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Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Klagenfurt 2019

Alfred Döblin und Robert Musil - Essayismus, Eros und Erkenntnis

von Peter Clar (Band-Herausgeber:in) Walter Fanta (Band-Herausgeber:in)
©2022 Konferenzband 360 Seiten

Zusammenfassung

Nicht nur durch ihre Lebensläufe sind Alfred Döblin (1878-1957) und Robert Musil (1880-1942) miteinander verbunden. Als aufmerksame Beobachter ihrer Zeit, die sensibel auf neue Bewegungen und Strömungen in den Wissenschaften, der Kultur, der Politik etc. reagierten, bezogen beide in ihrer Weise zu denselben Themen Stellung. Die Aufsätze im hier vorliegenden Sammelband zeigen, wie die gemeinsamen Themen das intellektuelle Leben der Zeit prägten, beeinflussten und formten, so wie diese Zeit selbst von Döblin und Musil mitgeformt wurde.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Alfred Döblin und Robert Musil – Essayismus, Eros und Erkenntnis (Peter Clar)
  • „Ideenlaboratorium“ oder „Tatsachenphantasie“? Musil und Döblin im „Kraftfeld“ essayistischen Experimentierens (Barbara Neymeyr)
  • Die „Unmöglichkeit eines heutigen Homer“ – Epos und Essay in der Moderne (Birgit Nübel)
  • Formen der Polyphonie in Döblins „Berlin Alexanderplatz“ und Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ (Anne Fleig)
  • Polemischer Liberalismus Alfred Döblins und Robert Musils politische Publizistik der Zwischenkriegszeit (Nicolas von Passavant)
  • Essayistisches Erzählen als Erkenntnismittel. Döblins Montage und Musils Essayismus (Yi Peng)
  • „Dieses Ich bin nicht ich“. Selbstreflexive Essayistik bei Robert Musil und Alfred Döblin (Sascha Michel)
  • Die Rezeption von Robert Musil und Alfred Döblin in China (Yao Pei)
  • Wandelnde Einstellungen zum ‚Primitiven‘ in der Moderne: Zur Erkenntnis der Erkenntnisweisen bei Musil und Döblin unter Einbeziehung von Robert Müller (David Midgley)
  • Erfahrungen mystischer Teilhabe in den Novellen „Die Segelfahrt“ und „Die Helferin“ von Alfred Döblin und „Grigia“ und „Tonka“ von Robert Musil (Julia Genz)
  • „Das Denken in Möglichkeiten“. Musil und Döblin als Nietzsche-Rezipienten im Vergleich (Mirjana Stancic)
  • Das rettbare Ich. Döblins naturphilosophischer Versuch „Das Ich über der Natur“ (1928) und Musils Darstellung des Ichs im dichterischen und essayistischen Werk (Birthe Hoffmann)
  • Erkenntnis durch Extreme bei Alfred Döblin und Robert Musil (Nico Schmidtner)
  • Erkennen zwischen Gut und Böse – Zum ,Gebrauchswert‘ des Eros bei Musil und Döblin (Artur R. Boelderl)
  • Poetologischer Überlebenskampf – Alfred Döblin und Robert Musil im Prager Tagblatt (Franziska Mader)
  • Psychopathologie und ästhetische Programmatik bei Robert Musil und Alfred Döblin (Katharina Grätz)
  • Sexueller Pluralismus. Zu Normalität und Abweichung bei Alfred Döblin und Robert Musil (Linda Leskau)
  • Liebe, Sex, Wahn und Gewalt bei Döblin und Musil. Beobachtungen zur darstellerischen Entfaltung in den Berichten zum Fall Klein/Nebbe (Norbert Christian Wolf)
  • Musils Döblinrätsel (Walter Fanta)
  • Ausgaben der Werke von Döblin und Musil
  • Reihenübersicht

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Alfred Döblin und Robert Musil – Essayismus, Eros und Erkenntnis

Peter Clar

Nicht nur durch ihre Lebensläufe und durch die Tatsache, dass beide zur gleichen Zeit lebten und arbeiteten, dass beide eine wissenschaftliche Ausbildung durchlaufen hatten, dass beide vor den Nationalsozialisten ins Exil fliehen mussten, sind Alfred Döblin (1878–1957) und Robert Musil (1880–1942) miteinander verbunden. Als aufmerksame Beobachter ihrer Zeit, die sensibel auf neue Bewegungen und Strömungen in den Wissenschaften, der Kultur, der Politik etc. reagierten, bezogen beide Stellung zu denselben oder zumindest ähnlichen Themen, sei es in Romanform oder im Feuilleton, in publizistischen Arbeiten oder Essays. Angesiedelt im geistigen Horizont ethnographischer, philosophischer, soziologischer oder (gesellschafts-)politischer Fragestellungen, standen besonders die zunehmende Skepsis gegenüber der Erfassbarkeit der Wirklichkeit, wurzelnd in der Philosophie Nietzsches oder der Psychoanalyse Freuds, das Gefühl der, mit Ernst Mach gesprochen, ‚Unrettbarkeit des Ichs‘1 oder auch die gewaltsamen Umwälzungen innerhalb des europäischen Machtgefüges im Zentrum der Aufmerksamkeit der beiden Autoren genauso wie die poetologischen Diskussionen des Zeitalters der so divers sich zeigenden Moderne. All diese Themen und Auseinandersetzungen, die, wie viele der Aufsätze im hier vorliegenden Sammelband zeigen, das intellektuelle Leben der Zeit auch im Allgemeinen prägten, beeinflussten und formten auch Döblin und Musil – beide ganz unterschiedlich im schriftstellerischen Ausdruck –, so wie diese Zeit selbst von Döblin und Musil mitgeformt wurde. Beide Autoren, ganz aufmerksame Leser des jeweilig anderen, waren einander in gegenseitigem Respekt zugetan. So finden sich in Musils Tagebucheinträgen immer wieder, oftmals durchaus kritische, Bemerkungen zu Döblins Schreiben oder Hinweise zu von ihm selbst veröffentlichten Rezensionen, wie etwa jene hymnische zu Döblins Manas-Epos, das Musil als „so gewagt wie gelungen, so außerordentlich wie überraschend“ (GW II 1680) lobte, oder die Leseempfehlung in der Zeitschrift Das Tagebuch vom 13.12.1930, in dem Musil den Leser*innen die Lektüre von Berlin Alexanderplatz ans Herz legte. Und auch Döblin nahm immer wieder Bezug auf seinen österreichischen Kollegen – sei es in seinen Briefen, sei es in Zeitungsartikeln – und war nicht zuletzt als Vertrauensmann der Kleist-Stiftung dafür mitverantwortlich, dass der für ihn „in die erste Reihe gehörige[n]‌ Autor[]“ (SÄPL 364) 1923, gemeinsam mit ←7 | 8→Wilhelm Lehmann, mit dem bedeutendsten Literaturpreis der Weimarer Republik, dem Kleist-Preis, ausgezeichnet wurde.

Mit Blick auf alle genannten Berührungspunkte lag es nahe, die Autoren einer gemeinsamen Lektüre zu unterziehen, nicht im Hinblick auf die Biographie, vielmehr mit Fokus auf die Frage nach den inhaltlichen und formalen Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Texte, spezifischer, der Kurzprosatexte, der Essays, des Feuilletons. Mit der dem vorliegenden Sammelband zugrundeliegenden Tagung „Alfred Döblin und Robert Musil – Essayismus, Eros und Erkenntnis“, die im November 2019 am Robert-Musil-Institut / Kärntner Literaturarchiv der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt stattfand, wurde nicht nur der Versuch der ‚gemeinsamen‘ Lektüre unternommen, sondern auch Döblin- und Musilexpert*innen motiviert, über den jeweils ‚anderen‘ Autor zu reflektieren und so den Blick auf den ‚eigenen‘ Autor zu überdenken und zu erweitern. Damit wurden neue Zugänge zu den Werken beider Schriftsteller ermöglicht, konnte den bekannten Analysen und Interpretationen, den Lesarten Döblins und Musils jeweils neue Aspekte hinzugefügt werden – dies besonders im Hinblick auf jene Texte, die meist nicht im Mittelpunkt der literaturwissenschaftlichen Forschung stehen, nämlich die Kurzprosatexte und das essayistische Werk.

Ausgehend von diesen Überlegungen und der Annahme, dass trotz deutlicher formaler Unterschiede nicht zuletzt der ‚Essayismus‘ eine Parallele zwischen den beiden Autoren darstellt, war die erste Fragestellung schnell formuliert. Folgt man im Verständnis des ‚Essays‘ Günther und Irmgard Schweikle, wird schnell deutlich, dass das Schreiben sowohl Döblins als auch Musils als essayistisch verstanden werden kann, ja, vielleicht sogar muss. Diesen zufolge bezeichne der Begriff „im modernen Sprachgebrauch unpräzise [einen] meist nicht zu umfangreichen, stilistisch anspruchsvollen Prosatext, in dem ein beliebiges Thema unsystem[atisch] aspekthaft dargestellt ist“. Sowohl die, dem Essay zugeschriebene „skept[isch]-souveräne Denkhaltung“, wie die „Einsicht in die Komplexität der Erfahrungswirklichkeit“, „das Misstrauen gegenüber festen Ergebnissen, eine Offenheit des Fragens und Suchens, eine eigene Methode der Erkenntnisvermittlung“ zeichnet das Werk Döblins und Musils aus. Und auch die weiteren Definitionen des Essays könnten ebenso als Beschreibung der Werke beider Autoren dienen, das „Denken [das] während des Schreibens als Prozeß, als Experiment entfaltet wird“ ebenso wie die „fragende[] Wahrheitssuche, die das gedankliche Fazit dem Leser überläßt“. Stilistisch sei der Essay (und sind auch Döblins und Musils ‚Großtexte‘) geprägt von „assoziative[r]‌ Gedankenführung, Abschweifungen, variationsartigem Umkreisen eines Fragekomplexes, Wechsel der Perspektiven, bisweilen einseitiger Standpunktauswahl, Durchspielen von Denkmöglichkeiten, Paradoxa, Provokationen, stets absichtsvollem Subjektivismus, immer mit dem Ziel, Reaktionen, Denkanstöße beim Leser auszulösen“.2←8 | 9→

Die Frage nach dem ‚Essayistischen‘ in den Werken der beiden Schriftsteller bildete einen der Schwerpunkte der Tagung. Eine zweite, damit schon allein deswegen eng verbundene Fragstellung, weil bei beiden Schriftstellern die Form ohne den Inhalt nicht denkbar, nicht lesbar wird, ist jene nach der Erkenntnis – hier begrifflich weit gefasst als die Frage nach der Thematisierung der (Un-)Möglichkeit von Erkenntnis einerseits bzw. nach der kritischen Reflexion von vermeintlich erkannten ‚Wahrheiten‘, ‚Realitäten‘ andererseits. Der im Zeitalter der Moderne wie kaum zuvor empfundene und in Wissenschaft wie Kunst und Literatur thematisierte Verlust erkenntnistheoretischer Sicherheit ging weder an Alfred Döblins noch an Robert Musils Werk spurlos vorüber.

Gleichzeitig führte uns die Frage nach dem (literarischen) Verhandeln eben dieser Unsicherheiten zu einem dritten Schwerpunkt, der auf den ersten Blick nur lose verbunden scheint, jener der Frage von Eros, Sexualität und Begehren und deren Brüchigkeit, deren potentiell dekonstruktiver Verfasstheit im Werk Döblins und Musils. Kann (literarische) Erotik, verstanden als Ausbruch aus der Norm wie als Einbruch des ‚Verdrängten‘, des (scheinbar) ‚Abnormalen‘ in die Normalität zur Erkenntnis des Mensch-Seins führen? Und wenn ja, in welcher Form geschieht dies?

Trotz der vielfältigen Art und Weise, in der die internationalen Beiträger*innen reagierten, weisen die Aufsätze zahlreiche Querverbindungen auf. Diese Interaktion wurde im Prozess der Überarbeitung der Konferenzbeiträge gezielt gefördert (die Texte konnten auf einer Online-Plattform in diversen Vorstadien hochgeladen werden, um eine weitergehende, wenn auch virtuelle, Diskussion zwischen den Beiträger*innen zu ermöglichen). Die Verwobenheit der Texte führte zu zwei herausgeberischen Entscheidungen: die Beiträge wurden durch zahlreiche Querverweise in den Fußnoten miteinander verknüpft, sodass die Leser*innen, fast wie in einem Lexikon, zwischen den Beiträgen hin- und herspringen können; die Anordnung derselben folgt dem Ablauf des Symposiums, es wurde darauf verzichtet, neue Blöcke zu bilden, zu vielfältig sind die Bezüge zueinander. Einzig Walter Fantas Auftaktvortrag – Wie Karl Corino dafür sorgte, dass Alfred Döblin Robert Musils Roman verdarb – wurde von diesem zu einem Nachwort umgearbeitet und schließt den hier nun vorliegenden Sammelband ab.

Dieser beginnt mit Barbara Neymeyrs Aufsatz „Ideenlaboratorium“ oder „Tatsachenphantasie“? Musil und Döblin im „Kraftfeld“ essayistischen Experimentierens. In diesem zeigt sie, dass, trotz erheblicher gegenseitiger Wertschätzung und poetologischer Übereinstimmungen – u. a. im Verständnis des „Essay[s]‌ als probate[m] Reflexionsmedium“ um „Selbstreflexion“, „kulturkritische Perspektiven und […] Zeitdiagnosen“ (S. 9) miteinander zu verbinden –, grundlegende Unterschiede zwischen Döblins und Musils poetologischen Entwürfen festzustellen sind. Kritisch reflektiert Neymeyr zudem Inkonsistenzen in Döblins Programmatik.←9 | 10→

Ebenfalls auf die poetologischen Unterschiede kommt Birgit Nübel zu sprechen. Beide Autoren seien keine Erzähler im Sinne Walter Benjamins, da sie weder nach einem Sinn suchten noch Ratschläge gäben, sondern vielmehr versuchten, die „nicht mehr erfahrbare […] Totalität der modernen Welt in eine polyperspektivische Darstellungsform [zu] bringen“ (S. 61). Dabei bedienten sich beide sehr unterschiedlicher Mittel, was nicht zuletzt „die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ‚multipler‘ ästhetischer Modernitäten“ (S. 61) zeige.

Um „Formen der Polyphonie“ (S. 62) geht es Anne Fleig, die, bevor sie sowohl Döblin als auch Musil mit Bachtins Konzept der Polyphonie engführt, einen Bogen zur Literatur der Gegenwart, u. a. zu Olga Tokarczuk, spannt. Auch Fleig sieht große Unterschiede in der Verwirklichung der Vielstimmigkeit in den Werken beider Autoren. Gemein sei aber beiden, „dass sie neue Leserinnen und Leser brauchen, um das Sprachkunstwerk als Kommunikationsgeschehen zu teilen“ (S. 79) – ein Argument, dass erneut die Aktualität der Texte betont – diesmal aber (auch) als ‚Bringschuld‘ der Rezipient*innen.

Während sich Anne Fleig in erster Linie den Großtexten Döblins und Musils zuwendet, liest Nicolas von Passavant deren politisch-publizistische Texte der Zwischenkriegszeit entlang der Theorie des Politischen von Chantal Mouffe, aber auch im Rückbezug auf „Bachtins Konzept dialogischer Vielstimmigkeit“ (S. 102). Trotz großer Unterschiede – „Döblin ruft zu einer Trivialisierung der Literatur […]. Musil dagegen stellt […] gerade den Anspruch hochgradiger Komplexität und Reflexivität“ (S. 103) – versuchten beide Autoren ihre jeweiligen Standpunkte mit dem Mittel der Verschränkung von Polemik und theoretischer Reflexion zu formulieren, setzten beide „der verhängnisvollen gesellschaftlichen und politischen Polarisierung nicht-revolutionäre Postulate gesellschaftlicher Bildung und politischer Reflexion ‚von links‘ entgegen.“ (S. 103)

Das Multiperspektivische rückt auch bei Yi Peng in den Mittelpunkt. Das essayistische Erzählen – die Autorin unterscheidet dabei, ohne zu werten, zwischen der radikaleren Montagetechnik Döblins und dem ‚konservativeren‘ Schreiben Musils – sei der Versuch, die empfundene „Zerrissenheit der Welt […] zu überwinden“ (S. 105), gerade indem diese Zerrissenheit gegen sich selbst gewendet wird. Die Lösung des Problems der Nichtübereinstimmung von Sprache und Wirklichkeit können, da ähneln sich Döblins und Musils Ansätze, nur in der Sprache selbst gefunden werden.

Die (Unmöglichkeit der) Ich-Erkenntnis fokussiert Sascha Michel in Dieses Ich bin nicht ich“. Selbstreflexive Essayistik bei Robert Musil und Alfred Döblin. Im Begriff der Selbstreflexion subsumiert er das Nachdenken der Texte über ihre eigene Form, das Nachdenken des Ichs über sich selbst und, damit verbunden, „die Reflexion der historischen Zeit, innerhalb derer sich der sich selbst reflektierende Geist bewegt“ (S. 122). Diese drei Ausprägungen der Selbstreflexion sieht Michel in den Essays Döblins und Musils verwirklicht; ←10 | 11→er liest diese entlang der Theorien von Theodor W. Adorno und Georg Lukács, versehen u. a. mit einer, um Elfriede Jelinek zu paraphrasieren, gehörigen Prise Nietzsche.

In eine andere Richtung gehen Yao Peis Ausführungen. Nach einer v. a. für ‚westliche‘ Leser*innen nicht unwichtigen Einführung in die Gründe der spät einsetzenden Rezeption der beiden Autoren in China untersucht sie die Wechselwirkungen zwischen China und Döblin bzw. China und Musil in dreierlei Hinsicht. Es wird die Übersetzungstätigkeit als Motor der Rezeption in den Blick genommen, der Frage, welche Themen des Döblin’schen bzw. Musil’schen Schaffens in China besonders diskutiert werden, nachgegangen und untersucht, wie die beiden Autoren China in ihren Texten rezipieren. Dabei zeigt sich, dass Döblins Beschäftigung mit China eine wesentlich tiefergehende war als die Musils.

Einer problematischen Form der Beschäftigung mit ‚anderen Kulturen‘ widmet sich David Midgey. In seinen Ausführungen zum sogenannten ‚Primitivismus‘ untersucht er neben Texten Döblins und Musils auch solche Robert Müllers. Während bei Musil die Darstellung „‚primitive[r]‌‘ Erkenntnisweisen – in der Gegenwart wie in der Vergangenheit – zum Gegenstand einer vom Verstand geleiteten umfassenden Untersuchung werden“ (S. 168), stellte Müller den Primitivismus-Diskurs bereits 1915 in Frage. In Döblins frühen Texten erkennt Midgey ein Problem, in seiner Amazonas-Trilogie allerdings eine „nuancierte[re] Verarbeitung ethnografischer Informationen“ (S. 170).

Auch Julia Genz beschäftigt sich mit dem als Gegenbewegung zum Rationalismus verstandenen Primitivismus, v. a. mit dem Gedanken der ‚participation mystique‘. Die Idee der Vereinigung des Menschen mit der belebten wie unbelebten Natur, von menschlichen und nichtmenschlichen Wesen sei auch in manchen Texten sowohl Döblins als auch Musils zu finden. Wenn man die These einer Kontinuität des Primitivismus zur Moderne teile, dann, so Genz, stelle sich nicht „die Frage ob, sondern wie unter den Bedingungen der Moderne plausibel ein ‚vormoderner‘ Vereinigungszustand erfahren werden kann“ (S. 180), eine Frage, die sie anhand Döblins Die Segelfahrt und Die Helferin sowie Musils Grigia und Tonka nachspürt.

Wie schon für Sascha Michels Text spielt auch für Mirjana Stančićs Beitrag Nietzsche eine wichtige Rolle. Und wie bei so vielen Themen zeigt sich auch im Bezug auf die Rezeption des Philosophen die Unterschiedlichkeit der beiden Schriftsteller gerade in der Gemeinsamkeit. Denn auch wenn beide mit vergleichbarer Intensität Nietzsche rezipierten, wenn „der Ertrag innerhalb ihres Werks von vergleichbarer Repräsentativität“ (S. 213) sei, stehe, so Stančić, dem „komprimierte[n]‌ analytische[n] Ansatz Döblins […] das horizontale, lange währende, tendenziell synthetisierende Verfahren Musils“ (S. 205) gegenüber.←11 | 12→

Das ‚Ich‘ wiederum ist bei Birthe Hoffmann zentral. Sie vertritt in ihrem Beitrag die These, dass Döblin und Musil, trotz „aller Infragestellung der Autonomie und Kohärenz des Ichs“ (S. 216) dieses zu retten versuchen. Beiden gehe es darum, den Spagat zwischen Wissenschaftlichkeit und des ‚In-den-Mittelpunkt-Rückens‘ der Seele zu schaffen – womit sie an David Midgey und Julia Genz anknüpft. „Die Rettung des Ichs“ sei dabei aber immer „nur eine exemplarische, individuelle Lösung, welche die explosiven Kräfte der Ent-Ichung im Kollektiv nicht aufzuhalten vermag.“ (S. 232)

Entlang der Texte Die Ermordung einer Butterblume und Der Vorstadtgasthof geht Nicolas Schmidtner der Frage nach, inwieweit die Darstellung extremer Empfindungen dem Erkenntnisgewinn diene. Dabei steht weniger „das Verständnis von Erkenntnis als überzeitliche[r]‌ Wahrheit im Mittelpunkt“, sondern vielmehr als „eine Einzelerscheinung, die sich an einer Idee des ganzheitlichen Menschen direkt rückbinden und in der Literatur darstellen lässt.“ (S. 242) Wie die meisten Beiträge führt auch dieser vor Augen, dass sich Döblins und Musils Texte sowohl ähneln als auch unterscheiden: „Obwohl sich beide Texte durch einen Bruch gesellschaftlicher Konventionen und Mechanismen auszeichnen, vollführen sie diesen jedoch ganz unterschiedlich.“ (S. 238)

Schmidtner bezieht sich in seinem Beitrag u. a. direkt auf Artur R. Boelderl, der als ‚Auftakt‘ eine amüsante ‚Seitendiskussion‘ über die richtige Betonung der Aussprache des Namens ‚Döblin‘ führt, um diesem seine Ausführungen zum „Gebrauchswert des Eros“ (S. 251) folgen zu lassen. Mit Bataille wird „die Frage nach der Erkenntnisfunktion des Eros in der (modernen) Literatur“ (S. 253) gestellt. Der intrinsische Zusammenhang von Erotik und Gewalt, insofern „sie als Momente des Heterogenen aus dem Bereich des Homogenen weniger herausfallen denn vielmehr ausgeschlossen werden (müssen), in den als Reich der Vernunft sie jedoch als Zeichen des Irrationalen immer wieder aufs Neue einbrechen“ (S. 261), führt zur Frage der Funktion des Bösen in der Literatur bzw. zur Frage der Bedeutung der Literatur für das Verständnis des Bösen im Menschen: Sie „ermöglicht dem Menschen […] eine Erfahrung seines Wesens, die er rein rational nicht als seine Wahrheit annehmen kann, von der aber indes zugleich weiß, dass sie ihn ausmacht.“ (S. 264)

Der Ausgangspunkt der Überlegungen Franziska Maders sind je ein Kurzprosatext von Döblin und Musil, am 24.10.1923 auf der vierten Seite des Prager Tagblatts abgedruckt, die beide einen Überlebenskampf zum Thema haben, jenen von Kakteen (Döblin) bzw. eines Hasen (Musil). Ziele der Analyse Maders sind die Texte im Kontext ihres Abgedruckt-Seins auf derselben Zeitungsseite: „Und plötzlich verhaken sich die Texte ineinander. Die Haltung des jeweiligen Erzählers spiegelt sich im Überlebenskampf des jeweils anderen Textes. Dadurch relativieren sich die unterschiedlichen Perspektiven auf den Überlebenskampf, die aber durch die Ich-Erzähler ohnehin immer schon subjektiv waren.“ (S. 280)←12 | 13→

Die Bedeutung zeitgenössischer psychiatrischer und psychopathologischer Diskurse für Döblins bzw. Musils Schaffen steht für Katharina Grätz im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. Sie stellt fest, dass die Faszination des Wahnsinns für die Literatur der Moderne, nicht zuletzt in Rückbezug auf Nietzsche, nicht nur das Werk dieser beiden Dichter auszeichnet. Bei allen inhaltlichen Gemeinsamkeiten – der Aufmerksamkeit für das Abweichende, das Tabuisierte, das Ausgegrenzte – sind formale Unterschiede deutlich erkennbar. Im Gegensatz zu Musil, der „ein sezierendes literarisches Verfahren, das seine Gegenstände isoliert und fragmentierend in vielfältigste Facetten auflöst“ fordert, spricht sich Döblin „für eine literarische Vorgehensweise aus, die nach ‚lebendiger Totalität‘ (SÄPL 120) strebt.“ (S. 298)

Das (vermeintlich) Abweichende, ‚Abnormale‘ grundiert den Text von Linda Leskau. Über Döblin und Musil hinaus erläutert sie die Bedeutung der Literatur für die moderne Sexualwissenschaft. Literarische Zugänge wie u. a. Döblins Erzählung Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord oder Musils, den gleichen realen Kriminalfall behandelnde, Prosaskizze Das verbrecherische Liebespaar. Die Geschichte zweier unglücklicher Ehen, unterlaufen herkömmliche Kategorisierungen der Sexualwissenschaft. Die Literatur hätte damit, wie zeitgleich Freuds Psychoanalyse, dazu beigetragen, den sexualwissenschaftlichen Diskurs, der allein auf den Erhalt der ‚normalen‘, d. h. zum Zwecke der Fortpflanzung ausgeübten, Sexualität ausgerichtet war, zu erweitern – hin zu mehr Diversität.

Dieselben Ausgangstexte liegen auch Norbert Christian Wolfs abschließendem Beitrag zu Grunde; er versteht die kleinen psychopathologischen Studien von Döblin und Musil als formal auf die jeweiligen großen Romane Berlin Alexanderplatz bzw. Der Mann ohne Eigenschaften vorausweisend. Seine Analyse ist von der Frage nach den „unterschiedlichen ‚Graden an Modernität‘“ (S. 346) geleitet, eine Frage, die, so die Ausgangsthese, in vergleichenden Studien zu den beiden Autoren immer wieder aufgeworfen würde. Wiewohl auch er einen großen Unterschied der gestalterischen Mittel konstatiert, beantwortet er die Frage, welcher Zugang moderner wäre, nicht nur nicht, vielmehr stellt er die Sinnhaftigkeit einer solchen in Abrede.

Abgeschlossen wird der Band vom Nachwort meines Kollegen und Freundes Walter Fanta, mit dem gemeinsam ich die Konferenz organisieren und den Band redigieren durfte. Ihm wie den Beteiligten am Robert-Musil-Institut sei ebenso mein Dank ausgesprochen wie der Alfred-Döblin-Gesellschaft, allen voran den Initiatorinnen der Konferenz Sabina Becker und Marion Brandt auch für die Beteiligung an der Finanzierung des Sammelbandes. Ein herzliches Dankeschön aber vor allem allen Teilnehmer*innen der Konferenz, ihnen danken wir auch für die Geduld in den Zeiten der Pandemie, durch die sich die Herausgabe etwas verzögert hat.

Details

Seiten
360
Erscheinungsjahr
2022
ISBN (PDF)
9783034344296
ISBN (ePUB)
9783034344302
ISBN (Paperback)
9783034341288
DOI
10.3726/b18886
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Dezember)
Schlagworte
Essay Poetologie Epistemologie Sexualpathologie Moderne
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 360 S.
Produktsicherheit
Peter Lang Group AG

Biographische Angaben

Peter Clar (Band-Herausgeber:in) Walter Fanta (Band-Herausgeber:in)

Peter Clar ist Literaturwissenschaftler und freier Schriftsteller. Er lebt und lehrt in Wien, seine Forschungsschwerpunkte liegen auf Literatur- und Kulturtheorie. Walter Fanta ist Germanist und Historiker. Er lebt und lehrt in Klagenfurt, sein Arbeitsschwerpunkt liegt auf der (digitalen) Herausgabe der Werke Robert Musils.

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Titel: Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Klagenfurt 2019