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Nachhaltigkeit in den Natur- und Sozialwissenschaften

von Walter Leal Filho (Band-Herausgeber:in)
©2022 Sammelband 402 Seiten

Zusammenfassung

Der Band präsentiert Ideen, Konzepte, Best Practices und Beispiele von Initiativen, die den Beitrag der Ingenieur- und Sozialwissenschaften zu einer nachhaltigen Entwicklung aufzeigen. Die Publikation trägt dazu bei, den Beitrag dieser beiden Schlüsselbereiche für Studierende der Ingenieur- und Sozialwissenschaften in einer bisher nicht dagewesenen Weise zu verdeutlichen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Kapitel 1: Bewusstseinsbasierte, transformative Nachhaltigkeitswissenschaft (Otmar Iser, Alena Schüren & Petra Schweizer-Ries)
  • Kapitel 2: Nachhaltigkeit als historisches und anthropologisches Problem (Lucie Kolarova)
  • Kapitel 3: Nachhaltige Ressourcengewinnung aus Haldenmaterial: ein Überblick (Stefan Dirlich & Philipp Büttner)
  • Kapitel 4: Die internationalen Gestalter der Nachhaltigkeitsberichterstattung und -bewertung (Nadine Gerhardt, Olivia Strutynski & Bernd Zirkler)
  • Kapitel 5: Wirtschaften jenseits des Wachstumsparadigmas: Die Ansätze von Daly, Raworth und Felber und die Nachhaltige Entwicklung der deutschen Milchwirtschaft (Teresa Kersting & Mi-Yong Becker)
  • Kapitel 6: Curriculare Verankerung von Nachhaltigkeit in Brandenburger Studiengängen (Jennifer Maria Krah, Julian Reimann & Heike Molitor)
  • Kapitel 7: Nicht nur technische Innovationen, auch neue Gruppen-Formate beschleunigen den Weg zur Nachhaltigkeit in Wirtschaft und Staat (Armin Eberle, Anna Gruber, Eberhard Jochem & Serafin von Roon)
  • Kapitel 8: Nachhaltigkeit des Dienstleistungsmanagements durch Qualitätsmanagementsystem im Tourismus (Renata Klufová, Jana Novotná & Dagmar Škodová Parmová)
  • Kapitel 9: Nachhaltiges Bauen in der Praxis: Bestandserhalt und ökologische Sanierung (Stefan Dirlich & Katrin Schweiker)
  • Kapitel 10: Lokale Wissensbestände als Potenzial für nachhaltige (Klein)Stadtentwicklungen? (Anke Kaschlik)
  • Kapitel 11: Soziale Innovation für nachhaltige Entwicklung: Bewertung der aktuellen Tendenzen (Walter Leal Filho, Barbara Fritzen, Valeria Ruiz Vargas, Arminda Paço, Qiong (Jane) Zhang, Federica Doni, Anabela Marisa Azul, Claudio Ruy Vanconcelos, Ioannis E. Nikolaou, Antonis Skouloudis, Marzenna Anna Weresa, Magdalena Marczewska, Elizabeth Price, Rosley Anholon, Izabella Simon Rampasso, Osvaldo Quelhas, Amanda Lange Salvia, Pinar Gokcin Ozuyar, Sara Moggi & Yenchun Jim Wu)
  • Kapitel 12: Akzeptanz von Elektromobilität – Eine theoretische und empirische Studie auf Basis einer schriftlichen Online-Befragung unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit (Daniela Ludin, Wanja Wellbrock, Wolfgang Gerstlberger, Erika Müller, Mirjam Bader & Carolin Born)
  • Kapitel 13: Sagen, was wir tun, und tun, was wir sagen: eine konzeptionelle Klärung und ein Praxisbeispiel für den Whole School Approach im Rahmen von BNE (Isabelle Bosset)
  • Kapitel 14: Nachhaltigkeit durch Digitalisierung, additive Fertigung und innovative Prozesse (Joachim Brinkmann, Mats Wilhelm Bremer, Adrian Huwer, Lauri Johannes Hoffmann, Michael Wahl & Henrik te Heesen)
  • Kapitel 15: Geschäftsmodelle grüner Start-ups: Eine explorative Untersuchung der deutschen Start-up Landschaft (Theresa Fritz & Katharina Schütz)
  • Kapitel 16:Nachhaltige Transformation auf kommunaler Ebene. Bottom-up SDG-Umsetzungsstrategien am Beispiel der Stadt Nürnberg (Frank Ebinger, Fabian Maier, Bramwel Omondi & Livia Buttke)
  • Die Autorinnen und Autoren
  • Abbildungsverzeichnis
  • Tabellenverzeichnis

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Vorwort

Nach vielen Jahren des langsamen Fortschritts wird der Wert der nachhaltigen Entwicklung und die Rolle, die sie in der Hochschulbildung spielt, nun allgemein anerkannt.

Es besteht jedoch die Notwendigkeit, Wege zur Einbeziehung der nachhaltigen Entwicklung in allen Disziplinen. Ein Beispiel dafür ist die Einbeziehung der nachhaltigen Entwicklung in den Kontext der Sozialwissenschaften sowie in den Ingenieurwissenschaften. Und genau auf diese beiden Bereiche konzentriert sich dieses Buch.

Das Buch ist die erste deutschsprachige Publikation, die sich mit Ansätzen, Methoden und Instrumenten der Nachhaltigkeit in den Sozial- und Ingenieurwissenschaften integrativ befasst. Es erläutert den Beitrag dieser Schlüsselbereiche zu einem umfassenden Verständnis dessen, was nachhaltige Entwicklung ist, und wie sie in den Rahmen von Hochschuleinrichtungen integriert werden kann.

Des Weiteren dokumentiert dieses Buch Ideen, Projekte, Lehrveranstaltungen, Konzepte, Best Practices und sonstige Initiativen, die den Beitrag der Sozialwissenschaften und der Ingenieurwissenschaften zu einer nachhaltigen Entwicklung aufzeigen.

Darüber hinaus stellt das Buch konkrete Beispiele von Initiativen vor, in denen Hochschulen innovative Ideen und Konzepte vorstellen, die zeigen, wie Nachhaltigkeit in den Sozial- und Ingenieurwissenschaften in der Praxis umgesetzt wird.

Ich danke allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge und für ihre Bereitschaft, ihre Erfahrungen zu teilen.

Viel Spaß beim Lesen!

Prof. Dr. (mult.), Dr. h.c. (mult.) Walter Leal

Frühjahr 2022

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Otmar Iser, Alena Schüren & Petra Schweizer-Ries

Kapitel 1:

Bewusstseinsbasierte, transformative Nachhaltigkeitswissenschaft

Zusammenfassung: Die „Große Transformation“ der Lebens- und Wirtschaftsweisen der Menschheit gilt als gesamtgesellschaftliche Querschnittsaufgabe. Sie setzt voraus, sich der Muster, Denkweisen und Annahmen bewusst zu werden, die den Ursprung unserer individuellen und kollektiven Handlungen bilden (Göpel, 2016; Meadows, 2008; Scharmer, 2009). Als Forschende fragen wir, welche Implikationen diese Transformation für die Nachhaltigkeitswissenschaft hat. Welche Annahmen, Haltungen und Denkweisen bezüglich der Art und Weise des Forschens können reflektiert, transformiert oder ergänzt werden, um einen Beitrag zum Wandel zu schaffen?

Gibbons, Limoges, Nowotny et al. (1994) beschreiben eine transdisziplinäre Modus 2-Wissenschaft und Schneidewind und Singer-Brodowski (2014) darauf aufbauend die transformative Modus 3-Wissenschaft. Wir sehen aufgrund unserer Erfahrungen in partizipativen, kollaborativen und bewusstseinsbasierten Forschungsprojekten einen vierten Wissenschaftsmodus. In dieser Art der Wissenschaft entstehen das Wissen und die Veränderung durch kollektives Handeln „von innen heraus“. Gemeinsam werden kollektive Institutionen, Denk- und Handlungsweisen als sozial hervorgebracht und gestaltbar erkannt. Die gesellschaftliche Transformation wird als Entwicklungsprozess auf unterschiedlichen Systemebenen angesehen, in dem sich auch die Wissenschaft und die Wissensschaffenden von innen heraus verändern.

In diesem Beitrag zur Weiterentwicklung transformativer hin zu bewusstseinsbildender Nachhaltigkeitswissenschaft reflektieren wir unsere praktischen Erfahrungen und entwickeln Thesen für eine Modus 4-Wissenschaft. Entlang der vier Modi wird anknüpfend an die Awareness Based Action Research nach Otto Scharmer und Katrin Käufer (2015) und Action Research Plus nach Hilary Bradbury et al. (2019) eine notwendige Erweiterung traditioneller wissenschaftlicher Sichtweisen verdeutlicht. Wir plädieren für eine Kombination von Forschungsmethoden verschiedener Modi, um eine höhere Komplexität sozialer Realitäten erfassen zu können. Wissenschaft kann so ihre Verantwortung wahrnehmen und sich aktiv in die große gesellschaftliche Transformation (WBGU, 2011) einbringen.

Schlüsselwörter: Transformative Wissenschaft, Modus 4-Wissenschaft, Aktionsforschung, Bewusstseinsbildung, Theorie U

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1 Einleitung – Was verstehen wir unter Transformation?

Angesichts der großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit1 steigt das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer „Großen Transformation“ (Schneidewind, 2018) hin zu einem nachhaltigen Wirtschaften der Menschheit (United Nations, 2015; WBGU, 2011). Dabei bezeichnet der Transformationsbegriff weit mehr als den Umstieg auf effiziente und umweltfreundliche Technologien. Nur ergänzt durch einen kulturellen Wandel, der vor allem für die hochindustrialisierten Länder auch suffizientere Lebensstile einschließt, lassen sich gleichzeitig die planetaren Grenzen wahren (Rockström et al., 2009; Wamsler, 2019) und global gerecht die Grundbedürfnisse der Menschheit befriedigen (Raworth, 2017; siehe auch „doppelte Entkopplung“ bei Schneidewind, 2018). Transformation verstehen wir deshalb nach Geels, McMeekin, Mylan und Southerton (2015, eigene Übersetzung) als einen „ko-evolutionären Wandel von Technologien, Märkten, institutionellen Rahmenbedingungen, kulturellen Bedeutungen und alltäglichen Praktiken“, sowie darüber hinaus mit Meadows (1999) und Göpel (2016) als einen Paradigmenwechsel, ein wirkliches Umdenken und Umlenken von innen heraus (siehe z.B. auch Banks, 2007).

Nicht nur in den Nachhaltigkeitszielen, denen 2015 weltweit 193 Staaten zugestimmt haben, ist der gesellschaftliche Veränderungsbedarf spezifiziert worden, sondern auch in den vielfach geforderten „Wenden“ ganzer Sektoren, wie der Energieversorgung, der Mobilität, der Landwirtschaft oder der Ernährung. Transformation beschäftigt deshalb als Querschnittsthema die unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen wie beispielsweise die Biologie, die Physik, die Ingenieurswissenschaften wie Maschinenbau oder Elektrotechnik, die Psychologie, die Soziologie, die Wirtschaftswissenschaften etc. Die Nachhaltigkeitswissenschaft versteht sich explizit nicht als eigene Disziplin, sondern als die Ausrichtung auf gemeinsame Ziele, die oben beschriebenen Transformationen in einer systemischen Art und Weise. Nach Stappen (2000, 2006) kennzeichnen die Nachhaltigkeitswissenschaft u.a. die ←12 | 13→verschwimmenden Disziplingrenzen (Transdisziplinarität), die klare Werteorientierung (Weltethos), die Verantwortungsübernahme (Ethik und Verantwortung der Wissenschaft) und das systemische Denken (Systemtheorie).

Aus der systemischen Perspektive wird die äußere Transformation von einer inneren Transformation inspiriert (Banks, 2007), denn „die Probleme im Außen sind ein Spiegel der Probleme im Innern“ (Scharmer, 2020, S. 28). Transformation bedarf deshalb einer Bewusstwerdung (und gegebenenfalls einer Veränderung) der Annahmen, Muster und Denkweisen, die, oft unbewusst, den Ursprung unserer individuellen und kollektiven Handlungen bilden (Dias & Partidário, 2019; Göpel, 2016; Hölscher, Wittmayer & Loorbach, 2018; Scharmer, 2018a; Schneidewind & Singer-Brodowski, 2014; Schneidewind, 2018). Das Ausblenden dieser Quellen, von denen aus Menschen wahrnehmen, denken und handeln, nennt Otto Scharmer den „blinden Fleck“, er sieht darin ein Kernproblem der globalen Polykrise. Es erzeugt unter anderem das Phänomen, dass kollektives Handeln zu Ergebnissen führt, die die meisten Menschen nicht wünschen (Scharmer, 2018a).

Während die internationale Debatte um die Transformation von Hochschulen vor allem die Institutionen und/oder die Lehre in den Fokus nimmt (siehe u.a. Leal Filho 2015), fragen wir in unserem Beitrag, welche Implikationen eine innere Transformation für die Nachhaltigkeitswissenschaft selbst hat und wie diese durch ergänzende Wissens- und Seinsformen erweitert werden kann. Welche Annahmen, Haltungen und Denkweisen bezüglich der Art und Weise des Forschens können reflektiert, transformiert oder ergänzt werden, um einen Beitrag zum Wandel zu schaffen?

Unseren Erfahrungen in transformativen Forschungsprojekten zufolge brauchen wir eine Wissenschaft und Forschung, die sich bewusst und intentional in Veränderungsprozesse involviert und dabei auch ihre eigene Entwicklung und Veränderung zulässt bzw. anstrebt. Wir argumentieren, dass es ergänzend zu der von Gibbons et al. (1994) postulierten Modus 2-Wissenschaft und der von Schneidewind und Singer-Brodowski (2014) als Modus 3 bezeichneten Wissenschaft einen vierten Wissenschaftsmodus gibt. Dieser transformative und bewusstseinsbasierte Modus stellt das Erkennen und die ganzheitliche Erkundung der blinden Flecke und der darunterliegenden Vorannahmen, Muster und Denkweisen ins Zentrum seiner Forschung. Darauf aufbauend strebt bewusstseinsbasierte Wissenschaft als Teil der Gesellschaft auch den eigenen Wandel im größeren Transformationsprozess an.←13 | 14→

2 Transformative Forschung

Theoretische Grundlegungen für eine transformativ wirksame Forschung finden wir u.a. in der Wissenschaftsphilosophie, der Aktionsforschung und in der sich aktuell entwickelnden Transformationsforschung selbst (Hölscher et al., 2018). Außerdem kommen Impulse aus der Praxis hinzu, wie z.B. dem Art of Hosting (Schöttle, 2017) und der Transition-Initiative (Hopkins, 2008).

Die Wissenschaftsphilosophen Kuhn (1962/2014) und Feyerabend (1975/2016) plädierten bereits vor etwa einem halben Jahrhundert für eine Öffnung überkommener Kriterien für Forschung. Beide forderten, die herrschenden Traditionen und Paradigmen der Wissenschaft in Frage zu stellen, um eine entwicklungsfeindliche Ideologie durch das Beharren auf der eigenen wissenschaftlichen Position zu verhindern (Feyerabend, 2016, S. 55, 358).

Etwa 30 Jahre später veröffentlichte Michael Gibbons mit Kolleg_innen seine Beobachtungen über „The new production of knowledge“ (Gibbons et al., 1994). Er beschreibt eine Öffnung der Wissenschaft über die Grenzen der Disziplinen hinweg und nennt dies mode-2-science. In der Folge entstanden um das Jahr 2000 z.B. in der Schweiz das td-net (www.transdisciplinarity.ch/de, vgl. auch Hirsch (2002)) und transdisziplinäre Lehrstühle (siehe auch Schweizer-Ries & Reicher, 2020), sowie ein umfangreicher Diskurs über neue Modi von Forschung und Wissenschaft (Bender, 2001; Carayannis & Campbell, 2006; Faulstich & Trumann, 2017; Funtowicz & Ravetz, 1992, 1993; Scholz, 2011). Wir gehen darauf explizit im folgenden Kapitel ein.

Auch mit der Aktionsforschung werden verschiedene Forschungsmodi in Verbindung gebracht (z.B. Coghlan, 2014). Sie stellt aus unserer Sicht die stärkste Wurzel transformativer Wissenschaft dar. Die meisten Formen der Aktionsforschung verzichten auf die traditionelle Distanz der Forschenden zum Forschungsobjekt bzw. -subjekt und suchen in pragmatischer, normativer und prozessorientierter Weise den Wissenszuwachs im gemeinsamen praktischen Handeln. Kurt Lewin und John Collier gelten als voneinander unabhängige Begründer dieser Tradition2 in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In seinem Aufsatz Action Research and Minority Problems beschreibt Lewin (1946) Aktionsforschung als spezielle Form qualitativer Sozialforschung, in der die Trennung zwischen Denken und Handeln und zwischen Forschung und Praxis aufgelöst wird. Erfahrung ist für ihn nicht, was aus dem sozialen Feld entsteht, sondern basiert auf unserem Umgang mit dem, was dort geschieht. ←14 | 15→Transdisziplinäre Denker wie Fritjof Capra oder Andreas Weber gehen davon aus, dass das Ausblenden von konkreten persönlichen Erfahrungen aus der wissenschaftlichen Praxis zu Denkmustern wie Determinismus, Linearismus und Reduktionismus führen kann (Capra, 2004; vgl. Ortiz Ocaña, 2017, S. 351; Weber, 2013), die der Komplexität des Lebens und der systemischen Zusammenhänge nicht gerecht werden. Distanzierte Forschung aus der prominenten third-person perspective sollte deshalb ergänzt werden um Perspektiven der individuellen und intersubjektiven, kollektiven Erfahrung (first- & second-person perspective). Capra und Weber beziehen sich auf den Kognitionspsychologen Francisco Varela. Bereits Anfang der 1980er Jahre rief dieser dazu auf, die menschliche Erfahrung als Wissensquelle zu nutzen und Forschung auf die erste- und zweite-Person-Perspektive auszuweiten (siehe auch Trullen & Torbert, 2018; Varela, Thompson & Rosch, 1995). Varela betont die Untrennbarkeit von Vernunft und Emotion, da unsere Deutung der Welt im Denken wesentlich auf unseren sinnlichen Erfahrungen beruht, sowohl den vergangenen als auch den gegenwärtigen. Erfahrungen stellen demnach die tiefere Quelle unseres Denkens und Wissens dar (Maturana & Varela, 1980).

In der Definition der Herausgeberin des seit 1997 erscheinenden SAGE Handbook of Action Research, Hilary Bradbury (2017, S. 10), wird die systemische und kooperative Weiterentwicklung der Aktionsforschung in neuerer Zeit deutlich:

Action Research (AR) brings together action and reflection, as well as theory and practice, in participation with others, in the pursuit of practical solutions to issues of pressing concern. Action Research is, therefore, a pragmatic co-creation of scientific and practical knowledge with, not on, people. It concerns issues that require social or fundamental change among multiple stakeholders where systems are at work, and systems-thinking is prominent or required.

Es wird nicht die Entwicklung von Theorien angestrebt, sondern die Entwicklung vorhandener Potentiale und Möglichkeiten in der Praxis im prototypischen Handeln. Für Reason und Torbert (2001, S. 15) sind theoretische Überlegung deshalb nichts weiter als Hilfsmittel: „theorizing occurs in practice and for practice“. Auch wenn die Ergebnisse eines Prozesses stets kontextbezogen und situationsabhängig sind, bezieht sich das Lernen nicht nur auf einen konkreten Fall und dessen Lösung. Gelernt werden u.a. auch das Lernen selbst, das Herangehen an Problemlösungen und die Voraussetzungen und Bedingungen eines Lern- und Veränderungsprozesses (Ho & Kuo, 2009).

In den letzten Jahren führten Otto Scharmer und seine Kolleg_innen die hier genannten Überlegungen in der systemischen Methode Theory U zusammen ←15 | 16→(Pomeroy, Herrmann, Jung, Laenens & Pastorini, 2021; Scharmer, 2018a). Anschließend an die selbstreflexive Wende in der Wissenschaft ist ihnen wichtig, dass die Beteiligten im Forschungsprozess ihre eigenen Erfahrungen und Standpunkte wahrnehmen und ggf. verändern. Sie nennen den entsprechenden Forschungsansatz „Awareness-based Action Research“ (Scharmer & Käufer, 2015).

3 Modi der Wissenschaft

Einen solchen systemischen und reflexiven Ansatz verfolgen wir in unseren Forschungsprojekten auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen, z.B. an unseren eigenen Hochschulen, in einem Quartier unserer Stadt, in einer Region und bezogen auf die Energiewende in Deutschland (vgl. Kap. 4). Unsere Erfahrungen in der transformativen Forschung zeigen, dass sich über den von Gibbons et al. (1994, mode 2) und den von Schneidewind und Singer-Brodowski (2014, mode 3) postulierten Forschungsmodus hinaus noch ein vierter Modus (mode 4-science) beschreiben lässt. Die Modi unterscheiden sich u.a. in der Perspektive und dem Selbstverständnis der Forschenden (vgl. Tabelle 1).

Tab. 1: Die vier Modi der Wissenschaft (verändert nach Schneidewind und Singer-Brodowski (2014))

• Modus 1

• Modus 2

• Modus 3

• Modus 4

• weniger kontextorientiert

• intensiv kontextorientiert

• sehr kontextorientiert auf System-, Ziel- und Transformationswissen

Details

Seiten
402
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631871645
ISBN (ePUB)
9783631871652
ISBN (Paperback)
9783631871492
DOI
10.3726/b19330
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (März)
Schlagworte
Nachhaltigkeit Kommunikation Ausbildung Gesellschaft Bildung
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 402 S., 62 s/w Abb., 14 Tab.

Biographische Angaben

Walter Leal Filho (Band-Herausgeber:in)

Walter Leal Filho ist Professor im Department Gesundheitswissenschaften und Leiter des Forschungs- und Transferzentrums »Nachhaltigkeit und Klimafolgenmanagement« an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg und Direktor der European School of Sustainability Science and Research.

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