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Selbstinszenierung und Gedächtnisbildung

Rosa Maria Assing in Briefen und Lebenszeugnissen aus der Sammlung Varnhagen. Edition und Kommentar. Teil II. 1823–1840

von Paweł Zarychta (Band-Herausgeber:in)
©2022 Andere 586 Seiten

Zusammenfassung

«Das Assing’sche Haus war für Hamburg, was Gustav Schwab’s für Stuttgart war, so lange dieser noch dort wohnte. Was nur irgend eine literarische Berühmtheit erlangt hatte, suchte sich Empfehlung an Rosa Maria zu verschaffen und fand freundliche Aufnahme» – schrieb Amalia Schoppe in einem Nachruf auf ihre 1840 verstorbene Freundin. Rosa Maria Assing, Schwester Karl Augusts und Schwägerin Rahel Varnhagens, gehört heute zu den weitgehend vergessenen Autorinnen. Zu Lebzeiten war sie literarisch tätig, in Hamburg führte sie einen literarischen Salon und pflegte einen intensiven Briefwechsel mit zeitgenössischen Schriftstellern und Intellektuellen. Die vorliegende Publikation dokumentiert ihr Leben und Wirken anhand der bislang größtenteils unveröffentlichten Handschriften aus der Sammlung Varnhagen.

Inhaltsverzeichnis


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Teil II „Ich hafte ohnehin fest an allen Erinnerungen“ (1823–1840)

173. Aus den Tageblättern1 von RM, Juli–August 1823, BJK SV 17

Besuch meines Bruders in Hamburg.
Im Juli 1823.

Nach neunjähriger Trennung sahen wir uns wieder, ich fühle daß wir beide milder geworden und gereifter sind. Glückliche schöne Tage die Zeit seiner Anwesenheit. Ich fühlte mich auf das erfreulichste angeregt und zu mannichfachem geistigen Streben aufgefordert. Seine Mittheilungen über sich und andere Personen waren höchst interessant; sein Antheil an uns und den Kindern innig und liebevoll. Unsere Spatziergänge und Fahrten nach Rainville’s Garten, Flottbeck, Eppendorf und Winterhude, dem Stintfang und dem Hafen boten die schönsten Momente dar, die Erinnerung daran gewährt die reinste Freude und diese Orte haben dadurch eine neue Weihung erhalten. Wie schön war das Schiff, welches unter Rainville’s Garten hinfuhr, und bei seiner Rückkehr von langer Fahrt die Stadt mit acht Kanonenschüssen begrüßte! – Wie einladend sah das Packetboot aus, welches im Hafen von Herrn und Damen bestiegen wurde, um die Reise nach Cuxhafen zu machen! – Welch heitre Stunden mit Steinheims in Flottbeck. Der Besuch auf dem Eppendorfer Moor ist mit dem Auffinden zweier neuen Pflanzen bezeichnet, der Serapias latifolia (Sumpfwurz) und des anthericum ossifragum (Beinbrechgras, Sumpf-Zaunblume). Die Elbe in der schönsten Mondbeleuchtung bot sich vom Stintfang aus dar. Fanny sah ich erregter wie gewöhnlich. Glühende Asche liegt da wo einst heiße Gefühle brannten. Hertzens Familie nahm ihn mit alter Zuneigung auf, die mir rührend war; man ließ seinetwegen Solm aus Kiel kommen. Hamburg hat aufs neue einen erfreulichen Eindruck auf ihn gemacht, er will künftigen Sommer wiederkommen und dann seine Frau mit bringen, gebe Gott daß es wahr werde! Seine Nähe ←7 | 8→und sein Umgang ist von großer Einwirkung von jeher auf mich gewesen, und ist es noch, wenn auch anderer Art wie früher, das fühle ich. Meine Erzählung Emma Walther, habe ich ihm mitgetheilt, sie hat im Ganzen seinen Beifall, er fand sie gut und klar geschrieben, den Stoff pickant; nur an der Form und dem Ausdrucke: schwanger, fand er auszusetzen, worin ich ihm beipflichte, ich hatte es schon früher erkannt daß in der Form etwas verfehlt ist. Ueber das Urtheil der Therese Huber, meint er, könne ich mich trösten, wie es mich denn auch gar nicht getroffen oder verletzt hat, es sey unstatthaft und gemein.2 Auch habe sie, bei einer lobenswerthen Rücksicht auf Moral und Schicklichkeit auch die ganz gemeine und philisterhafte, bei der Redaktion des Morgenblattes im Auge, und daher sey es voraus zu sehen gewesen daß sie diese Erzählung nicht aufnehmen würde. Die Gedichte meines Assings haben ihm sehr gefallen, dem Geiste nach fand er sie vortrefflich, zart und innig, nur an der Form sey hin und wieder etwas zu ändern.

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O mein theurer Karl! – Er war ein vielversprechender Knabe; ein ausgezeichneter Jüngling, und ist nun einer der vorzüglichsten trefflichsten Männer. Welch ein herrlicher Greis wird er auch einst seyn! – O mein Vater! könntest du deine und meine Kinder sehn! –

Welch thörichter Wahn zu glauben mit den Kinderjahren sey unsere Erziehung vollendet! Jedes Lebensalter hat seine eigentümlichen Fehler die sich mit den Jahren entwickeln; man soll daher nie aufhören an sich zu bilden, auf sich Acht zu haben, zu lernen und an sich zu erziehen. Auf Selbsterziehung kömmt hier alles an, auf strenges Beobachten unserer selbst, um zu vermeiden was uns an Andern unschön und verwerflich erscheint. In vorgerückten Jahren gibt sich niemand mehr die Mühe uns zu erziehen, wenn wir es nicht selbst thun.

Immer lernen, immer Neues suchen zu sehen und zu erfassen und zu begreifen, es sey nun im Leben oder in Kunst und Wissenschaft, erhält den Geist bis ins hohe Alter jung.

Man suche sich zu bewahren vor geistigem Stillstand unserer Kräfte und Fähigkeiten, denn in ihm entwickelt sich Schimmel, und endlich gänzliche Verderbniß und Unbrauchbarkeit. Zeiten der Ruhe können und müssen eintreten.

Frische geistige Luft durchströme unser Thun und Seyn, von allen vier Himmelsgegenden her, von allen Seiten sey unsere Seele ihr offen! Abschließung von keiner Seite! –

Äussere Unordnung im Leben und in Geschäften, zieht leicht sittliche Verwahrlosung und Unordnung nach sich.

Vor allem möchte ich die Jugend warnen sich vor aller blinden Nachahmung zu hüten, denn man kömmt dadurch leicht in Gefahr etwas zu thun was gar nicht zu unserm Charakter paßt, das, wenn es auch an sich nicht verwerflich ist, nicht in Uebereinstimmung mit unsern übrigen Handlungen zu bringen ist, und eine unangenehme Disharmonie veranlaßt.

Den 6ten August. Mittwoch. Bei Steinheims zur Feier seines Geburtstages. Die Gesellschaft war nicht recht belebt, die Unterhaltung dürr. Miß Daws,3 das arme ←9 | 10→verblühte Mädchen daselbst wieder gesehn und gesprochen. Steinheim schenkte mir sein Gedicht Sinai.4

Sonntag den 10 August. Mama’s Geburtstag heute, sie wird acht und sechzig Jahr alt. Gottlob, sie hat ein heitres Alter, und genießt einer vortrefflichen Gesundheit, der Himmel laße sie noch lange dabei! – Am Morgen gingen die Kinder mit Blumen und Kuchen ihr Glück zu wünschen, des Mittags und den Tag über war sie bei uns.

Den 15 August. Des Nachmittags mit Assing in Rainville’s Garten. Wie immer erfreuliche Eindrücke dort erhalten. Mehreres aus dem Freischützen daselbst gehört. Lebhafter Streit zwischen mir und Assing auf dem Rückwege, über Gedichtformen. Er behauptete das Gedicht: an Lottchen von Göthe sey ein Lied, ich sage es ist eine Epistel, und wage anderer Meinung zu seyn wie Göthe, der es, mir unbegreiflich, unter seine Lieder gesetzt hat.

 

[…]

 

Den 21 Aug. Wegen der Aufnahme eins wahnsinnigen Mädchens auf dem Krankenhofe, begab sich Amalia zu dem Oberalten von Axen.5 Er nahm sie sehr unartig auf, gab kaum die nöthige Auskunft und sagte endlich ärgerlich zu Amalia die er nicht kannte: „Die Sache geht mich weiter nichts an, halten Sie sich nicht länger auf Madam!“

„Madam bin ich nicht, erwiederte Amalia höchst gereizt.“

„Nun Mademoiselle denn.“

„Mademoiselle bin ich auch nicht!“

„Nun was sind Sie denn?![“]

„Was ich bin brauche ich Ihnen nicht zu sagen, Was Sie aber sind will ich Ihnen sagen: Sie sind ein Grobian!“

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Damit schnell zur Thüre hinaus. Wer ihm die Artigkeit sagte muß er rathen!

 

Den 24 Aug. Sonntag. Schöner freundlicher Tag. Mit Assing vor dem Steinthor spatzieren. Beim schönsten Wetter und Abend zurück. Die Alster war mit Kähnen bedeckt, in einer Schuite6 befand sich das Musikchor der Hanseaten, die Töne schallten weit über das Wasser her, bei der Lombardsbrücke spielten sie Lützow´s wilde Jagd,7 der Eindruck war höchst poetisch und erhebend. Das schöne Abendlicht, der Mond und die Schwäne verschönerten die Scene. Mein Gefühl war erregt, mein Sinn freudig und wehmüthig angesprochen. Eine bunte Menge von Spatzierengewesenen wogte über den Wall. Ich war lebhaft ergriffen, aber anders wie in frühern Tagen, den Tagen der Jugend und Sehnsucht und Hoffnung, da die Welt und das Leben noch gleichsam als Knospe vor uns liegt, da ahndungsvoller Schauer uns bei solchen Gelegenheiten durchbebt und die Sehnsucht zu Schmerz wird.

Den 28 Aug. […] – In diesen Tagen den Lebensabriß von Hoffmann, von Hitzig herausgegeben,8 geendet: Desgleichen Sinai, von Steinheim, welches mir mein Assing vorgelesen. Ich freue mich so viel Schönes darin gefunden zu haben. Mir war bange davor, die Bearbeitung eines biblischen Stoffes hat mich nie angezogen, um so erfreulicher und überraschender war der Eindruck, und meine Freude ist groß die Arbeit eines Freundes laut und mit Wahrheit loben zu können. Vieles ist sehr schön, Manches ganz vorzüglich; Einiges zu tadeln, was die Rezensenten von Metier durchnehmen mögen. Assing hat es in der Zeitung angezeigt.9

Vorgestern von meinem Bruder Göthe in den Zeugnissen der Mitlebenden10 erhalten, ein Buch dessen Herausgabe er besorgt hat, und Göthen zum Geburtstag bestimmt ist. Große Freude über viel Treffliches darinnen besonders über die Briefe einer Ungenannten, die zum Tiefsten und Schönsten gehören was ich je ←11 | 12→gelesen habe, und in welchem ich meines Bruders Frau erkannt habe, so fühlt, versteht und würdigt sie Göthe. Auch ein Brief meines Bruders einen Besuch bei Göthen erzählend, habe ich mit Freude darin gefunden und erkannt.

Bei aller Verehrung, die ich für unsern großen Dichter hege, will es mir doch nicht rechte Freude machen daß mein Bruder ihm dieses Rauchfaß mit Wohlgeruch angezündet, bereitet und hingestellt hat. Mir wäre es recht wenn ein Anderer es gethan hätte.

Heute bei Fanny mit Mama und den Kindern. Stiller friedlicher Tag. Das Wetter ungemein schön; die Kinder waren sehr froh. Dr. Heuckʼs11 Urtheil über ebenerwähntes Buch: „Das fehlt noch daß Göthe gleich einem Marktschreier sich günstige und lobpreisende Zeugnisse geben läßt!“

174. RM und DA an KAV, 29.8.1823, BJK SV 23

Theurer Karl!

Wie kurz war die Zeit Deines Hierseyns, wie schnell verfloß sie, und doch wie innig erfreut bin ich Dich gesehen zu haben. Die freudigsten Erinnerungen an die heitern Stunden tönen noch lange nach, und durchbeben mit sanfter Rührung die Seele. Die Örter welche wir mit einander besuchten haben mir dadurch eine neue Weihung erhalten. Dennoch haben wir noch manches versäumt zu besuchen! Du mußt künftigen Sommer wieder kommen, mit Rahel kommen, dann wollen wir manches nachholen; und leichter läßt sich dann auf Verlängerung der gegebenen Zeit hoffen. Möchte der Aufenthalt hier Dich so freundlich angesprochen haben daß Du Rahel bewegest sich zur Reise hierher zu entschließen, möchtest Du nur halb so sehr davon erfreut worden seyn als ich es durch Deine Anwesenheit war, so könnte ich mich wohl so freudiger Hoffnung überlassen. Sehr angenehm überrascht hat mich Dein übersandtes Buch für Göthe; es wird ihm gewiß Freude machen, zumal da es Manches enthält was zu dem Bestgesagten über ihn gehört, und ihm nicht bekannt geworden ist. Was von Deiner Frau darin ist, habe ich an seiner Tiefe und Trefflichkeit bald erkannt, es gehört mit zu dem Schönsten, was ich je über ihn gehört habe. Auch was von ←12 | 13→Dir darin enthalten war mir sehr erfreulich zu finden, so wie manches andere tiefe sinnige Wort.

Auch Fanny läßt Dir freundlichst dafür danken, die Briefe der Ungenannten, meinte sie auch, seyen das Beste, so wie diese verständen Göthe nur Wenige. Sie grüßt Dich bestens, und behält es sich vor Dir nächstens selbst zu schreiben. Solm hat eine Anstellung hier in der Nähe, bei Siemers in Schiffbank als Verwalter, was ihr sehr viel Freude macht, und was sie mir gleichfalls auftrug Dir zu schreiben.

Von unserm Steinheim ist nun auch sein großes Gedicht: Sinai erschienen. Es enthält viel Schönes, manches ganz Vorzügliches, und freut mich ganz ungemein, denn da meine Erwartung nicht sehr groß war sah ich seinem Erscheinen mit einiger Beklommenheit entgegen, um so erfreulicher und überraschender war der Eindruck, und meine Freude nicht geringe es laut und mit Wahrheit loben zu können. Die Rezensenten von Metier werden wohl genug daran zu tadeln finden, aber auch Vieles müssen gelten lassen. Er hat mir ein Exemplar für Dich gegeben das Du ehestens erhalten sollst, und läßt Dich bestens grüßen.

[…]

[Zuschrift DAs:] Theuer Freund! Deine Nähe hat mir sehr wohl gethan und mein Inneres auf mannigfache Art angeregt. Aus einzelnen angegebnen Anreden läßt sich besser und wahrer der Seele Tiefe erkennen, als aus großen, breiten Gesprächen. – […] Ludmilla hat seit Deiner Abreise bedeutende Fortschritte im Gehen gemacht, sie ging mit mir nach dem Dammthorwalle, nahe dem Thore, nach dem Steinweg. Ich übe sie im Gehen ein, und gehe deshalb gerne mit ihr allein, denn gewöhnt von Betty getragen zu werden, will sie, wenn Betty sie begleitet, bald aufsitzen […].

Steinheims Gedicht, von dem ich, weil mir diese Gattung der Poesie nicht zusagt, nicht viel erwartete, hat mich freudig überrascht, zumal sind mir die menschlichen Verhältnisse darin durch ihr reines idyllisches Wesen höchst anziehend, in der Wüste selbst bin ich erquickt. Erhebt er sich aber in den Himmel, und läßt die Engel Gesang und Musik machen, so verschmachte ich vor Unbehagen und langer Weile. Mir ist das Werk im Ganzen sehr lieb, es ist ein treuer Abdruck und Erguß der reinen Seele meines lieben, rein menschlichen Freundes. Eine kurze Anzeige davon habe ich im Hamburgischen Correspondenten gemacht. Wenn Du meine Ansicht über seinen Werth theilest, so thue mir den Gefallen, lieber Freund, und zeige es in einem Blatte an. […]

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175. Aus den Tageblättern von RM, September 1823, BJK SV 17

Dienstag den 2ten. Zeymers12 und Madam Reissig13 auf ihrem Garten besucht. Ich wurde mit herzlicher Freude empfangen. Eigene Gefühle und Betrachtungen durchzogen mich an einem Orte, der mir einst so heimisch, lieb und vertraut war. Es sind gerade nun zwanzig Jahre daß ich in diese Familie eintrat, und als Gesellschafterin der Md. Reissig vier stille friedliche Jahre in ihr verlebte, in mancherlei Fleiß und geistiger Entwicklung. Md. Reissig, eine reine gute liebevolle Seele, wie gegen jedermann, auch gegen mich voll Güte, fand Gefallen an meinem geistigen Streben und ließ mir freien Spielraum. Meine ersten Gedichte, die in jene Zeit fallen, hatten ihren ganzen Beifall. Mit Interesse ließ sie sich von mir manches schöne Buch vorlesen, und versuchte einzugehen in neue Ideen und Ansichten was in ihren Jahren (sie war damals sechzig) keine Kleinigkeit war, aber von ihrem lebhaften regsamen Geiste zeugte, der sich bis jetzt, da sie nun achtzig Jahre zählt, ungeschwächt erhalten hat. Ich stand im erfreulichsten Verhältniß mit der ganzen Familie; Hekker,14 Bruder der Md. Reissig, vier Jahre älter wie sie, war mir ganz besonders zugethan. Er hatte nicht ihren Geist und war weniger unterrichtet wie sie, aber er hatte dieselbe Güte, dieselbe Heiterkeit, die sich zuweilen bei ihm in etwas derben Späßen ausließ, und auch mich hat er oft aber immer gutmüthig geneckt, was mir zuweilen nur seiner Derbheit wegen unangenehm war und mich in Verlegenheit setzte. Seine Tochter Tinchen,15 mit Zeymer16 verheiratet, eine schätzbare wenn auch in der äussern Erscheinung ganz unscheinbare Frau, von wenig Worten und Geräusch, stand mir am fernsten, obgleich wir in besten Vernehmen mit einander waren. Sie sang mit angenehmer seelenvoller Stimme zum Klavier, was mir ←14 | 15→oft inniges Vergnügen machte. Zumstegs Maria Stuart17 trug sie mit ungemeinem Gefühl vor, und das bekannte Wiegenlied des Prinzen Louis von Preußen, habe ich seitdem nicht wieder mit so viel Anmuth singen gehört. Zeymer, ihr Mann, eine gesunde, kräftige Natur ganz zu seinem Geschäfte als Zuckerfabrikant passend, thätig und arbeitsam, voll Liebe zu seiner Frau und seinen Kindern, heiter und gutmüthig, stand mit mir im heitersten freundlichsten Verhältnisse, und bewies mir stets Achtung und Theilnahme. Den Kreis dieser ehrenwerthen Familie schlossen Zeymers vier anmuthige gutgeartete Kinder, zwei Mädchen und zwei Knaben, wovon ein Mädchen und ein Knabe in der Zeit geboren wurde die ich unter diesen guten Menschen verlebte, und welche den beiden alten Leuten, dem Großvater Hekker18 und der Tante Reissig, zu großer Freude und Belebung gereichten, und von ihnen mit liebevoller Zärtlichkeit behandelt wurden. Auch ich war den Kindern sehr zugethan, spielte öfters mit ihnen, schnitt ihnen aus, und machte Spatziergänge mit ihnen. Md. Reissig wohnte allein mit mir und einem Dienstmädchen in einer anmuthigen Gegend vor dem Steinthore, freundlich und nett, wie sie denn überhaupt ungemein auch auf äussere Ordnung, Reinlichkeit und Nettigkeit hielt. Des Sommers brachten wir die halbe Woche bei Zeymers auf ihrem Garten zu, der vor dem Dammthore auf dem Grindel lag, und lebten so in steter Abwechslung die mir ganz angenehm war. – Mit unendlicher Rührung gedenke ich heute jener Zeit aus den Tagen meiner Jugend, mein Geist war so jugendlich frisch, aufstrebend und thätig, meine Brust so voll Sehnsucht und Hoffnung, mein ganzes Wesen so dem Leben erschlossen. Thränen des Dankes und der Freude entströmen mir in diesem Augenblick über so unendlich viel Schönes Liebes und Herrliches das mir alles seitdem geworden! –

Md. Reissig allein erscheint mir als diejenige die sich in diesem Zeitraum von zwanzig Jahren am wenigsten verändert hat, ihre Geisteskräfte scheinen mir ungeschwächt, wenn auch die körperlichen ein wenig abgenommen haben. Hekker jedoch ist kümmerlich geworden, seine Heiterkeit soll sich verloren haben, seine Sprache ist unverständlich und kaum kann er allein noch gehn. Sein Haar, vor zwanzig Jahren noch voll und braun, ist grau und dünn geworden. Ungemein rührt es mich zu bemerken wie die alte Liebe und Zuneigung zu mir in dem erlöschenden Greise sich noch regt und lebendig ist. Zeymers sind nun ernste ←15 | 16→Eltern und bejahrte Leute; die Kinder alle erwachsen. Tine Zeymer spielt und singt nicht mehr, sie freut sich nun an dem Gesang und Spiel ihrer Kinder.

Den 7ten Sept. Mondtags ließ uns mein Schwager Assur sagen seine Tochter Malchen19 sey Braut geworden. Wir gingen den Abend hin um Glück zu wünschen; durchaus eckeliger Abend. Die ganze Familie war dort, nebst andern Glückwünschenden. Auch der Bräutigam Simon Cramer, Hofjuwelier aus Braunschweig.20 Empörend ist die Art und Weise wie sich die Mädchen verheirathen, die widrigste Kuppelei findet dabei Statt. Malchen hat den Menschen einige mal nur gesehn. Ich wurde den ganzen Abend hindurch durch Rohheit, ungezogenes Wesen und Unarten, wenn auch nicht gegen mich verübt, so verletzt, daß ich für lange genug davon habe.

[…]

Freitag den 12. Sept. Heine ist mit seiner Schwester Lottchen, die an von Emden verheirathet ist,21 bei mir gewesen. Ein freundliches, zartes, jugendliches und freundliches Weibchen. Er wünschte ihr meine Bekanntschaft. Assing fühlt sich nicht von Heine angezogen. Er hält ihn für eitel und egoistisch. Er ist noch sehr jung, es ist möglich daß die günstige Aufnahme seiner Gedichte, wozu auch Freunde etwas beigetragen haben mögen, durch lobpreisende Anzeigen ihn ein wenig eitel gemacht haben; das wird sich geben. Mit einigem Talent ist man bei solcher Jugend leicht anmaßend. Die Liebe und Innigkeit mit welcher er an seiner Schwester hängt gefällt mir an ihm. Sonst habe ich noch kein rechtes Urtheil über ihn, aber er interessirt mich noch je als Dichter und als Landsmann.

Mondtag d. 15 Sept. […] Den ersten Band der Corinna22 geendet. Assing liest sie mir vor. Ein vortreffliches Werk. Frau von Stael und Lady Morgan23 sind für ←16 | 17→mich die ausgezeichnetsten Schriftstellerinnen. Auch die Memoiren Marmontels24 haben wir angefangen. Die Schilderung seiner Jugendjahre ist sehr schön, sehr innig und rührend.

Den 17 Sept. Mit ungemeiner Freude heute Chateauneuf wiedergesehn der von Italien wieder zurückgegehrt ist. Das vergangene dort verlebte Jahr erscheint ihm wie ein Traum, nur zu schnell mußte er Rom wieder verlassen, und ein erhöhendes Leben und Weben wieder aufgeben, um dem Willen seines Stiefvaters Genüge zu leisten, der ihm keinen längern Aufenthalt in Italien verstatten wollte.

176. RM an KAV, 17.9.1823, BJK SV 23

Mein theurer Karl!

Du erhältst die Bücher mit der fahrenden Post weil wegen des geringen Gewichtes Frachtfuhrleute das Packet nicht mitnehmen dürfen, auch wird es, wie man uns hier sagt, kaum teurer kommen. Steinheims Gedicht folgt mit dabei, er hat es mir für Dich mit herzlichem Gruße gegeben.

Heine ist von Cuxhaven wieder zurück gekommen und hat uns besucht. Auch seine Schwester Lottchen von Emden hat er mir zugeführt, ein freundliches, zartes und jugendliches Weibchen. Er geht von hier nach Lüneburg, und ist wahrscheinlich schon abgereist, und später, zum Frühjahr, glaube ich, nach Göttingen um dort noch ein Jahr zu studieren.

Eine große Freude war es uns heute Chateauneuf wiederzusehn, der aus Italien angelangt ist. Das vergangene dort verlebte Jahr erscheint ihm wie ein Traum, und nur zu bald mußte er Rom wieder verlassen und ein erhöhtes Leben wieder aufgeben, um dem Willen seines Vaters Genüge zu leisten, der ihm keinen längern Aufenthalt in Italien verstatten wollte. Mit Weissenburg, der noch in Rom geblieben ist, scheint er zerfallen, wenigstens läßt die Art und Weise wie er von ihm sprach, und nicht sprach dieses vermuthen. Der arme Mensch wird hier eine große Leere und einen merklichen Abstand nach dem Leben in Italien empfinden; um so mehr da es ihm in der ersten Zeit an Arbeit fehlen wird, was auch die eifrigste selbstgewählte Beschäftigung nicht ersetzen kann.

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Wir sind Gottlob alle wohl, besuchen bald Rainville’s Garten bald Winterhude, bald den Stintfang, und wünschen jedesmal Du möchtes bei uns seyn. Wir grüßen Dich und Deine Frau herzlich.

In inniger Liebe Deine

RosaMaria Assing.

177. RM an Friedrich Wilhelm Gubitz, 4.11.1823, wohl Konzept, BJK SV 16

Hamburg den 4ten Nov.

1823.

Geehrter Herr Professor!25

Ich nehme mir die Freiheit bei Ihnen anzufragen ob die beifolgende kleine Erzählung26 Ihnen für den Gesellschafter sich zu eignen scheint? und wäre in diesem Falle für die Folge zu ähnlichen Beiträgen für Ihr geschätztes Blatt bereit. Es würde mich freuen nach mehreren Jahren in welchen die literarische Welt nichts von mir vernommen hat, zuerst wieder in einem Kreise zu erscheinen in welchem ich meinen Bruder, werthe Freunde und Freundinnen finde, und noch manche geschätzte Namen sehe, mit welchen zusammen zu treffen nicht anders als angenehm für mich seyn kann.

Was das Honorar anbetrifft, so bleibt dieß gänzlich Ihrer Billigkeit überlassen.

Sollten Sie jedoch mit Zusendungen der Art überhäuft seyn, oder diese Erzählung sich nicht für Ihr Blatt eignend finden, so bitte ich Sie mir dieselbe zurück zu senden.

Details

Seiten
586
Erscheinungsjahr
2022
ISBN (PDF)
9783631866740
ISBN (ePUB)
9783631866757
ISBN (Hardcover)
9783631844854
DOI
10.3726/b19005
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Dezember)
Schlagworte
Rosa Maria Assing, geb. Varnhagen Sammlung Varnhagen Briefkultur nach 1800 Edition von Handschriften Salonkultur Kulturelles Leben Hamburgs
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 586 S., 16 s/w Abb.

Biographische Angaben

Paweł Zarychta (Band-Herausgeber:in)

Paweł Zarychta studierte Germanistik in Krakau und Erlangen und promovierte über Lessings Rhetorik im antiquarischen Streit. Derzeit ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanische Philologie an der Jagellonen-Universität Krakau tätig. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Briefkultur im 19. Jahrhundert, Editionsphilologie, Sammlung Varnhagen sowie Übersetzungstheorie und -praxis.

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Titel: Selbstinszenierung und Gedächtnisbildung