und kulturpolitischen Bedingungen“ ←24 | 25→ermöglicht und „die besondere Leistung eines Textes erkennbar macht“64. Im Allgemeinen stützt sich Krappmann auf kulturwissenschaftliche Ansätze, derer Anwendung auf die regionale Literatur er allerdings als problematisch aufdeckt. Der Nutzen dieser Ansätze beruhe vor allem darin, dass sie die Perspektive (nicht nur) der Literaturwissenschaft um die bis in die 1990er Jahre unbeachteten Kulturgebiete wie z. B. die ehemaligen Kolonialländer, die sog. Dritte Welt, die von Frauen oder neuerdings v. a. von Migranten produzierte Literatur erweitern und dadurch den literarischen Kanon wesentlich erweitern.65 Dies geschehe allerdings häufig nur theoretisch und bleibe, wie am Beispiel des kulturwissenschaftlichen Basiswerks von Doris Bachmann-Medick66 verdeutlicht wird, auf die vier genannten Themengebiete begrenzt, deren Themen und Narrative den Theoriemodellen entgegenkommen. Kaum jedoch werde davon die zwar extrem heterogene und multikulturelle, aber eben in manchen Fällen auch konservative oder nationalistische Literatur erfasst. Die neueren kulturwissenschaftlichen Theorien sollen aber trotzdem
auf die besonderen Bedingungen einer regionalen Literaturwissenschaft umgelenkt und ausgedehnt werden. […] das Interkulturelle der Texte [wird] keineswegs ausgespart. Es wird jedoch mit schlichten Mitteln einer philologischen Analyse beschrieben, ohne den terminologischen Apparat, der reichlich zur Verfügung stünde. Es gibt ohnehin nicht nur den Weg von der Theorie zum Einzelbeleg, sondern in der Untersuchung regionaler Phänomene und Details ergibt sich oft der interkulturelle Blick von selbst.67
Erst aus detaillierten Untersuchungen der Region, ihrer spezifischen historischen, politischen und kulturellen Bedingungen sowie der hier produzierten Texten kann auf die letzte Perspektive der Abstraktion übergangen werden, welche danach streben soll, von den bestehenden Modellen der Literaturgeschichtsschreibung Abstand zu nehmen und ein konzises Denkmodell, das nicht durch Einschränkungen einer einzelnen festgelegten Theorie gebunden ist, zur Beschreibung der konkreten Region zu konzipieren.
Diese methodischen Überlegungen sind für die vorliegende Arbeit insofern fruchtbar, als die hier durchzuführende Untersuchung der mährischen Moderne ähnliche Voraussetzungen mit sich bringt wie das von Krappmann untersuchte Textkorpus. Krappmann präsentiert in den drei Kapiteln seiner Monographie, die zugleich die tragenden Themen der deutschmährischen Literatur der frühen Moderne – die nationale Frage, die soziale Frage und die religiöse Frage – bilden, ←25 | 26→weitgehend unbekannte und von der Forschung bisher unbeachtete Texte. Dieser Kenntnisstand ist auch für das hier zu untersuchenden Textmaterial charakteristisch. Im Sinne der beiden Kategorien der Schlichtheit sowie der Komplexität müssen auch die Texte der mährischen Moderne erst mit den grundlegenden philologischen Mitteln beschrieben werden und anschließend in ihrem zu weiten Teilen unerschlossenen Kontext der lokalen sowie überregionalen Tendenzen und ideellen Einflüsse verortet werden. Im Unterschied zu Krappmann, der sich in seiner Textauswahl an eine zeitliche Eingrenzung der ästhetischen Moderne (1890–1918) und den räumlichen Rahmen Mährens hält und ansonsten weitgehend frei vorgehen kann, ist das hier untersuchte Textkorpus durch die Vorauswahl der Autoren in Schicks Mährischer Moderne festgelegt. Dadurch ist auch der Unterschied in der Zielsetzung der beiden Arbeiten gegeben: Während in Allerhand Übergänge die kulturelle Region Mähren in den angeführten zeitlichen Grenzen beschrieben wird, geht es in den folgenden Untersuchungen nicht um die Analyse eines ganzen Raumes, sondern des von Schick konstruierten, auf konkrete Autoren und ihre Texte begrenzten literarischen Phänomens (wobei die regionalen Eigenheiten und Bedingungen freilich nicht aus dem Blick gelassen werden). Krappmann ist außerdem eine wichtige Säule für die Beschreibung der mährischen Moderne, weil er die starke Orientierung der mährischen Texte an den Naturalismus aufdeckt, der, wie im Folgenden gezeigt wird, ebenfalls die hier vorzustellenden Texte wesentlich prägte.
1.2.2. Mähren – Brünn: Historische Entwicklung, kulturelle Voraussetzungen
Als Teil der Böhmischen Länder ist Mähren seit dem Mittelalter mit dem Habsburger Reich verbunden, das sich im Unterschied zu den anderen im 18. und 19. Jahrhundert entstehenden Nationalstaaten durch eine besonders ausgeprägte Plurikulturalität unterscheidet, wobei es natürlich innerhalb der supranational agierenden Monarchie einzelne Ethnien gab, die sich national zu verorten suchten. Dass auch die Böhmischen Länder kein homogenes Gebilde waren, wurde bereits vielfach festgehalten68. Das von drei Ethnien (Deutschen, Juden und Tschechen) bewohnte Land stand bis zum Revolutionsjahr 1848 im ←26 | 27→Zeichen des Landespatriotismus und Bohemismus69; mit dem Erwachen des tschechischen Nationalbewusstseins in den nachfolgenden Jahrzehnten kam es allerdings zu einer Verschärfung der deutsch-tschechischen Konfliktlage, die die weitere Entwicklung aller Landesteile bestimmte. Dass dieser Prozess in Böhmen und Mähren jeweils unterschiedlich verlief, wurde bereits ebenfalls hinreichend nachgewiesen70 – während die interethnischen Streitereien in Böhmen und v. a. in Prag in fast alle Lebensbereiche eingriffen und nach den Badenischen (Sprach-)Verordnungen 1897 in öffentliche Randale mündeten, die zur Verhängung des Standrechts führten, war die Situation in Mähren gemäßigter. Die tschechische Wiedergeburt setzte in Mähren mit der Verspätung einer ganzen Generation ein, und tschechische Kulturinstitutionen sowie Schulen wurden nur zögerlich errichtet.71 Die Deutschen standen hier zahlenmäßig auch nach 1900 in Mehrheit und fühlten sich daher durch das Wachstum der tschechischen Kultur weniger bedroht. 1905 wurden die beiden Seiten zusätzlich durch den Mährischen Ausgleich in ihren Rechten gewissermaßen abgesichert.72 Aufgrund der ausbleibenden gewalttätigen Konflikte und dem seit Jahrhunderten währenden Zusammenleben von Deutschen und Tschechen erscheint Mähren in Victor Bauers Zentraleuropa-Konzept sogar als Modell-Gebiet, dessen „Bewohner als eine ‚Essenz‘ des Europäertums verstanden werden können“.73
Die beschriebene Eigenart Mährens wird zum Teil auf das Fehlen einer Metropole zurückgeführt74, was durch eine starke Bindung an Wien kompensiert wurde. Nicht selten wird Wien in der Regionalliteraturforschung sogar zur ←27 | 28→eigentlichen Hauptstadt der Region erhoben,75 wodurch aber die restlichen Gebiete als rückständige Provinz erscheinen,76 in der kulturelle Phänomene der Zentren erst mit Verspätung ankommen. Dass dies in vielen Fällen nicht der Fall war und die geistigen Impulse manchmal recht rasch umgesetzt wurden, konnte bereits unter anderem am Beispiel von Mährisch Schönberg aufgezeigt werden77. Der Grund dafür lag in dem wirtschaftlichen Wachstum der mährischen Städte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das dem mährischen Bürgertum eine erhöhte Mobilität aus der Region in die Metropolen ermöglichte. Die breiten Möglichkeiten auf dem Gebiet der Bildung, Kultur sowie der Unterhaltung verschafften Wien tatsächlich eine zentrale Rolle in diesen Sektoren78 und die Begegnung mit dem großstädtischen Geistesleben führte einerseits zur Vermittlung kultureller Phänomene in die regionale Umgebung, andererseits vermisste das Bürgertum nach seiner Rückkehr das geistige und kulturelle Niveau der Metropole und setzte sich umso mehr für die Umsetzung moderner Impulse in ihrer Heimat ein. Mit „Man gravitiert nach Wien“79 kommentierte der Brünner Schriftsteller Eugen Schick diese Zirkulation so treffend, dass die Sentenz beinahe zum Schlagwort in Arbeiten zum deutschmährischen Kulturleben um 1900 aspirierte.80
Trotz der zweifellos bedeutenden Rolle, die die österreichische Hauptstadt im Falle Mährens spielt, und trotz dem vorwiegend durch „Mikrostrukturen“81 geprägten Charakter des hier fokussierten Kulturraumes Mähren lässt sich zeigen, dass die mährische Industriestadt Brünn in mehreren Bereichen und ←28 | 29→spätestens ab dem Ende des 19. Jahrhunderts als Zentrum der Region mit deutlich großstädtischer Struktur im allgemeinen Bewusstsein fungierte und somit dem Narrativ der angeblich ländlichen, provinziellen und archaischen Gestaltung Mährens82 vehement widerspricht.
Im Unterschied zu Prag und Wien verfügte die Landeshauptstadt Brünn über keine Universität (die einzige mährische Universität in Olmütz wurde 1867 geschlossen83), sondern ab 1849 über eine Technische Hochschule, deren Anziehungskraft sich natürlich im Vergleich zu den genannten Städten nur auf einen bestimmten Teil der jungen Intelligenz aus der Region auswirken konnte. Neben der Hochschule gab es jedoch weitere ausschlaggebende Faktoren, die die Gestaltung Brünns um die Jahrhundertwende maßgebend prägten. Diese umfassten einerseits die hier angesiedelten und auf der Landesebene bestimmenden Kirchen-84, Militär- und Verwaltungsbehörden, die wichtige Funktion der Stadt in der österreichischen Infrastruktur sowie die hier angesiedelten Bildungs-, Kultur- und Vereinsinstitutionen.85 Andererseits begann sich der ursprünglich mittelalterliche Charakter der Stadt durch den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzenden wirtschaftlichen Aufschwung, durch die Industrialisierung und die anschließende massive Urbanisierung gewaltig zu verändern.
Während die Prozesse der Industrialisierung und Urbanisierung im Westen Europas bereits am Ende des 18. Jahrhunderts durch den dort herrschenden Liberalismus angetrieben wurden, setzten sie in der Habsburger Monarchie mit einem deutlichen Rückstand, erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Als Gründe dafür werden üblicherweise ein fehlender Kapitalmarkt und die damit verbundene geringe Kaufkraft sowie die mangelhafte Infrastruktur angegeben.86 Die österreichische Industrie blieb dementsprechend auf wenige Regionen begrenzt, zu denen hauptsächlich Böhmen, Mähren und Schlesien gehörten – „von 3100 Großbetrieben der österreichischen Reichshälfte [lagen] 1846 Betriebe in Sudetenländern“87. Hier (v. a. in Reichenberg, Mährisch Schönberg oder eben ←29 | 30→Brünn) befanden sich auch die größten Textilindustriebetriebe, die in literarischen Texten der frühen Moderne häufig als Kulisse des Arbeitermilieus benutzt werden. Nach der Abschaffung der Robot und der Agrarreform 1848 wechselten viele bisher landwirtschaftlich Beschäftigte (einschließlich ihrer Familien) zu Tätigkeiten im Bereich der Industrie, was die rasche Zunahme der Industrialisierung erst ermöglichte.88 Das gilt unter den lokalen Bedingungen auch für die mährische Landesmetropole Brünn. Diese wächst zwischen den Jahren 1869–1910 von den ursprünglich ca. 74.000 auf ca. 125.000 Einwohner. Zählt man die amtlich noch nicht anerkannten Vororte mit dazu, hatte die Stadt allerdings bereits 1900 über 176.500 Einwohner89. Die ursprünglich vorherrschende Textilindustrie verlor bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nach und nach ihren Primat an die metallverarbeitenden Werke.90 Die Stadt lässt sich natürlich mit den Millionenstädten und Kulturmetropolen Berlin und Wien zahlenmäßig nicht vergleichen, die ‚Großstädte‘ Prag und München zählten allerdings zur gleichen Zeit immerhin nur etwas mehr als doppelt so viele Einwohner – in Prag waren es ca. 223.000 (ohne Vororte), bzw. 475.000 (mit den Vororten)91, in München nicht ganz 500.00092. Von einem eklatanten Größenunterschied zwischen der mährischen Hauptstadt und den beiden, häufig als Zentren der Moderne präsentierten Städten kann also nur mit Einschränkung die Rede sein.
Die Prozesse der Urbanisierung und Technisierung der Arbeit brachten nicht nur wesentliche Transformationen der Stadtstruktur, sondern auch gewaltige Veränderungen der gesellschaftlichen Ordnung mit sich, die v. a. die in die Städte neu zugezogenen Arbeiter betrafen. Aus den im Vergleich zu der ursprünglichen landwirtschaftlichen Tätigkeit deutlich veränderten Arbeitsbedingungen ←30 | 31→ergaben sich in den Städten Probleme hinsichtlich schlechter Bezahlung, überlanger Arbeitszeiten und des allgemeinen Elends und der katastrophalen Lebensbedingungen der Arbeiterschichten. Diese werden seit den 1880er Jahren nicht nur zum Thema politischer Diskussionen, sondern auch von der naturalistischen Programmatik aufgegriffen, die das Elend der unteren Gesellschaftsschichten zum Thema der bürgerlichen Literatur machen will. Der Naturalismus wird von der Literaturgeschichte gerne auf reichsdeutsche Autoren begrenzt und in Österreich für inexistent erklärt93. Diese These wurde zumindest im Falle der mährischen Literatur bereits erfolgreich widerlegt94. Setzt man allerdings eine Koinzidenz zwischen weitreichenden sozialen Problemen der Unterschichten und der naturalistischen Thematik in der Literatur voraus, fällt es auf, dass diese Motive um die Jahrhundertwende nicht in der Wiener Literatur anzutreffen sind. In Wien setzt die Industrialisierung zwar später als im restlichen Westeuropa ein, die Verelendung der Arbeiterschichten ist da allerdings mehr als präsent95. Auf die Frage, warum hier die sozialen Themen viel weniger thematisiert werden als in den deutschen Großstädten, wird meist darauf verwiesen, dass die Probleme der Arbeiter, die in der Mehrheit nicht deutschsprachig, sondern Slawen, d. h. Tschechen, Slowenen und galizische Juden waren, von Autoren aufgegriffen wurden, die den jeweiligen Nationen angehörten96.
Bei den auf Brünn bezogenen Texten stellt sich diese Frage nicht, denn sozialkritische Themen spielen hier, das werden die weiteren Ausführungen zeigen, eine zentrale Rolle. Auch in Brünn bildeten jedoch unter der Arbeiterschaft die Tschechen eine deutliche Mehrheit97. Der Grund für die vielfachen literarischen Verarbeitungen der lokalen sozialen Frage könnte einerseits in dem Charakter der Stadt gesucht werden, die trotz ihrer durchaus modernen Gestalt nicht an die Größenordnung Wiens heranreichte und die hier lebenden Autoren daher allein aufgrund der relativen physischen Nähe zu den ärmeren Gesellschaftsschichten mit diesen Themen mehr konfrontiert wurden. Andererseits deutet vieles darauf ←31 | 32→hin, dass gerade der friedlichere Charakter der deutsch-tschechischen Verhältnisse in Mähren das Aufgreifen von Themen unabhängig von ihrer realen Verortung in tschechischen oder deutschen Gesellschaftskreisen möglich machte. Die soziale Frage steht jedenfalls im Vordergrund mancher der im Folgenden präsentierten Texte, wobei der stark industrialisierte und durch Verelendung der Arbeiter gekennzeichnete Stadtcharakter nicht eine bloße Kulisse, sondern die eigentliche Voraussetzung der Erzählwelten darstellt.
Details
- Seiten
- 306
- Erscheinungsjahr
- 2022
- ISBN (PDF)
- 9783631873397
- ISBN (ePUB)
- 9783631873403
- ISBN (Hardcover)
- 9783631862902
- DOI
- 10.3726/b19493
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2022 (April)
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 306 S.
- Produktsicherheit
- Peter Lang Group AG