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Digitalisierung im Gesellschaftsrecht

Eine Untersuchung der Richtlinie (EU) 2019/1151 im Hinblick auf den Einsatz digitaler Werkzeuge und Verfahren im Gesellschaftsrecht

von Philip Eichhorn (Autor:in)
©2022 Dissertation 290 Seiten
Reihe: Zivilrechtliche Schriften, Band 82

Zusammenfassung

Der Europäische Gesetzgeber hat im Jahr 2019 die Digitalisierungsrichtlinie erlassen, welche den Einsatz digitaler Technologien im gesamten Lebenszyklus einer Gesellschaft zulässt. Neben der Möglichkeit einer Online-Gründung ist ebenfalls die digitale Einreichung von Urkunden und Informationen vorgesehen. Der Autor beleuchtet die Regelungen der Richtlinie und erörtert relevante Aspekte bei ihrer Umsetzung in deutsches Recht.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • A. Einleitung
  • I. Problemstellung der Arbeit
  • II. Gang der Untersuchung
  • B. Die Digitalisierungsrichtlinie
  • I. Rechtliche Grundlagen
  • 1. Subsidiaritätsprinzip
  • 2. Verhältnismäßigkeit
  • 3. Regelungstechnik
  • 4. Allgemeine Anforderungen an den deutschen Gesetzgeber
  • II. Notwendigkeit der Richtlinie
  • 1. Gesellschaftsformen
  • a) Supranationale Rechtsformen
  • b) Nationale Rechtsformen
  • 2. Die Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften in der Rechtsprechung
  • 3. Zwischenergebnis
  • III. Inhalt der Digitalisierungsrichtlinie
  • 1. Online-Gründung
  • a) Umfang der Online-Gründung
  • b) Mögliche Beschränkung auf Bareinlagen
  • c) Informationen für die Gründer
  • d) Muster für die Online-Gründung von Gesellschaften
  • e) Keine Lizenzen oder Genehmigungen vor Eintragung
  • 2. Informationsaustausch und Lebenszyklus von Gesellschaften
  • a) Online-Einreichung
  • b) Informationsaustausch
  • c) Neugestaltung der Registerpublizität
  • 3. Betrugsvorkehrungen und Mindeststandards
  • a) Disqualifizierte „Geschäftsführer“
  • b) Präsenzvorbehalte
  • c) Datenschutzrechtliche Mindestanforderungen
  • IV. Die Digitalisierungsrichtlinie als Ergebnis eines Entwicklungsprozesses
  • 1. Der Gedanke der SPE
  • 2. Die SUP als Alternative?
  • a) Sitz der SUP
  • b) Online-Gründung
  • c) Gläubigerschutz
  • d) Organisationsverfassung
  • 3. Kritik am SUP-Vorschlag
  • a) Reaktion auf den SUP-RL-E
  • b) Änderungen und Scheitern des Kompromisstexts
  • 4. Wesentliche Änderungen in der Digitalisierungsrichtlinie
  • V. Bewertung
  • C. Gründung von Gesellschaften nach der Digitalisierungsrichtlinie
  • I. Gründung von Kapitalgesellschaften in Deutschland
  • 1. Gründung einer GmbH
  • a) Gesellschaftsvertrag
  • aa) Prüfungs- und Belehrungspflicht
  • bb) Klarstellungs- und Beweisfunktion
  • cc) Fiskalische Kontrollfunktion
  • b) Organbestellung
  • aa) Gesellschafterversammlung
  • bb) Geschäftsführer
  • c) Stammkapital
  • d) Anmeldung im Handelsregister
  • e) Eintragung im Handelsregister
  • f) Bisherige Erleichterung der GmbH-Gründung
  • g) Status quo der Gründungserleichterungen mittels Vollmacht und aus dem Ausland
  • aa) Erteilung einer Vollmacht
  • bb) Gründung durch Beurkundung eines ausländischen Notars
  • cc) Bewertung
  • h) Zwischenergebnis
  • 2. Gründung einer AG
  • 3. Gründung einer KGaA
  • 4. Zwischenergebnis
  • II. Online-Gründung
  • 1. Sachlicher Anwendungsbereich
  • a) Online-Gründung der AG
  • aa) Für eine Ausweitung des Anwendungsbereichs
  • bb) Gegen eine Ausweitung des Anwendungsbereichs
  • cc) Stellungnahme
  • b) Online-Gründung der KGaA
  • c) Sachlicher Anwendungsbereich nach dem DiRUG
  • 2. Persönlicher Anwendungsbereich
  • a) Einpersonen- und Mehrpersonengründung
  • b) Gründer aus Drittstaaten
  • c) Natürliche und juristische Personen
  • aa) Auslegung der Richtlinie
  • bb) Aktuelle Probleme in der Praxis
  • cc) Lösungsmöglichkeiten im Rahmen der Richtlinie
  • d) Gründung mittels rechtsgeschäftlicher Vollmacht
  • aa) Auslegung der Richtlinie
  • bb) Aktuelle Probleme in der Praxis
  • cc) Lösungsmöglichkeiten im Rahmen der Richtlinie
  • dd) Exkurs: Zulassung rechtsgeschäftlicher Vollmacht bei hinreichendem Nachweis der Vertretungsmacht
  • e) Zwischenergebnis
  • 3. Kapitalaufbringung
  • a) Bareinlage
  • b) Sacheinlagen
  • c) Mit der Sacheinlage verbundene Risiken
  • d) Lösungsmöglichkeiten im Rahmen der Richtlinie
  • 4. Die Rolle des Notars
  • a) Einbindung des Notars
  • aa) Unzureichende Beratung der Gründer
  • bb) Fehlende Vorprüfung
  • cc) Fehlende Identitätsgewähr und unzuverlässiges Registerwesen
  • dd) Rechtsökonomische Bedeutung
  • ee) Zwischenergebnis
  • b) Mögliche Formen der Mitwirkung
  • aa) Digitale Elemente in anderen EU-Mitgliedstaaten
  • (1) Elektronische Gründungen in Frankreich, Dänemark und Estland
  • (2) Österreich
  • bb) Anregungen für eine Umsetzung in Deutschland
  • (1) Identitätsprüfung
  • (2) Inhaltliche Ausgestaltung der Beurkundung
  • (a) Standardisierte Online-Gründung ohne Beratung
  • (b) Standardisierte Online-Gründung mit Beratung
  • (c) Online-Gründung mit Beratung und Gestaltungsfreiheit
  • cc) Umsetzung der Beurkundung mittels Videokommunikation im DiRUG
  • c) Exkurs: Auswirkung von Videokonferenzen auf Verhandlungen
  • aa) Technische Eigenarten der Videokonferenz
  • bb) Auswirkungen auf die Verhandlung
  • cc) Mögliche Vorkehrungen
  • d) Einzelfragen der Online-Gründung
  • aa) Wahlrecht der Gründer
  • bb) Gemischte Beurkundung
  • cc) Einbeziehung inländischer Notare
  • dd) Einbindung Dritter in das elektronische Identifizierungsverfahren
  • ee) Amtsverweigerung
  • ff) Notarielle Zuständigkeit
  • (1) Umsetzung im Gesetzgebungsverfahren
  • (2) Notarielle Zuständigkeit im DiRUG
  • gg) Gebühren für Online-Verfahren
  • e) Exkurs: Die Online GmbH (OGmbH)
  • f) Zwischenergebnis
  • 5. Informationsanforderungen
  • a) Zentrales digitales Zugangstor
  • b) Umfang der Informationen
  • c) Betroffene Gesellschaftsformen
  • d) Stellung der Informationsanforderungen im Rahmen der Richtlinie
  • 6. Muster für die Online-Gründung von Gesellschaften
  • a) Anforderungen an das Muster
  • b) Vereinbarkeit des Musters mit der notariellen Mitwirkung
  • c) Vor- und Nachteile bei der Verwendung von Mustern
  • aa) Vorteile
  • (1) Kostenvorteil
  • (2) Verfahrenserleichterung
  • (3) Beschleunigung
  • bb) Nachteile
  • (1) Wörtliche Übernahme
  • (2) Komplexität versus Unvollständigkeit
  • (3) Exkurs: Smart Contracts, automatisierte Dokumentenerstellung und Fehleranfälligkeit
  • d) Bisherige Probleme bei der Verwendung von Musterprotokollen
  • aa) Inhaltliche Mängel bei Mehrpersonengründungen
  • bb) Fehlende Flexibilität
  • cc) Unzureichende Effizienz
  • e) Schuldrechtliche Nebenabreden
  • aa) Allgemeines
  • bb) Vermeidung von Nebenabreden
  • f) Sprachliche Besonderheiten
  • aa) Regelmäßige Sprache der Muster
  • bb) Fakultative Verwendung englischsprachiger Muster
  • g) Zwischenergebnis
  • h) Umsetzung im DiRUG
  • 7. Dauer
  • a) Höchstfrist für Online-Gründung
  • b) Später Fristbeginn und Konsequenzen bei Verzögerungen
  • c) Teilweiser Verlust der Vor-GmbH
  • d) Umsetzung im DiRUG
  • III. Bewertung
  • D. Informationsaustausch und Lebenszyklus von Gesellschaften
  • I. Online-Einreichung
  • 1. Bisheriges Verfahren bei Eintragungen im Handelsregister
  • 2. Umfang
  • 3. Reichweite der Vorschrift
  • a) Umfassende Online-Einreichung
  • b) Technische Online-Einreichung
  • c) Sachkapitalerhöhung
  • 4. Exkurs: Interne Willensbildung unter Einsatz digitaler Elemente
  • a) GmbH
  • b) AG, KGaA
  • c) Zwischenergebnis
  • 5. Einbindung des Notars
  • 6. Zwischenergebnis
  • 7. Umsetzung im DiRUG
  • II. Informationsaustausch
  • 1. Umfang der Registervernetzung
  • a) Kostenlos abrufbare Informationen und Urkunden
  • b) Erfasste Gesellschaftsformen
  • c) Optionale Zugangspunkte zum System der Registervernetzung
  • d) Informationen bezüglich disqualifizierter „Geschäftsführer“
  • e) Sprache der Urkunden und Informationen
  • 2. Aktueller Stand des BRIS und Handlungsbedarf aus deutscher Sicht
  • 3. Zwischenergebnis
  • 4. Umsetzung im DiRUG
  • III. Neugestaltung der Registerpublizität
  • 1. Bisherige Rechtslage
  • a) Historische Entwicklung
  • b) Publizität des Handelsregisters
  • 2. Änderung der europarechtlichen Grundlage
  • a) Register als einziges Publizitätsmittel
  • b) Folgen im Hinblick auf europäische Vorgaben zu Publizitätswirkungen
  • c) Stellenwert der positiven Publizität in der Gesellschaftsrechtsrichtlinie
  • 3. Umsetzung in Deutschland
  • a) Bisherige Umsetzung des EU-Rechts
  • b) Mögliche Neugestaltung von § 15 Abs. 3 HGB
  • c) Ausdrückliche Ergänzung um das Veranlassungsprinzip
  • aa) Das Veranlassungsprinzip in der europäischen Richtlinie
  • bb) Das Veranlassungsprinzip auf deutscher Ebene
  • 4. Zugang zu offengelegten Informationen
  • 5. Zwischenergebnis
  • 6. Umsetzung im DiRUG
  • a) Auswirkung auf die negative Publizitätswirkung
  • b) Auswirkung auf die positive Publizitätswirkung
  • c) Bewertung
  • 7. Offenlegung von Rechnungslegungsunterlagen
  • IV. Zweigniederlassungen
  • 1. Online-Eintragung
  • 2. Online-Einreichung
  • 3. Beteiligung von Notaren
  • 4. Umsetzung im DiRUG
  • a) Unterrichtung über das BRIS
  • b) Ausschluss der Publizitätswirkungen für ausländische Zweigniederlassungen
  • c) Versicherung über Bestellungshindernisse
  • V. Bewertung
  • E. Betrugsvorkehrungen und Mindeststandards
  • I. Betrugsvorkehrungen im europäischen Wirtschaftsverkehr
  • II. Disqualifizierte „Geschäftsführer“
  • 1. Anforderungen an die Gesellschaftsorgane de lege lata
  • a) GmbH
  • b) AG
  • c) KGaA
  • 2. Bisherige Vorschläge zur Einführung des disqualified director
  • 3. Bestimmung zu disqualifizierten Geschäftsführern
  • a) Geschäftsführer im Sinne von Art. 13 i GesRRL
  • b) Disqualifikationsvorschriften
  • c) Disponibilität ausländischer Informationen
  • 4. Erforderlichkeit eines deutschen Disqualifikationsregisters
  • 5. Zwischenergebnis
  • 6. Umsetzung im DiRUG
  • III. Präsenzvorbehalte
  • 1. Persönliches Erscheinen
  • a) Identitätsmissbrauch oder Identitätsänderung
  • b) Rechts- und Geschäftsfähigkeit sowie Vertretungsbefugnis
  • c) Rechtsfolge
  • 2. Zuständige Stelle
  • 3. Restriktiver Umgang
  • 4. Zwischenergebnis
  • 5. Umsetzung im DiRUG
  • IV. Datenschutzrechtliche Mindestanforderungen
  • 1. Allgemeine Anforderungen bei der Nutzung personenbezogener Daten
  • 2. Protokollierung des Beurkundungsprozesses
  • 3. Disqualifizierte „Geschäftsführer“
  • V. Bewertung
  • F. Thesen
  • Literaturverzeichnis

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A. Einleitung

I. Problemstellung der Arbeit

Momentan gibt es etwa 24 Millionen Gesellschaften in der Europäischen Union (EU), bei denen es sich zum Großteil (circa 80 %) um Kapitalgesellschaften handelt.1 Der Anteil der Kleinstunternehmen sowie der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) hieran beträgt 98-99 %. Dabei gelten als KMU solche Unternehmen, die „weniger als 250 Personen beschäftigen und die entweder einen Jahresumsatz von höchstens 50 Mio. EUR erzielen oder deren Jahresbilanzsumme sich auf höchstens 43 Mio. EUR beläuft“.2 Diese beschäftigen circa zwei Drittel der EU-Arbeitnehmer und stellen somit den wesentlichen Antreiber des Binnenmarktes dar.3 Naturgemäß steht ihnen allerdings nur ein beschränkter Zugriff auf die finanziellen und personellen Ressourcen zur Verfügung, welche größere Mitbewerber nutzen können. Um das Potential des Binnenmarktes effizienter auszuschöpfen, soll der „Einsatz digitaler Technologien im gesamten Lebenszyklus einer Gesellschaft“4 ermöglicht werden. Hierdurch sollen vor allem Kosten und administrative Hindernisse minimiert und die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen gefördert werden.

Diese Problematik ist dem europäischen Gesetzgeber bereits seit Längerem bewusst. Wie aus dem Arbeitsprogramm der Kommission für das Jahr 2017 hervorgeht, steht auf der Agenda, die Expansionsbestrebungen von KMU voranzubringen.5 Zur Umsetzung dieses Ziels hat die EU-Kommission bereits ←17 | 18→konkrete Schritte unternommen, welche möglicherweise das Potential haben, die digitale Revolution im Gesellschaftsrecht voranzutreiben. So wurde am 25. April 2018 ein Richtlinienentwurf für eine zweiteilige Richtlinie zur Digitalisierung des europäischen Gesellschaftsrechts (im Folgenden auch „Company Law Package“),6 der die aus dem Jahr 2017 stammende Gesellschaftsrechtsrichtlinie (EU) 2017/1132 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts (im Folgenden auch „GesRRL“)7 ergänzen soll. Nach einigen Änderungen des Entwurfs wurde schließlich die Digitalisierungsrichtlinie (EU) 2019/1151 (im Folgenden auch „DigiRL“)8 am 11. Juli 2019 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht. Der schnelle Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens ist unter anderem auf eine umfassende Beteiligung sowohl der Wissenschaft wie auch der Praxis zurückzuführen.9 Durch die Digitalisierungsrichtlinie sollen neue digitale Werkzeuge im Gesellschaftsrecht eingeführt werden. Wesentliche Neuerung ist hierbei die Online-Gründung für den gesamten Binnenmarkt.10 Im Zuge dessen wird ein Aspekt aufgegriffen, der bereits in der Vergangenheit für Diskussion gesorgt hatte. So sah der Entwurf zur Gründung einer Societas Unius Personae (SUP) bereits eine Online-Gründung vor.11 Aufgrund der vorgesehenen Nichtbeteiligung eines Intermediäres regte sich jedoch vor allem in Deutschland Widerstand. Unter anderem führte auch die Affäre um die „Panama Papers“ dazu, dass das Vorhaben zunächst scheiterte.12 Gleichwohl zeigt sich aufgrund des neuen Entwurfs die Relevanz des Themas für eine zukunftsorientierte Aufstellung der Kapitalgesellschaften in Europa.

Eine Untersuchung der Digitalisierungsrichtlinie ist folglich geboten: Die Änderung des Gründungsverfahrens von Kapitalgesellschaften bringt ←18 | 19→weitreichende Folgen mit sich. Aufgrund des Gestaltungsspielraums, den der europäische Gesetzgeber den Mitgliedstaaten einräumt, ist es erforderlich, die verschiedenen Umsetzungsvarianten zu beleuchten und im deutschen Rechtssystem einzuordnen. Wenn sich ein Erfolg der Online-Gründungen abzeichnet, könnte zudem mittelfristig über eine Ausweitung auf andere beurkundungspflichtige Rechtsgeschäfte, etwa Verträge über Grundstücke, nachgedacht werden. Perspektivisch besteht in naher Zukunft die Möglichkeit, dass sämtliche Beurkundungen elektronisch ablaufen. Die Digitalisierungsrichtlinie stellt somit möglicherweise einen europäischen Anstoß für umfassende Online-Verfahren im gesamten deutschen Rechtssystem dar.

II. Gang der Untersuchung

Zum besseren Verständnis des Problemkreises empfiehlt sich zunächst ein abstrakter Blick auf die Digitalisierungsrichtlinie. Die zentralen Aspekte sollen vorerst ohne Bezug zum deutschen Rechtssystem vorgestellt werden. Hierbei ist insbesondere der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Richtlinie das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses darstellt. Im Anschluss daran soll das Kernelement der Digitalisierungsrichtlinie, die Online-Gründung, erläutert werden. In einem ersten Schritt werden die aktuellen Gründungsvorgänge aufgezeigt und nachfolgend untersucht, wie sich die Regelungen der Richtlinie bestmöglich in die bestehenden Regelungen integrieren lassen.

Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass die Digitalisierungsrichtlinie nicht nur Bestimmungen zur Gründung enthält, sondern den gesamten Lebenszyklus einer Gesellschaft betrifft. Dies führt unter anderem zu Änderungen der Publizitätswirkung des Handelsregisters. Somit ist auch in diesem Zusammenhang ein Umdenken erforderlich. Zuletzt soll untersucht werden, welche Strategien der Europäische Gesetzgeber verfolgt, um betrügerisches Verhalten im Rahmen der Gesellschaftsgründung aufzudecken und zu unterbinden. Durch diese Vorgehensweise ergibt sich ein umfassendes Bild der bevorstehenden Änderungen, die das „neue Zeitalter“13 des Gesellschaftsrechts einläuten.

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1 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 im Hinblick auf den Einsatz digitaler Werkzeuge und Verfahren im Gesellschaftsrecht vom 25. April 2018, COM (2018) 239 final, S. 2.

2 Empfehlung der Kommission vom 6. Mai 2003 betreffend die Definition der Kleinstunternehmen sowie der kleinen und mittleren Unternehmen, 2003/361/EG Abl. L 124/36 vom 20. Mai 2003 Art. 2 Abs. 1.

3 Vgl. Kurzdarstellungen zur Europäischen Union, Kleine und mittlere Unternehmen http://www.europarl.europa.eu/factsheets/de/sheet/63/kleine-und-mittlere-unternehmen (Stand: 23. November 2021); Steinberger, BB 2006 Beilage Nr. 7, 27.

4 COM (2018) 239 final, S.3.

5 Vgl. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Arbeitsprogramm der Kommission 2017, COM (2016) 710 final, S. 9.; Mayer/Kleinert, EuZW 2019, 393; Knaier, GmbHR 2021, 169, 170.

6 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 im Hinblick auf den Einsatz digitaler Werkzeuge und Verfahren im Gesellschaftsrecht vom 25. April 2018, COM (2018) 239 final.

7 Richtlinie (EU) 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts, ABl. EU L 169/46 vom 30. Juni 2017.

8 Richtlinie (EU) 2019/1151 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 im Hinblick auf den Einsatz digitaler Werkzeuge und Verfahren im Gesellschaftsrecht, ABl. EU L 186/60 vom 11. Juli 2019.

9 Bormann/Stelmaszczyk, NZG 2019, 601, 602.

10 Erwägungsgrund 9 RL (EU) 2019/1151.

11 COM (2014) 212 final, Art. 14 Abs. 3.

12 Seibert, FS Bergmann, 677, 684; Bausback, notar 2016, 177.

13 Lieder, NZG 2020, 81, 81 f.

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B. Die Digitalisierungsrichtlinie

Nachfolgend soll der Inhalt der Richtlinie dargestellt werden. Hierbei sind vor allem ihre rechtlichen Grundlagen in gebotener Kürze, wie auch das Bedürfnis nach einer solchen Richtlinie zu beleuchten. Aufgrund des durchlaufenen Entwicklungsprozesses bietet sich ein Vergleich der Digitalisierungsrichtlinie mit dem Richtlinienentwurf zur SUP an. Letztlich sollen hierdurch die Fortschritte herausgearbeitet und geprüft werden, inwieweit die Kritik am Richtlinienentwurf zur SUP gewürdigt wurde.

I. Rechtliche Grundlagen

Als Rechtsgrundlage für die Richtlinie kommt Art. 50 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) in Betracht. Hiernach können Richtlinien zur Verbesserung der Niederlassungsfreiheit in grenzüberschreitenden Sachverhalten erlassen werden.14 Konkretisiert wird dies in Art. 50 Abs. 2 AEUV durch eine beispielhafte Aufzählung in einem nicht abschließenden Katalog („insbesondere“) der bestehenden Schutz-, Gewährleistungs- und Förderpflichten.15 So ist etwa nach Art. 50 Abs. 2 lit. f) AEUV darauf hinzuwirken, dass Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit in Bezug auf die Errichtung von beispielsweise Zweigniederlassungen und Tochtergesellschaften schrittweise aufgehoben werden. Darüber hinaus sieht Art. 50 Abs. lit. g) AEUV vor Schutzbestimmungen zu koordinieren, um eine gleichwertige Gestaltung von Rechtsvorschriften zu gewährleisten. Hierdurch kommt zum Ausdruck, dass eine Verbesserung der Niederlassungsfreiheit durch Regelungen, die Unternehmen betreffen, möglich ist. Daneben können Richtlinien zur Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen den Verwaltungen der Mitgliedstaaten erlassen werden und Verwaltungsverfahren und –praktiken abändern, die der Niederlassungsfreiheit entgegenstehen (vgl. Art. 50 Abs. 2 lit. b) und c) AEUV).

Teilweise wird ein grenzüberschreitender Aspekt negiert, wodurch die Gesetzgebungskompetenz des Europäischen Gesetzgebers für Art. 13 g GesRRL zu verneinen wäre. Die Online-Gründung für Gesellschaften ohne Auslandsbezug wäre somit vom nationalen Gesetzgeber zu regeln.16 Dies würde zu ←21 | 22→einer zulässigen, aber nicht wünschenswerten Inländerdiskriminierung führen. Außerdem gilt es zu beachten, dass eine ausschließliche Reglementierung grenzüberschreitender Gründungen zu zwei verschiedenen Verfahren abhängig davon führen würde, wer die Gründung einer Gesellschaft verfolgt. Eine solche Differenzierung erscheint nicht praktikabel. Es ist zu berücksichtigen, dass die Richtlinie den gesamten Lebenszyklus einer Gesellschaft gestalten soll. Dies umfasst sowohl die Gründung wie auch den späteren Kontakt mit Behörden. Ein reibungsloser Ablauf kann nur dann stattfinden, wenn eine Sicherstellung gleicher Bedingungen erfolgt.17 Zudem ist zu berücksichtigen, dass eine grenzüberschreitende Gründung sowohl in Deutschland möglich ist, als auch für deutsche Staatsangehörige fortan die Möglichkeit bestehen wird, in anderen Mitgliedstaaten online als Gründer aufzutreten. Aufgrund dessen ist die Anforderung an einen grenzüberschreitenden Sachverhalt gewahrt. Art. 50 AEUV ist als Rechtsgrundlage somit einschlägig.18

1. Subsidiaritätsprinzip

Bedenken könnten allerdings hinsichtlich des in Art. 5 Abs. 3 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) verankerten Subsidiaritätsprinzips bestehen.19 Hiernach wird die Union nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können. Dabei ist zu beachten, dass für die Rechtssetzungsorgane ein gewisser nicht überprüfbarer Ermessensspielraum eröffnet ist.20 Gegen das Erfordernis einer europäischen Richtlinie könnte sprechen, dass ihr Regelungsgehalt einer speziellen europäischen Rechtsform sehr nahekommt und eine Spaltung des nationalen Gesellschaftsrechts droht, wenn auf der einen Seite europarechtliche Regelungen und auf der anderen Seite abweichende nationale Normen stehen.21 Zudem könnte angenommen werden, dass Änderungen in nationalen Rechtsordnungen allein Sache der jeweiligen Mitgliedstaaten sind.22 Jedoch ist, wie bereits oben ←22 | 23→dargelegt,23 die Regelung einer Online-Gründung nur einheitlich im europäischen Kontext möglich. Eine Förderung der Ziele auf nationaler Ebene widerspricht zudem dem länderübergreifenden Charakter des Binnenmarktes.24 Folglich ist das Subsidiaritätsprinzip gewahrt.

2. Verhältnismäßigkeit

Des Weiteren hat die Richtlinie den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit zu genügen. Die eingesetzten Maßnahmen müssen also in Relation zu den damit verfolgten Zielen stehen und dürfen nicht über das erforderliche Maß hinausgehen (s. Art. 5 Abs. 4 EUV). Das legitime Ziel besteht darin, reibungslose Abläufe innerhalb des EU-Binnenmarktes zu schaffen, die eine Tätigkeit von Gesellschaften im grenzüberschreitenden Kontext erleichtert. Dies soll dadurch ermöglicht werden, dass während des kompletten Lebenszyklus einer Gesellschaft digitale Lösungen angeboten werden, somit Kosten geringgehalten werden und Verfahrenserleichterungen erfolgen.25 Gerade im Hinblick auf das deutsche Gründungsprozedere scheinen vor allem verfahrensrechtliche Komplikationen einer Gründung oftmals entgegen zu stehen, während das Mindestkapitalerfordernis nur eine untergeordnete Rolle spielt.26 Eine Erleichterung der formalen Vorgaben könnte sich somit zugunsten grenzüberschreitender wirtschaftlicher Tätigkeiten auswirken.

Indem der EU-Gesetzgeber zur Regelung eine Richtlinie wählt und einen weiten Umsetzungsspielraum für den jeweiligen nationalen Gesetzgeber vorsieht, hat er eine geeignete und erforderliche Maßnahme getroffen.27 Positiv an dieser Vorgehensweise ist vor allem die dadurch gewährleistete Flexibilität der Mitgliedstaaten, die den Mindestinhalt der Richtlinie im Einklang mit ihren nationalen Regelungen umsetzen können.28

Aufgrund der erheblichen Kostenersparnis29 von 42 bis 84 Millionen Euro überwiegen die positiven Auswirkungen der Richtlinie mögliche negative ←23 | 24→Folgen.30 Des Weiteren ist mit kürzeren Eintragungsverfahren zu rechnen, wenn auf die physische Präsenz der Gründer und die Antragstellung auf Papier verzichtet wird.31 Ob die prognostizierten Zeit- und Kostenvorteile tatsächlich eintreten und somit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprochen wird, wird teilweise bezweifelt. Insbesondere wird bemängelt, dass die Unterschiede zwischen den einzelnen Eintragungsverfahren der Mitgliedstaaten nicht ausreichend berücksichtigt worden seien.32 Dem kann jedoch entgegengebracht werden, dass sich dies allein auf die absolute Eintragungsdauer in Tagen auswirken kann. Dass eine Gründung ohne persönliches Erscheinen jedenfalls in Relation zu einem Präsenz-Verfahren mit sämtlichen Beteiligten schneller abläuft, erscheint hingegen als überwiegend wahrscheinlich. Letztlich handelt es sich um eine zulässige Prognoseentscheidung der Kommission, der keine gewichtigen Gründe entgegengebracht wurden. Zutreffend ist jedoch die Einschätzung des europäischen Gesetzgebers, dass ein in Grundzügen harmonisierter Verfahrensablauf zu weniger Konflikten bei grenzüberschreitenden Tätigkeiten führt, da wesentliche Regelungen in allen Mitgliedstaaten gleich sind.33

Losgelöst vom deutschen Rechtssystem sind die aufgrund der Richtlinie vorzunehmenden Änderungen in manchen Mitgliedstaaten nur von untergeordneter Bedeutung. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass teilweise bereits ein weiter Vorstoß bei der Implementierung digitaler Prozesse in den jeweiligen Staaten zu verzeichnen ist.34 Unter Berücksichtigung der zum Teil nur geringfügigen Anpassungen durch die Richtlinie ist von einer Wahrung der Verhältnismäßigkeit auszugehen. Dass die Kommission von ihrem Initiativrecht Gebrauch gemacht hat, steht somit mit den europarechtlichen Grundlagen in Einklang.35

←24 | 25→

3. Regelungstechnik

Inhaltlich stellt die auf dem Company Law Package basierende Digitalisierungsrichtlinie eine Ergänzung der Gesellschaftsrechtsrichtlinie dar.36 Es handelt sich insofern um eine Änderungsrichtlinie, die lediglich einzelne zu ändernde Passagen aufgreift.37 Aufgrund der Lückenhaftigkeit, die sich aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Richtlinien ergibt, überrascht es nicht, dass der Eindruck der Unübersichtlichkeit entsteht.38 Wünschenswert wäre daher eine Neunummerierung der Gesellschaftsrechtsrichtlinie unter Einbeziehung der Digitalisierungsrichtlinie gewesen, die jedoch nicht erfolgt ist.39

4. Allgemeine Anforderungen an den deutschen Gesetzgeber

Bei der Umsetzung der Richtlinie ist zu beachten, dass nach Art. 288 Abs. 3 AEUV das Ziel verbindlich ist, jedoch die Wahl der geeigneten Mittel dem jeweiligen nationalen Gesetzgeber überlassen ist. Somit soll gewährleistet werden, dass die vorgesehenen Regelungen bestmöglich in das nationale Rechtssystem implementiert werden. Die erforderlichen Maßnahmen, die ergriffen werden müssen, um der Richtlinie nachzukommen, sind nach Art. 2 Abs. 1 DigiRL grundsätzlich bis zum 1. August 2021 zu ergreifen. Sollten sich im Rahmen der Umsetzung besondere Komplikationen bei einzelnen Mitgliedstaaten ergeben, besteht die Option einer Verlängerung der Frist um bis zu ein Jahr (vgl. Art. 2 Abs. 3 DigiRL). Deutschland hat von dieser Verlängerungsoption Gebrauch gemacht, so dass eine Umsetzung bis zum 1. August 2022 möglich ist.40 Hierdurch wird der Praxis Zeit gegeben, um die notwendigen Umstellungen vorzunehmen. Von Vorteil hierbei ist das elektronische Urkundenarchiv für Notare, welches bereits am 1. Januar 2022 zur Verfügung stehen soll und somit einen weiteren Schritt zur Digitalisierung in notariellen Angelegenheiten mit sich bringt.41 Darüber hinaus ←25 | 26→gilt vereinzelt für Rechts- und Verwaltungsvorschriften eine Umsetzungsfrist bis zum 1. August 2023 (s. Art. 2 Abs. 2 DigiRL).

Am 13. November 2019 wurde ein Gesetzesantrag des Landes Nordrhein-Westfalen im Bundesrat vorgelegt.42 Der Gesetzesantrag wurde dem Rechtsausschuss sowie dem Ausschuss für Innere Angelegenheiten und dem Wirtschaftsausschuss zur weiteren Beratung zugewiesen.43 Ein entsprechendes Gesetz bedarf nicht der Zustimmung des Bundesrates.44 Am 18. Dezember 2020 legte schließlich das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz einen Referentenentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (im Folgenden: DiRUG-RefE) vor.45 Dass geplant war möglichst zeitnah das Gesetzgebungsverfahren zu durchlaufen und noch zu einem Abschluss innerhalb der relevanten Legislaturperiode zu kommen,46 zeigt sich daran, dass der Referentenentwurf weitestgehend beibehalten und am 10. Februar 2021 in einem Gesetzentwurf der Bundesregierung (im Folgenden: DiRUG-RegE) verabschiedet wurde.47 Kurz darauf hat der Bundesrat den Gesetzentwurf der Bundesregierung am 12. Februar 2021 in seiner Drucksache 144/21 veröffentlicht und zum Gesetzentwurf Stellung genommen.48 Das DiRUG wurde am 10.06.2021 vom Bundestag und am 25.06.2021 vom Bundesrat verabschiedet und tritt überwiegend am 1. August 2022 in Kraft (Art. 31 DiRUG).49 Es zeichnet sich im Wesentlichen durch praxisnahe und zukunftsweisende Regelungen aus, ohne von notwendigen Sicherheitsanforderungen abzuweichen.50

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II. Notwendigkeit der Richtlinie

Die Digitalisierungsrichtlinie wurde zur Stärkung der europäischen Niederlassungsfreiheit verabschiedet. Als wesentliches Hindernis eines reibungslosen Ablaufs der Gründung von Gesellschaften werden vor allem die entstehenden Kosten und der nicht unerhebliche Verwaltungsaufwand gesehen.51 Von den Änderungen sollen in erster Linie solche Unternehmen profitieren, die aufgrund ihrer Struktur nicht im gleichem Maße am europäischen Wettbewerb teilnehmen können wie größere Konkurrenten, namentlich also KMU und Start-Ups.52 In der heutigen Zeit ist Grundvoraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg eines kleinen oder mittelständischen Unternehmens, dass es sich im EU-Binnenmarkt behaupten kann.53 Insofern stellt die Chancengleichheit zwischen den verschiedenen Marktteilnehmern einen wesentlichen Beitrag zu einer florierenden Binnenwirtschaft dar.54 Im Folgenden wird kurz darauf eingegangen, inwieweit die Digitalisierungsrichtlinie an aktuelle europäische Entwicklungen anknüpft und welchen potentiellen Mehrwert sie darstellt.

1. Gesellschaftsformen

Soweit es den regulatorischen Rahmen betrifft, bietet sich eine Differenzierung zwischen supranationalen Rechtsformen, die sich vor allem durch ihre Symbolkraft auszeichnen55 auf der einen Seite und nationalen Rechtsformen auf der anderen Seite an. Soweit diese eine ausreichende Beteiligung von KMU am Binnenmarkt ermöglichen, hält sich die Notwendigkeit der Digitalisierungsrichtlinie in Grenzen.

a) Supranationale Rechtsformen

An supranationalen Rechtsformen kommen die Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung (EWIV), die Europäische Genossenschaft (SCE) und die Societas Europaea (SE) in Betracht. Letztlich scheint jedoch keine dieser Gesellschaftsformen geeignet, um den bestehenden Konflikt zu lösen.

Die EWIV scheidet bereits aufgrund ihrer beschränkten Zwecksetzung aus.56 So sieht etwa Art. 3 Abs. 1 EWIV-VO57 vor, dass die EWIV nicht den Zweck hat, ←27 | 28→Gewinn für sich selbst zu generieren und nur eine Hilfstätigkeit für die wirtschaftlichen Aktivitäten der Mitglieder darstellt. Darüber hinaus ist für die Gründung einer EWIV erforderlich, dass entsprechend Art. 4 Abs. 2 EWIV-VO ihre Mitglieder aus verschiedenen europäischen Mitgliedstaaten stammen. Für eine Gesellschaft, die von einem Mitgliedstaat aus über dessen Grenzen hinweg tätig sein möchte, stellt diese Anforderung ein Hindernis dar.58 Zudem ist zu beachten, dass die Vereinigungsmitglieder für Verbindlichkeiten der EWIV unbeschränkt und gesamtschuldnerisch haften (Art. 24 Abs. 1 EWIV-VO).59

Ähnlich wie die EWIV ist auch die SCE von vornherein auf einen kleinen Teil von Einsatzmöglichkeiten beschränkt.60 So ergibt sich aus Art. 1 Abs. 3 SCE-VO61, dass die SCE lediglich Genossenschaften offensteht.62 Dies macht die SCE zu einem ungeeigneten Instrument für kleine und mittlere Unternehmen.

Bereits im Vorfeld der Diskussion über einen geeigneten Rechtsrahmen für kleinere Unternehmen wurde darauf gedrängt, die Verweise auf nationale Regelungen möglichst gering zu halten, um die Kosten für oftmals externe Berater auf ein Minimum zu beschränken.63 Eine Nutzung der SE würde diesem Ziel zuwiderlaufen. Die verschiedenen Regelungen, die bei der Gründung einer SE zu beachten sind (vgl. Art. 9 Abs. 1 c SE-VO)64, machen diese gerade für KMU unattraktiv.65 Ebenso sprechen das Kriterium der Mehrstaatlichkeit (Art. 2 SE-VO), wie auch das hohe Stammkapital von 120.000 EUR (Art. 4 Abs. 2 SE-VO) gegen die Verwendung der SE.66

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b) Nationale Rechtsformen

Wenn supranationale Rechtsform keine zufriedenstellende Lösung bereithalten, könnte dennoch auf nationaler Ebene eine Möglichkeit einer unkomplizierten Gründung bestehen. Momentan wird vor allem bei der Gründung einer Tochtergesellschaft durch eine ausländische Muttergesellschaft von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, sich über einen Anteilserwerb an einer bereits bestehenden Gesellschaft zu beteiligen. Dies geschieht über sogenannte Vorrats- oder Mantelgesellschaften.67 Während bei der Gründung einer Vorratsgesellschaft zwar das erforderliche Stammkapital aufgebracht, aber keine unternehmerische Tätigkeit aufgenommen wird, handelt es sich bei der Mantelgesellschaft um eine „leere Hülle“ einer Gesellschaft, die ihre Tätigkeit zeitweilig eingestellt hat.68

Nach überwiegender Ansicht ist der Gebrauch einer offenen Vorratsgesellschaft wie auch einer Mantelgesellschaft zum Zweck einer beschleunigten Gründung zulässig.69 Voraussetzung ist eine Offenlegung der Form, dass die Vorratsgesellschaft lediglich einer späteren Aufnahme des Geschäftsbetriebes dient.70 Hierzu genügt regelmäßig, dass die Satzung zum Ausdruck bringt, dass die „Verwaltung eigenen Vermögens“ bezweckt wird.71 Die Verwendung einer Mantelgesellschaft hingegen erfordert, dass ein alter Geschäftsmantel wiederverwendet wird, der reaktiviert wird und somit eine „wirtschaftliche Neugründung“ darstellt.72

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Dass sich der Handel mit Vorrats- und Mantelgesellschaften großer Beliebtheit erfreut, lässt sich allein schon aus der Vielzahl an kommerziellen Angeboten ableiten.73 Auch wenn die Gründung in dieser Form weit verbreitet ist, so offenbaren sich dennoch einige Nachteile für kleinere und mittlere Unternehmen. Zunächst müssen neben dem aufzubringenden Stammkapital immer noch zusätzlich zwischen 2.000 EUR und 3.000 EUR Kaufpreis für die Zielgesellschaft aufgebracht werden. Während diese Summen für große Unternehmen zu vernachlässigen sind, müssen gerade Start-Ups mit ihren finanziellen Ressourcen bewusst umgehen. Selbst bei dem Erwerb einer Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt) liegt der Kaufpreis immer noch knapp unter 2.000 EUR. Hinzu kommt ein nicht unbeachtlicher Mehraufwand für Gebühren bei Notaren und Gerichten wie auch für Veröffentlichungen in Höhe von etwa 5 % der Stammkapitalziffer.74

Neben dem finanziellen Aspekt spricht entscheidend gegen die Verwendung von Vorrats- und Mantelgesellschaften, dass eine Online-Gründung de lege lata nicht möglich ist und stets der Gang zum Notar mit der Errichtung der Gesellschaft einhergeht. Dies gilt auch, wenn ein Bevollmächtigter zum Erwerb zwischengeschaltet wird.75 Zudem sind kleine Unternehmen oftmals rechtsunkundig und können infolgedessen bei grenzüberschreitendem Tätigwerden nur schwer ein Verständnis für fremde Rechtsordnungen entwickeln. Darüber hinaus ist insbesondere bei Mantelgesellschaften die Prüfung der Kapitalaufbringung und -erhaltung nur schwer nachzuvollziehen, was gegen eine Verwendung spricht.76

Details

Seiten
290
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631874837
ISBN (ePUB)
9783631874844
ISBN (MOBI)
9783631874851
ISBN (Hardcover)
9783631873823
DOI
10.3726/b19520
DOI
10.3726/b19555
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Januar)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 290 S.

Biographische Angaben

Philip Eichhorn (Autor:in)

Philip Eichhorn studierte Rechtswissenschaften an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau sowie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Während der Promotion arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer Anwaltskanzlei.

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Titel: Digitalisierung im Gesellschaftsrecht