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Solidarität im Gesundheitswesen

Strukturprinzip, Handlungsmaxime, Motor für Zusammenhalt?

by Claudia Maria Hofmann (Volume editor) Indra Spiecker gen. Döhmann (Volume editor)
©2022 Conference proceedings 220 Pages

Summary

Durch den Ausbruch der COVID-19-Pandemie erhielt die Frage, welche Relevanz der Gedanke der Solidarität im Bereich der Gesundheitsversorgung hat, einen besonderen Spin: Welche Einschränkungen war man bereit hinzunehmen, aus Solidarität z. B. gegenüber der Gesundheit von Personen aus Risikogruppen? Welche Art solidarischer Unterstützung wollte man leisten? Welche Grenzen der Solidarität musste man sich eingestehen? Die Beiträge in diesem Band zeigen, dass wir die «Dimension Pandemie» aus unseren Debatten um Solidarität im Gesundheitswesen kaum mehr ausnehmen können. Gleichzeitig verdeutlichen sie, dass wir diese Debatten schon seit langem führen und die Ausgestaltung der Gesundheitssysteme nicht nur in Deutschland auch vom Gedanken der Solidarität geprägt ist.

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Solidarität, Pandemie, Verfassung (Uwe Volkmann)
  • Solidarität und Recht im digitalisierten Gesundheitswesen – Perspektiven konkreter Ethik (Peter Dabrock)
  • Solidarität und Gesundheit (Stefan Huster)
  • Solidaritätspraktiken und -diskurse in der Gesetzlichen Krankenversicherung: Wohlfahrtsstaatstheoretische Perspektiven und wohlfahrtsstaatliche Selbstbeschreibungen (Stefanie Börner)
  • Solidarität zwischen Krankenkassen (Felix Welti)
  • Konkretisieren, erweitern, gestalten: Gelebte Solidarität im österreichischen Gesundheitssystem (Wanda Spahl und Barbara Prainsack)
  • Wirtschaftlichkeit als Solidargrenze? Kontingenz und Ironie von Kosten-Nutzen-Bewertungen als Allokationsmaßstab (Laura Münkler)
  • Zwischen Solidarität und Diskriminierung: Impfpflicht und Immunitäts- bzw. Impfnachweis (Stephan Rixen)
  • Medizinische Datenspenden: Ein Aufruf zur Solidarität zwischen den Generationen (Jenny Krutzinna)
  • Grenzüberschreitende Solidarität? Europäische Gesundheitspolitik im Wandel (Claudia Maria Hofmann)
  • Solidarität im ungeklärten Aufenthaltsstatus? Beschränkter Zugang zur Gesundheitsversorgung für Drittstaatsangehörige und nichtständig beschäftigte Unionsbürger*innen (Constanze Janda und Vanessa Zeeb)
  • Strafrechtlich garantierte Solidarität (Michael Kubiciel und Matthias Wachter)
  • Autorenverzeichnis

Uwe Volkmann

Solidarität, Pandemie, Verfassung

I Einleitung

Nach dem Programm, das dieser Tagung zugrunde liegt, und dem Flyer, der ihr beigegeben ist, liegt deren Schwerpunkt entgegen dem Titel zunächst nicht bei Solidarität, sondern bei dem, was hier als „moralische Aufrüstung“ des Rechts beschrieben ist; Solidarität ist dann nur der besondere Begriff oder einer der Aspekte, unter dem dieses allgemeinere Thema hier behandelt wird. Beides miteinander in Zusammenhang zu bringen, ist natürlich nicht falsch, wie gerade die Situation der Pandemie zeigt: Die nach wie vor anhaltenden Beschränkungen des öffentlichen Lebens zu ihrer Eindämmung wurden ja nicht zuletzt aus einem moralischen Imperativ der Solidarität eingefordert, der Solidarität der Jüngeren mit den Älteren, der Solidarität der körperlich Robusten mit den Schwächeren, vielleicht auch der Solidarität aller mit allen,1 was dann einerseits zur Einführung dieser Beschränkungen durch Recht führte, andererseits die Kritik daran bis heute als unsolidarisch diskreditiert: Wer möchte das schon sein? Und natürlich ist Solidarität wie andere verwandte Begriffe – Barmherzigkeit, Brüderlichkeit, Verantwortung, Gemeinsinn oder auch Gerechtigkeit – zunächst und ungeachtet möglicher Wurzeln in der Rechtssprache2 ein moralischer Begriff, von dem man dann ebenso wie bei anderen moralischen Begriffen zu fragen hat, wie er in das Recht hineingekommen ist, was er dort zu suchen hat und was man gegebenenfalls mit ihm anfängt. Das Problem tritt selbst dort auf, wo das Recht ihn ausdrücklich verwendet oder ihm sogar eine Schlüsselstellung zuweist, wie es bei der Europäischen Union der Fall ist: Diese hat ihn in Art. 2 EUV zu einem ihrer obersten „Grundwerte“ erhoben und zeichnet ihn auch sonst an verschiedener Stelle aus (vgl. etwa Art. 3 Abs. 3 und 5, 21 Abs. 1, 24 Abs. 2 und 3 EUV etc.), aber man weiß im Grunde bis heute nicht recht, was man dort mit ihm anfangen soll und wie es um seinen konkreten Verpflichtungsgehalt bestellt ist.3 Noch unklarer ist seine Relevanz dementsprechend für eine Verfassung wie das Grundgesetz, die in ihrem Text nicht ←9 | 10→einmal oder nur ganz beiläufig erwähnt.4 Der Versuch einer Zuordnung wird im Folgenden in drei Schritten entfaltet: Zunächst wird, im Sinne einer verfassungstheoretischen Vorbemerkung, dargelegt, warum das Recht und speziell das Verfassungsrecht heute ohne Moral gar nicht auskommt und ohne sie auch nicht angemessen begriffen werden kann. Darauf aufbauend wird die Rolle beschrieben, die gerade einem möglichen Konzept von Solidarität in diesem Zusammenhang zukommt; abschließend wird ein Blick darauf geworfen, was damit – gerade in der derzeitigen Situation – für die Rechts- und Verfassungsanwendung eigentlich gewonnen ist.5

II Verfassung als Ausdruck einer politischen Gerechtigkeitskonzeption

Was zunächst den Zusammenhang von Recht und Moral im Konzept der Verfassung anbelangt, so hängt dieser wesentlich davon ab, was dieses Konzept überhaupt ausmacht und wie es näher zu bestimmen ist. Das ist keineswegs so klar, wie man oft meint.6 Natürlich wird man sich relativ leicht auf eine allgemeine Definition von Verfassung verständigen können, die diese – anknüpfend an die bekannte Charakterisierung in Marbury vs. Madison („fundamental and paramount law of the nation“) – etwa als rechtliche Grundordnung des Staates oder ähnlich beschreibt.7 Aber schon zur Frage, ob ihr Begriff wirklich auf den Staat beschränkt ist oder heute auch andere Gebilde wie die Europäische Union oder vielleicht sogar die Weltgemeinschaft einschließen kann, sind vernünftige Meinungsverschiedenheiten möglich. Ebenso ist offen, ob zur Verfassung notwendigerweise die Verschriftlichung in einer einheitlichen Urkunde gehört (mit der Folge, dass etwa England keine Verfassung hätte, obwohl darüber dicke Bücher geschrieben worden sind8), ob zusätzlich bestimmte Gemeinsamkeiten des Inhalts gegeben sein müssen (wie es etwa der berühmte Artikel 16 der Menschenrechtserklärung von 1789 festgelegt ←10 | 11→hat9) oder ob nicht zuletzt jede politische Gemeinschaft überhaupt ihren eigenen Verfassungsbegriff ausbildet (weshalb es über den des Grundgesetzes mittlerweile bereits eine eigene Habilitationsschrift gibt10). Gerade daraus ergeben sich aber auch unterschiedliche Zuordnungen von Recht und Moral, die letztlich jede Verfassungsordnung für sich festlegen muss.

1 Institutionelle Kopplung von Recht und Moral

Für die für das Grundgesetz maßgebliche Zuordnung lässt sich anknüpfen an eine bekannte Formel von Niklas Luhmann, der Verfassungen einmal als institutionelle Kopplungen von Recht und Politik bestimmt hat.11 Das trifft natürlich in einem ganz allgemeinen Sinne zu: Verfassungen sind Teil des Rechtssystems, aber ihr zentraler Regelungsgegenstand ist das politische System. Die meisten Verfassungen sind heute aber nicht nur institutionelle Kopplungen von Recht und Politik, sondern auch von Recht und Moral. Das gilt jedenfalls dann, wenn sie sich von ihrem Regelungsinhalt her nicht auf das bloße „instrument of government“ beschränken, wie es die Verfassung des Kaiserreichs von 1871 tat: Diese war ein reines Organisationsstatut ohne Grundrechte, ohne irgendwelche Zielvorgaben, ohne materiale Prinzipien; die einzige Funktion war die Einrichtung und gegenseitige Zuordnung der Staatsorgane und die Bestimmung ihrer Kompetenzen. Sobald Verfassungen aber bestimmte materiale Prinzipien enthalten und diese in die Zeit hinein festlegen wollen, nehmen sie notwendig die Vorstellung einer politischen Gemeinschaft in sich auf, wie ihre politische Ordnung richtiger- und gerechterweise beschaffen sein soll. Sie sind insoweit immer auch Ausdruck einer politischen Gerechtigkeitskonzeption, die sie in Recht übersetzen. Diese besteht dann ihrerseits – sonst wäre sie keine – aus bestimmten moralischen Prinzipien: Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit, Demokratie, Rechts- und Sozialstaatlichkeit – als zugleich zentralen Leitbegriffen und Problemformeln des neuzeitlichen Naturrechts, wie sie bis heute in verschiedenen Gerechtigkeitstheorien von Rawls bis Habermas fortgeschrieben werden.12

Das Grundgesetz selbst stellt sich an verschiedener Stelle ausdrücklich in diese Tradition und hat den Zusammenhang zu einer moralischen Konzeption noch einmal verstärkt: in der Voranstellung der Menschenwürde als einem klassischen Hybridbegriff zwischen Recht und Moral;13 im Bekenntnis zu den unverletzlichen ←11 | 12→und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt in Art. 1 Abs. 2 GG; schließlich auch in der bekannten Entgegensetzung von „Recht“ und „Gesetz“ in Art. 20 Abs. 3 GG. Aber auch von seinem konkreten Inhalt her steht es für eine zu positivem Recht geronnene Verbindung von Recht und Moral, die ihren markanten Ausdruck in seiner bis heute vorherrschenden Deutung als „wertgebundene Ordnung“ oder einfach als „Wertordnung“ findet.14 Der Wertbegriff fungiert hier als typischer Kopplungs- oder Scharnierbegriff; er ist ein Begriff aus der moralischen Welt und bezeichnet im Unterschied zum Recht nicht das, was formal, d. h. kraft einer Setzung „gesollt“ ist, sondern das, was inhaltlich richtig, vorzugswürdig oder in einem elementaren Sinne „gut“ ist.15 Auch in der Anwendung der Verfassung lässt sich ihre moralische Imprägnierung an verschiedenen Stellen nachzeichnen, von der Bestimmung des Inhalts der Menschwürdegarantie nach dem kategorischen Imperativ der kantschen Morallehre bis etwa zur Hinordnung des Rechtsstaatsprinzips auf ein allgemeines Prinzip materialer Gerechtigkeit. Vielleicht am deutlichsten aber zeigt sie sich daran, dass den Löwenanteil bei der Lösung verfassungsrechtlicher – insbesondere grundrechtlicher – Fälle heute nicht mehr herkömmliche juristische Begriffsarbeit, sondern eine Güterabwägung ausmacht, wie sie zum klassischen Haushalt einer moralischen Argumentation gehört.16 Mit alledem ist Verfassung heute typischerweise Ausdruck einer politischen Moral, die in ihrer Anwendung ausverhandelt wird, sich daraus aber eben auch nicht heraushalten lässt.17

Details

Pages
220
Year
2022
ISBN (PDF)
9783631867211
ISBN (ePUB)
9783631867228
ISBN (Hardcover)
9783631844694
DOI
10.3726/b19050
Language
German
Publication date
2022 (March)
Keywords
Solidarität Gesundheitswesen Gesetzliche Krankenversicherung Corona-Pandemie Europäische Gesundheitspolitik Grundprinzip Verteilung
Published
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 220 S., 4 s/w Abb.

Biographical notes

Claudia Maria Hofmann (Volume editor) Indra Spiecker gen. Döhmann (Volume editor)

Claudia Maria Hofmann ist Professorin für Öffentliches Recht und Europäisches Sozialrecht mit Schwerpunkt in der interdisziplinären Sozialrechtsforschung an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) und assoziiertes Mitglied des Instituts für Europäische Gesundheitspolitik und Sozialrecht (ineges). Indra Spiecker gen. Döhmann ist Professorin für Öffentliches Recht, Informationsrecht, Umweltrecht und Verwaltungswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie ist geschäftsführende Direktorin des Instituts für Europäische Gesundheitspolitik und Sozialrecht (ineges) und der Forschungsstelle Datenschutz sowie Mitglied der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech).

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