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Hochrechnung des Vermögensschadens beim Abrechnungsbetrug

von Markus Gierok (Autor:in)
©2021 Dissertation 260 Seiten

Zusammenfassung

Die Ermittlung des durch systematischen Abrechnungsbetrug verursachten Vermögensschadens stellt die Rechtspraxis vor massive Probleme, da hierfür die Aufklärung abertausender Abrechnungspositionen erforderlich sein kann. Seit mehr als drei Jahrzehnten behelfen sich Staatsanwaltschaften und Gerichte daher damit, lediglich eine Stichprobe an Positionen zu untersuchen und das Ergebnis anschließend mittels mathematisch-statistischer Methoden hochzurechnen. Der Autor analysiert die Notwendigkeit dieser Vorgehensweise und misst diese an den verfassungs- und einfachrechtlichen Anforderungen an das Strafverfahren.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • A. Einleitung
  • B. Der Sachverhalt der Entscheidung BGHSt 36, 320
  • C. Gang der Untersuchung
  • Erstes Kapitel: Grundlagen
  • A. Die gesetzliche Krankenversicherung
  • I. Die Beteiligten der gesetzlichen Krankenversicherung
  • 1. Der gesetzlich Krankenversicherte
  • 2. Die Krankenkassen
  • 3. Die Kassenärztlichen Vereinigungen
  • 4. Der Vertragsarzt
  • II. Rechtliche Grundlagen der vertragsärztlichen Abrechnung und Vergütung
  • 1. Die Gesamtvergütung
  • a. Die morbiditätsbedingte Gesamtvergütung
  • b. Der nicht vorhersehbare Behandlungsbedarf
  • c. Die Einzelleistungsvergütung
  • 2. Der Bundesmantelvertrag
  • 3. Die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses
  • 4. Der Einheitliche Bewertungsmaßstab
  • 5. Die regionale Euro-Gebührenordnung
  • 6. Der Honorarverteilungsmaßstab
  • 7. Zusammenfassung
  • III. Ablauf und Prüfung einer vertragsärztlichen Abrechnung
  • 1. Erstellung und Einreichung der Sammelerklärung
  • 2. Die Prüfung der vertragsärztlichen Abrechnung
  • a. Sachlich-rechnerische Richtigkeitsprüfung
  • (1) Prüfung der sachlichen und rechnerischen Richtigkeit
  • (2) Plausibilitätsprüfung
  • (3) Rechtsfolgen
  • b. Wirtschaftlichkeitsprüfung
  • (1) Durchschnittsprüfung
  • (2) Einzelfallprüfung
  • c. Prüfung durch die Krankenkassen
  • 3. Erlass des Honorarbescheids
  • B. Abrechnungsmanipulationen als Betrug gemäß § 263 Abs. 1 StGB
  • I. Abrechnung fingierter Leistungen
  • 1. Objektiver Tatbestand des § 263 Abs. 1 StGB
  • a. Täuschung über Tatsachen
  • b. Irrtum
  • c. Vermögensverfügung
  • (1) Vermögen der Kassenärztlichen Vereinigung
  • (2) Vermögen der übrigen an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte
  • (a) Morbiditätsbedingte Gesamtvergütung
  • (aa) Falschabrechnung innerhalb des zugewiesenen Volumens
  • (bb) Falschabrechnung außerhalb des zugewiesenen Volumens
  • (b) Einzelleistungsvergütung und nicht vorhersehbarer Behandlungsbedarf
  • (c) Dreiecksbetrug
  • d. Vermögensschaden
  • 2. Subjektiver Tatbestand
  • 3. Fazit
  • II. Abrechnung nicht persönlich erbrachter Leistungen
  • 1. Das Gebot der persönlichen Leistungserbringung
  • 2. Täuschung, Irrtum und Vermögensverfügung
  • 3. Vermögensschaden
  • a. Die streng formale Betrachtungsweise der Rechtsprechung
  • b. Ansichten in der Literatur
  • (1) Kompensation durch Befreiung vom Vergütungsanspruch
  • (2) Kompensation durch Erhalt einer werthaltigen Gegenleistung
  • (3) Kompensation durch Befreiung von Behandlungsanspruch
  • (4) Kompensation durch Ersparnis von Aufwendungen
  • c. Stellungnahme
  • 4. Subjektiver Tatbestand
  • 5. Fazit
  • III. Abrechnung unwirtschaftlicher Leistungen
  • 1. Täuschung, Irrtum und Vermögensverfügung
  • 2. Vermögensschaden
  • a. Unwirtschaftliche Behandlung trotz kostengünstigerer Alternative
  • b. Unwirtschaftliche Behandlung bei fehlender kostengünstigerer Alternative
  • 3. Subjektiver Tatbestand
  • 4. Fazit
  • C. Der Ablauf einer Schadenshochrechnung
  • I. Die Stichprobenerhebung
  • 1. Der Stichprobenumfang
  • 2. Das Stichprobenziehungsverfahren
  • 3. Repräsentativität durch Zufallsauswahl
  • II. Die rechtliche Würdigung der Stichprobe
  • 1. Beweiswürdigung und rechtliche Würdigung während des Ermittlungsverfahrens
  • 2. Beweiswürdigung und rechtliche Würdigung in der Hauptverhandlung
  • 3. Fazit
  • III. Die Bildung des Beanstandungsanteils
  • IV. Zeitliche Homogenität der Beanstandungsquote
  • 1. Der Chi-Quadrat-Homogenitätstest
  • a. Die Aufstellung der Hypothesen
  • b. Die Prüfung anhand eines Signifikanzniveaus
  • c. Keine Anwendung bei extrem hohem bzw. niedrigem Beanstandungsanteil
  • 2. Die Interpretation der Testergebnisse
  • a. Wahrscheinlichkeit eines Fehlers erster Art
  • b. Wahrscheinlichkeit eines Fehlers zweiter Art
  • c. Fazit
  • V. Die Ermittlung der Beanstandungsquote
  • 1. Die Berechnung bei zeitlich homogener Beanstandungsquote
  • 2. Die Berechnung bei zeitlicher Inhomogenität
  • VI. Die quartalsbezogene Berechnung des Vermögensschadens
  • 1. Grundfall
  • 2. Berücksichtigung von Budgetüberschreitungen
  • a. Vollständiger Punktwertverfall
  • b. Abgestufter Punktwert
  • VII. Initiativen zur automatisierten Schadenshochrechnung
  • Zweites Kapitel: Alternativen zur und Beweggründe für eine Schadenshochrechnung
  • A. Alternativen zur Schadenshochrechnung
  • I. Verständigung, § 257c StPO
  • 1. Voraussetzungen der Verständigung
  • a. Verständigung mit Geständnis
  • b. Verständigung ohne Geständnis
  • 2. Fazit
  • II. Verfahrenseinstellung nach § 153 StPO oder § 153a StPO
  • 1. Einheitlichkeit der Einstellungsentscheidung
  • 2. Vollständige Verfahrenseinstellung
  • a. Einstellung nach § 153 Abs. 1 StPO
  • b. Einstellung nach § 153a StPO
  • 3. Fazit
  • III. Verfahrensbeschränkung nach § 154 StPO und § 154a StPO
  • 1. Absehen von der Verfolgung einzelner Quartalsabrechnungen nach § 154 StPO
  • a. Besondere Strafzumessungsumstände bei Abrechnungsbetrug
  • b. Hypothetisches Gewicht der Strafe für die einzustellenden Quartale
  • 2. Beschränkung der Verfolgung auf die erhobene Stichprobe nach § 154a StPO
  • a. Abtrennbare Teile einer Tat oder einzelne von mehreren Gesetzesverletzungen
  • b. Hypothetisches Gewicht der auszuscheidenden Abrechnungspositionen
  • 3. Fazit
  • IV. Zusammenfassung
  • B. Weitere potenzielle Motive für die Hochrechnung des Vermögensschadens
  • I. Prävention
  • II. Einziehung des Erlangten bzw. des Werts des Erlangten
  • 1. Schätzung von Umfang und Wert des Erlangten gemäß § 73d Abs. 2 StGB
  • 2. Absehen von der Einziehung
  • 3. Fazit
  • III. Synergien zum sozialrechtlichen Verfahren
  • 1. Die Hochrechnung bei der eingeschränkten Einzelfallprüfung
  • a. Unterschiedliche Anforderungen an die Stichprobe
  • b. Unterschiedliche Hochrechnungsmethode
  • 2. Weitere Anwendungsbereiche der Schätzung im sozialrechtlichen Verfahren
  • 3. Fazit
  • IV. Zusammenfassung
  • Drittes Kapitel: Die Zulässigkeit der Schadenshochrechnung im Strafverfahren
  • A. Die derzeitige Gesetzeslage
  • I. Keine ausdrückliche Ermächtigungsgrundlage
  • II. Vorschriften des Sachverständigenbeweises
  • III. Anwendung der strafgesetzlichen Schätzklauseln
  • a. Direkte Anwendung der §§ 40 Abs. 3, 73d Abs. 2, 74c Abs. 3 StGB
  • b. Analoge Anwendung der §§ 40 Abs. 3, 73d Abs. 2, 74c Abs. 3 StGB
  • (1) Planwidrige Regelungslücke
  • (2) Vergleichbarkeit der Interessenlagen
  • (3) Fazit
  • IV. Ergebnis
  • B. Vereinbarkeit der Schadenshochrechnung mit den verfassungsrechtlichen und einfachrechtlichen Vorgaben für das Strafverfahren
  • I. Die Vereinbarkeit mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Schadensermittlung im Landoswky- und Al-Quaida-Beschluss
  • 1. Zusammenfassung der Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts
  • 2. Übertragung der Anforderungen auf die Schadenshochrechnung
  • a. Verbot der Schadensschätzung bei möglicher konkreter Schadensermittlung
  • b. Differenzierung zwischen Tatsachenfeststellung und Tatsachenbewertung
  • 3. Ergebnis
  • II. Die Vereinbarkeit der Schadenshochrechnung mit der freien richterlichen Beweiswürdigung gemäß § 261 StPO
  • 1. Grundlagen
  • a. Grundlagen der richterlichen Überzeugungsbildung
  • b. Maßstab der richterlichen Überzeugung
  • 2. Statistische Hochrechnung menschlichen Verhaltens als Verstoß gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze
  • a. Schadenshochrechnung als Anlehnung an den Indizienbeweis
  • b. Die unmittelbar bedeutsame Tatsache
  • (1) Gleichförmigkeit des Abrechnungsfehlverhaltens
  • (2) Zeitlich homogene Beanstandungsquote keine Voraussetzung zuverlässiger Schadenshochrechnung
  • (3) Folgerung für den Begriff der Gleichförmigkeit
  • c. Die mittelbar bedeutsamen Tatsachen
  • (1) Abrechnungsbetrug als auf massenhafte Begehung angelegte Straftat
  • (2) Umfang und Dauer des Abrechnungsfehlverhaltens
  • (3) Gleichbleibendes „Tatmuster“
  • (4) Homogenität der Beanstandungsquote
  • (5) Aussage des Praxispersonals
  • (6) Einlassung des Beschuldigten
  • (7) Fazit
  • d. Die richterliche Überzeugung vom Vorliegen der einzelnen mittelbar bedeutsamen Umstände
  • (1) Geltung der allgemeinen Grundsätze der richterlichen Überzeugungsbildung
  • (2) Die Überzeugung von der zeitlichen Homogenität der Beanstandungsquote
  • (3) Fazit
  • e. Die Gesamtwürdigung der mittelbar bedeutsamen Umstände
  • f. Die richterliche Überzeugung vom hochgerechneten Garantieschaden
  • (1) Geltung der allgemeinen Grundsätze richterlicher Überzeugungsbildung
  • (2) Betrachtung des angelegten mathematisch-statistischen Sicherheitsniveaus
  • (3) Einbeziehung des Risikos etwaiger Fehlklassifikationen
  • (a) Vornahme eines Sicherheitsabschlags
  • (b) Mathematisch-statistische Berücksichtigung während der Hochrechnung
  • (c) Konsequente Anwendung des Zweifelssatzes
  • (d) Keine maßgebliche Minderung des Sicherheitsniveaus durch das Risiko von Fehlklassifikationen
  • (4) Fazit
  • g. Weitere Einwände gegen die Schadenshochrechnung
  • h. Zusammenfassung
  • 3. Verbot der Extrapolation
  • III. Die Vereinbarkeit der Schadenshochrechnung mit dem Amtsermittlungsgrundsatz gemäß § 244 Abs. 2 StPO
  • 1. Die Reichweite des Amtsermittlungsgrundsatzes
  • a. Gegenstand des Amtsermittlungsgrundsatzes
  • b. Umfang des Amtsermittlungsgrundsatzes
  • c. Einschränkung der Reichweite des Amtsermittlungsgrundsatzes durch prozessökonomische Erwägung
  • (1) Verbot der überschießenden Sachverhaltsaufklärung
  • (2) Weitergehende Beschränkung der Amtsermittlungspflicht durch prozessökonomische Erwägungen
  • (a) Weitergehende Beschränkung des Gegenstands des Amtsermittlungsgrundsatzes
  • (b) Weitergehende Beschränkung des Umfangs des Amtsermittlungsgrundsatzes
  • (c) Fazit
  • 2. Schadenshochrechnung als Modifikation des Amtsermittlungsgrundsatzes
  • a. Bewertung bei verfügbaren Beweismitteln
  • (1) Modifikation des Gegenstands des Amtsermittlungsgrundsatzes
  • (2) Beschränkung des Umfangs des Amtsermittlungsgrundsatzes
  • b. Bewertung bei nicht vorhandenen Beweismitteln
  • c. Gleichstellung der kapazitätsbedingt unmöglichen Beweiserhebung mit der Konstellation nicht vorhandener Beweismittel
  • 3. Ergebnis
  • IV. Die Vereinbarkeit der Schadenshochrechnung mit dem Fair-Trial-Grundsatz
  • 1. Die Vereinbarkeit der Schadenshochrechnung mit der Unschuldsvermutung
  • a. Beeinträchtigung des Schweigerechts des Beschuldigten durch Umkehr der Beweislast
  • (1) Anwendbarkeit der Unschuldsvermutung auf Strafzumessungstatsachen
  • (2) Hochrechnung als gesetzlicher Nachweis des Garantieschadens
  • (3) Bewertung bei fehlendem gesetzlichen Nachweis des Garantieschadens
  • b. Der weitergehende Gewährleistungsgehalts des Art. 6 Abs. 2 EMRK
  • 2. Ergebnis
  • C. Lösungsvorschlag: Ermächtigungsgrundlage für die Schadenshochrechnung
  • I. Schadenshochrechnung als Verstoß gegen die Menschenwürde
  • 1. Gefahr schuldunangemessen scharfer Sanktionierung
  • 2. Verletzung der Menschenwürde
  • II. Schadenshochrechnung als Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip
  • III. Ergebnis
  • Viertes Kapitel: Schadenshochrechnung beim privatärztlichen Abrechnungsbetrug
  • A. Die private Krankenversicherung
  • I. Die Beteiligten in der privaten Krankenversicherung
  • II. Die privatärztliche Vergütung
  • B. Abrechnungsmanipulationen als Betrug gemäß § 263 Abs. 1 StGB
  • I. Täuschung
  • II. Irrtum
  • III. Vermögensverfügung
  • IV. Vermögensschaden
  • V. Vorsatz und Bereicherungsabsicht
  • VI. Zwischenergebnis
  • C. Zulässigkeit der Schadenshochrechnung
  • I. Irrtumsfeststellung
  • II. Grenzen der Rechtskraft
  • III. Unterschiedliche Leistungsvergütung
  • IV. Ergebnis
  • Zusammenfassung, Ausblick und Bewertung
  • A. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse
  • I. Schadenshochrechnung im vertragsärztlichen Bereich
  • II. Schadenshochrechnung im privatärztlichen Bereich
  • B. Ausblick und Bewertung
  • Literaturverzeichnis

←16 | 17→

Einleitung

A. Einleitung

Die durch Ärzte verübte Wirtschaftskriminalität geriet in der jüngeren Vergangenheit neben den klassischen Feldern der Tötungs- und Körperverletzungsdelikte zunehmend in den Fokus der Staatsanwaltschaften.1 Diese Entwicklung nahm ihren Ausgang mit der „Entdeckung“ des Abrechnungsbetrugs in den 1980er Jahren.2 Als weiteres strafrechtliches Instrument gegen ärztliche Delinquenz gesellte sich im Jahr 2003 die Vertragsarztuntreue hinzu.3 Die in der Folge unternommenen Versuche, korruptem Verhalten von Vertragsärzten mittels der §§ 299, 331 f. StGB zu begegnen, scheiterten zwar zunächst an der Grundsatzentscheidung des Großen Senats des Bundesgerichtshofs.4 Der Gesetzgeber reagierte jedoch auf diese Strafbarkeitslücke5, indem er im Jahr 2016 die Straftatbestände der §§ 299a f. StGB einführte. Einer der Gründe für die ausgedehnte Anwendung bzw. Schaffung im Kern wirtschaftsstrafrechtlicher Tatbestände dürfte in der Erkenntnis liegen, dass dem Gesundheitswesen durch wirtschaftliches Fehlverhalten von Ärzten jedes Jahr erheblicher Schaden zugefügt wird.6 Teilweise wird davon ausgegangen, dass der in Deutschland jährlich durch Korruption, Abrechnungsbetrug und Missbrauch im Gesundheitswesen verursachte Schaden bis zu EUR 20 Mrd. beträgt.7 Allein der in Strafverfahren erfasste, durch Abrechnungsbetrug verursachte Schaden belief sich 2015 auf rund EUR 70 Mio.8, 2016 auf rund EUR 29 Mio.9 und 2017 auf rund EUR 120 Mio.10 ←17 | 18→Dabei ist nicht nur der Gesamtschaden, sondern auch der durch die einzelnen Fälle jeweils verursachte Schaden hoch. Eine Untersuchung von Homann für die Jahre 2002 bis 2005 hat gezeigt, dass der von Vertragsärzten je Betrugsfall versursachte Schaden bei durchschnittlich etwa EUR 47.000 lag.11

Die vorgenannte Akzentverschiebung12 in der Strafverfolgungspraxis spiegelt sich in der wissenschaftlichen Debatte wider, wobei deren Schwerpunkt lange auf der Untersuchung des vertragsärztlichen Abrechnungsbetrugs lag, der nach wie vor Hochkonjunktur hat.13 erschienen in den letzten Jahren – neben zahlreichen Aufsätzen14 – diverse Monographien. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen des vertragsärztlichen Abrechnungsbetrugs darf daher zwar mittlerweile als fortgeschritten bezeichnet werden. Es verbleiben jedoch auch heute noch Fragestellungen, denen bislang nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Eine dieser lediglich vereinzelt erörterten Thematiken findet sich an der Schnittstelle des Betrugstatbestands zum Strafverfahrensrecht, nämlich bei der Ermittlung der Höhe des durch Abrechnungsmanipulationen verursachten Vermögensschadens. Die wissenschaftliche Diskussion der Schadensfeststellung konzentriert sich vorwiegend auf die materiell-rechtliche Problematik der streng formalen Betrachtungsweise, die der Bundesgerichtshof aus dem Sozialrecht für das Strafrecht übernommen hat.15 Selten thematisiert wird hingegen die Bestimmung der Höhe eines Vermögensschadens durch mathematisch-statistische Hochrechnung,16 obgleich diese seit der etwa drei Jahrzehnte zurückliegenden Grundsatzentscheidung des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs17 verbreitete18 bzw. anerkannte19 Praxis ←18 | 19→ist.20 Veröffentlichte Gerichtsentscheidungen, die explizit die Hochrechnung als Methode zur Bestimmung der Schadenshöhe benennen, stellen jedoch die Ausnahme dar.21Allenfalls die in manchen Entscheidungen beachtliche Höhe der festgestellten Schäden bzw. der als fehlerhaft erkannten Abrechnungspositionen dürfte vermuten lassen, dass diese Zahlen anhand von Hochrechnungen ermittelt wurden.22

Ausgangspunkt für die Heranziehung mathematisch-statistischer Methoden zur Schadensermittlung war eine systemische Problemstellung des vertragsärztlichen Abrechnungsbetrugs, mit der sich Ermittlungsbehörden und Tatgerichte bei ihren Aufklärungsbemühungen konfrontiert sahen und weiterhin sehen. Die individuellen vertragsärztlichen Leistungen werden nur geringfügig vergütet, sodass sich vereinzelte fehlerhafte Abrechnungen kaum merklich auf die Honorarverteilung auswirken.23 Die Erfahrung zeigt, dass Abrechnungsbetrug im System der gesetzlichen Krankenversicherung oftmals systematisch begangen wird, da sich nur durch massenhafte Falschabrechnung wirtschaftlich nennenswerte Einnahmen erzielen lassen.24 Führt man sich die hohe Schadenssumme vor Augen, die durch Abrechnungsbetrug durchschnittlich verursacht wird, erhält man eine erste Vorstellung von dem Aufwand, den die Aufklärung den Ermittlungsbehörden und Tatgerichten bei dem Verdacht des systematischen Abrechnungsbetrugs durch eine Totalerhebung25 abverlangt. Die Ermittlung mittels konventioneller Beweisführung würde die Überprüfung abertausender26 ←19 | 20→abgerechneter Positionen anhand der Verlesung von Urkunden und der Vernehmung von Patienten erfordern.27 Diesen Aufwand kann die Justiz unter Berücksichtigung ihrer derzeitigen Personalausstattung bei realistischer Betrachtung nicht leisten.28 Um das Ausmaß des verursachten Schadens zumindest näherungsweise festzustellen, bedienten sich die Staatsanwaltschaft und das Landgericht Frankenthal am Instrumentenkoffer der Statistik: Nachdem sie eine Stichprobe an Abrechnungspositionen überprüft hatten, rechneten sie deren Ergebnis mithilfe zweier Sachverständiger auf die Gesamtzahl der im Tatzeitraum abgerechneten Positionen hoch.29

Der Bundesgerichtshof billigte diese Hochrechnung des verursachten Vermögensschadens, soweit das Landgericht die betroffenen Quartalsabrechnungen mittels Stichprobe überprüft hatte.30 Obgleich die verbreitete Terminologie „Schadenshochrechnung“ vermuten lässt, es sei lediglich eine objektive Größe, nämlich die Höhe des verursachten Vermögensschadens berechnet worden, ging die Entscheidung weit darüber hinaus.31 Der Bundesgerichtshof bestätigte mit seiner Entscheidung zugleich, dass mittels statistischer Methoden festgestellt werden darf, wie oft sich ein Mensch auf eine bestimmte Weise verhalten hat: In erster Linie hatte das Landgericht nämlich die Zahl der unberechtigt geltend gemachten Abrechnungspositionen hochgerechnet.32 Diese beruhten jeweils auf ←20 | 21→einer Handlung des abrechnenden Arztes33, der jede Abrechnungsposition einzeln in seine Quartalsabrechnung eingepflegt hatte.34

Soweit ersichtlich, ist die Hochrechnung menschlichen Verhaltens auf den Bereich des vertragsärztlichen Abrechnungsbetrugs beschränkt geblieben und darf damit weiterhin als Sonderdogmatik des vertragsärztlichen Abrechnungsbetrugs bezeichnet werden.35 In der Literatur bestehen zwar Bestrebungen, den Anwendungsbereich von Hochrechnungen zu erweitern. So wird einerseits dafür plädiert, die Anzahl der verursachten Irrtümer in massenhaften Betrugsfällen durch die Erhebung einer repräsentativen Stichprobe und anschließende Hochrechnung festzustellen.36 Diese Bestrebungen, die anders als die Schadenshochrechnung nicht das Verhalten des Täters, sondern der Opfer betreffen, konnten sich indessen bislang nicht durchsetzen.37 Ferner wird überlegt, die Schadenshochrechnung auch bei Abrechnungsmanipulationen von (ambulanten) Pflegediensten anzuwenden.38 Soweit ersichtlich, hat auch dieser Gedanke trotz Forderungen seitens der Krankenkassen39 und Ermittler40 bislang keinen Anklang in der Praxis gefunden. Insofern kommt der erwähnten Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1989 auch heute noch eine Sonderstellung zu, die eine eingehendere Untersuchung rechtfertigt.

B. Der Sachverhalt der Entscheidung BGHSt 36, 320

Die Untersuchung beginnt mit der Darstellung des Sachverhalts der Grundsatzentscheidung. Dem Angeklagten wurde jahrelanger Abrechnungsbetrug ←21 | 22→vorgeworfen. Nach den Feststellungen des Landgerichts Frankenthal hatte er selbst oder sein von ihm veranlasstes Personal auf den zwecks Abrechnung eingereichten Krankenscheinen41 Behandlungen eingetragen, welche er nicht oder nicht in dem behaupteten Umfang erbracht hatte.

Die Staatsanwaltschaft hatte bereits im Ermittlungsverfahren 62 Patienten zufällig ausgewählt, die der Angeklagte in den Jahren 1984 und 1985 behandelt hatte. Durch Vernehmung dieser Patienten sowie des Praxispersonals stellte das Landgericht in der Hauptverhandlung fest, wie oft der Angeklagte bei diesen Patienten Behandlungsleistungen zu Unrecht auf den Krankenscheinen eingetragen und abgerechnet hatte. Aus den gewonnenen Erkenntnissen ermittelte das Landgericht die „Beanstandungsquote“, die das Verhältnis zwischen der Zahl der zu Unrecht abgerechneten Leistungen zur Zahl der bezüglich dieser Patienten insgesamt abgerechneten Leistungen ausdrückt. Dabei wurde die Beanstandungsquote jeweils gesondert für die einzelnen Arten von Behandlungsleistungen bestimmt. Mit sachverständiger Hilfe rechnete das Landgericht den verursachten Schaden sodann unter Beachtung der Streuungsbreite der Stichprobe auf alle Patienten hoch, die der Angeklagte in den Jahren 1984 und 1985 behandelt hatte. Auf diesem Weg stellte das Landgericht einen Schaden in Höhe von DM 100.469,54 fest, wobei es Besonderheiten, die sich aus der unterschiedlichen Kassenzugehörigkeit der Patienten ergaben, und Einzelfälle berücksichtigte, die eine Hochrechnung nicht gestatteten. Die so ermittelte „Vertrauensuntergrenze“ bewertete das Landgericht mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,5 Prozent als mathematisch-statistisch richtig.

Für die Jahre 1981 bis 1983 hatte das Landgericht keine Patienten vernommen. Die Sachverständigen legten dem Landgericht jedoch dar, dass die Hochrechnung unter der Voraussetzung gleichartigen Fehlverhaltens des Angeklagten auch für diesen Zeitraum durchgeführt werden könne. Dem folgend erstreckte das Landgericht die für die Jahre 1984 und 1985 ermittelte Beanstandungsquote auf die Jahre 1981 bis 1983. Zur Feststellung der Gleichartigkeit des Abrechnungsverhaltens des Angeklagten hob das Landgericht auf die Angaben seines Praxispersonals ab.

Ohne bereits an dieser Stelle die rechtliche Würdigung im Einzelnen zu erläutern, kann vorweggenommen werden, dass der Bundesgerichtshof die ←22 | 23→Schadensberechnung für die Jahre 1984 und 1985 als rechtsfehlerfrei anerkannte, die Extrapolation auf die Jahre 1981 bis 1983 jedoch zurückwies.

C. Gang der Untersuchung

Die Untersuchung der Vereinbarkeit der Schadenshochrechnung mit den rechtlichen Vorgaben für das Strafverfahren baut auf zahlreichen Grundlagen auf. Zu diesen zählen die Struktur der gesetzlichen Krankenversicherung, der Ablauf und die Prüfung einer vertragsärztlichen Abrechnung sowie die rechtlichen Grundlagen der Erfassung von Abrechnungsmanipulationen als Betrug im Sinne des § 263 Abs. 1 StGB. Daneben lässt sich diese Untersuchung ohne ein Grundverständnis des mathematisch-statistischen Prozesses einer Schadenshochrechnung nicht sinnvoll betreiben. Diese Grundlagen werden daher im Anschluss an die Einleitung dargestellt.

Im darauffolgenden Kapitel wird der Frage nachgegangen, ob die Schadenshochrechnung in Fällen des systematischen Abrechnungsbetrugs zwingend ist. werden zunächst weitere denkbare prozessuale Möglichkeiten zur Reaktion auf das beschriebene systemische Problem erwogen und auf ihre Tragfähigkeit hin untersucht. Im selben Kapitel wird sodann auf potenzielle Vorzüge der Schadenshochrechnung gegenüber den untersuchten Alternativen eingegangen, die eine Schadenshochrechnung in der Praxis zumindest nahelegen könnten.

Im nächsten Kapitel folgt die Untersuchung der Vereinbarkeit der Schadenshochrechnung mit den rechtlichen Vorgaben für das Strafverfahren. Diese beginnt mit der aktuellen Gesetzeslage, das heißt mit der Frage nach einer gesetzlichen Grundlage der Schadenshochrechnung. Anschließend wird die Schadenshochrechnung auf ihre Kompatibilität mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen aus der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an die Schadensermittlung untersucht. In einfach gesetzlicher Hinsicht wird sodann erörtert, ob die Schadenshochrechnung den Anforderungen der freien richterlichen Beweiswürdigung gemäß § 261 StPO, des Amtsermittlungsgrundsatzes nach § 244 Abs. 2 StPO sowie dem Fair-Trial-Grundsatz des Art. 6 EMRK genügt.

Die Bearbeitung fokussiert sich dabei auf die Schadenshochrechnung als Sonderfall einer Schätzung.42 Bei der Schadenshochrechnung wird zunächst ←23 | 24→eine Stichprobe erhoben, aus deren Ergebnis anschließend Rückschlüsse auf die Grundgesamtheit gezogen werden. Die allgemeine Schätzung eines durch Abrechnungsbetrug verursachten Schadens kommt hingegen ohne Stichprobe aus, beispielsweise weil sie auf der glaubhaften Einlassung des Beschuldigten zum Ausmaß der fehlerhaften Abrechnung43 oder auf ermittelten Durchschnittswerten anderer Ärzte derselben Fachrichtung beruht44.

Der vorgestellten Entscheidung des Bundesgerichtshofs folgend, die ausschließlich die vertragsärztliche Abrechnung thematisierte, beschränkt sich die Untersuchung zunächst auf den Abrechnungsbetrug in der gesetzlichen Krankenversicherung. Obgleich die Schadenshochrechnung, soweit ersichtlich, bislang im privatärztlichen Bereich keine Anwendung gefunden hat, wird in einem weiteren Kapitel der Frage nachgegangen, ob sich die Schadenshochrechnung – unter den seitens des Bundesgerichtshofs formulierten Anforderungen – zur Quantifizierung des durch privatärztlichen Abrechnungsbetrug verursachten Vermögensschadens eignet.


1 Vgl. Nestler, JZ 2009, 984 f.

2 Herffs, Der Abrechnungsbetrug des Vertragsarztes, S. 1; Schroth/Joost, in: Roxin/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 181; vgl. Erlinger/Warntje/Bock, in: MAH Strafverteidigung, § 50 Rn. 152.

3 Schneider, Vertragsarztuntreue, S. 21; vgl. BGHSt 49, 17.

4 BGHSt 57, 202.

5 BT-Drs. 18/6446, S. 27.

6 Auf die wirtschaftliche Bedeutung des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung verweist Schneider, Vertragsarztuntreue, S. 21 f.

7 Transparency International Deutschland e.V., Transparenzmängel, Korruption und Betrug im deutschen Gesundheitswesen, 2008, S. 5.

8 Bundeslagebild Wirtschaftskriminalität 2015, S. 5.

9 Bundeslagebild Wirtschaftskriminalität 2016, S. 5.

10 Bundeslagebild Wirtschaftskriminalität 2017, S. 5.

11 Homann, Betrug in der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 235.

12 Grzesiek, Wirtschaftsdelikte im Vertrags- und Privatarztsektor, S. 19.

13 Saliger, medstra 2019, 258.

14 Vgl. Saliger, medstra 2019, 258, 259 sowie die dort aufgeführten Nachweise.

15 vgl. nur Grzesiek, Wirtschaftsdelikte im Vertrags- und Privatarztsektor, S. 129 f. sowie S. 63 ff. der vorliegenden Arbeit.

16 Schmidt, medstra 2017, 79 f.

17 BGH, Urt. v. 14.12.1989 – 4 StR 419/89 = BGHSt 36, 320.

18 Allerdings wird die Schadenshochrechnung laut des GKV-Spitzenverbands nicht in allen, sondern nur in wenigen Bundesländern praktiziert, vgl. GKV-Spitzenverband, Bericht des Vorstandes an den Verwaltungsrat – Arbeit und Ergebnisse der Stelle zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen, S. 13; Meseke, in: Arbeitsgemeinschaft Medizinrecht, Institut für Rechtsfragen der Medizin, Düsseldorf, Aktuelle Entwicklungen im Medizinstrafrecht, S. 65, 83.

19 Saliger, medstra 2019, 258, 260.

20 Vgl. Schmidt, medstra 2017, 79, 80; Traut, AusR 2002, 164; Schneider/Reich, HRRS 2012, 267.

21 Explizit angeführt wird die Schadenshochrechnung nur vom LG Saarbrücken, Urt. v. 19.05.2011 – 4 KLs 11/09.

Details

Seiten
260
Erscheinungsjahr
2021
ISBN (PDF)
9783631867907
ISBN (ePUB)
9783631870143
ISBN (MOBI)
9783631870150
ISBN (Hardcover)
9783631860106
DOI
10.3726/b19219
DOI
10.3726/b19278
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (November)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 260 S., 4 s/w Abb.

Biographische Angaben

Markus Gierok (Autor:in)

Markus Gierok studierte Rechtswissenschaften an der Universität zu Köln. Nach Absolvierung des Rechtsreferendariats im Bezirk des Oberlandesgerichts Köln trat er in die auf Medizin- und Wirtschaftsstrafrecht spezialisierte Sozietät Tsambikakis & Partner ein. Parallel zu seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt verfasste er die vorliegende Dissertation.

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Titel: Hochrechnung des Vermögensschadens beim Abrechnungsbetrug