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Die Disponibilität des Pflichtteils im familienrechtlichen Kontext

von Verena Henrike Wallrabenstein (Autor:in)
©2021 Dissertation 366 Seiten

Zusammenfassung

Pflichtteilsverzichtsverträge werden in aller Regel vereinbart, um den Erben vor unberechenbaren und die Erbmasse möglicherweise schädigenden Ansprüchen zu schützen. Dadurch wird oftmals auch versucht, die Unternehmensnachfolge zu sichern. Bei diesen Verträgen sind allerdings nicht selten Fälle einer gestörten Vertragsparität möglich, die denen bei Eheverträgen vergleichbar zu sein scheinen. In Rechtsprechung und Literatur wird daher seit geraumer Zeit diskutiert, ob die zu Eheverträgen entwickelte sog. Inhalts- und Ausübungskontrolle auch bei Pflichtteilsverzichtsverträgen Anwendung finden soll. Mit Blick auf diese Diskussion untersucht die Arbeit die grundrechtlich gewährleistete Disponibilität des Pflichtteils.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • § 1 Einleitung / Einführung in die Thematik
  • A. Problemaufriss / Die Entscheidung des OLG München vom 25. Januar 2006
  • B. Meinungs- und Forschungsstand
  • I. Problemdarstellung
  • II. Gegner einer dem Ehevertragsrecht entsprechenden Inhaltskontrolle
  • III. Befürworter einer dem Ehevertragsrecht entsprechenden Inhaltskontrolle
  • C. Ziel und Gang der Untersuchung
  • § 2 Erb- und Pflichtteilsverzicht
  • A. Begrifflichkeiten – historischer Rückblick
  • I. Ein geschichtlicher Rückblick – Entstehungsgeschichte im BGB
  • 1. Erbverzicht
  • 2. Pflichtteilsverzicht
  • II. Begriff / Sinn und Zweck des Erb- und Pflichtteilsverzichts
  • 1. Inhalt des Erb- und Pflichtteilsverzichts
  • a) Arten des Erb- bzw. Pflichtteilsverzichts
  • aa) Umfassender Erbverzicht sowie Teilverzicht und Beschränkungen beim Erbverzicht
  • bb) Arten des (isolierten) Pflichtteilsverzichts
  • cc) Verzicht auf das gesetzliche Erbrecht unter Vorbehalt des Pflichtteilsrechts
  • b) Beteiligte des Erb- und Pflichtteilsverzichts
  • c) Allgemeine Inhalte des Erb- und Pflichtteilsverzichts
  • aa) Anforderung an die Erklärung
  • bb) Verzichtsgegenstand
  • cc) Umfang des Erb- und Pflichtteilsverzichts
  • d) Zeitliche Begrenzungen / Aufhebungsvertrag
  • aa) Erbverzicht
  • bb) Pflichtteilsverzicht
  • 2. Rechtsnatur des Erb- und Pflichtteilsverzichts
  • a) Abstraktes Verfügungsgeschäft
  • b) Kausalgeschäft
  • c) Einordnung als Rechtsgeschäft unter Lebenden auf den Todesfall und Konsequenzen
  • 3. Der entgeltliche Erb- und Pflichtteilsverzicht
  • a) Abfindung durch Zuwendung unter Lebenden und durch Zuwendung von Todes wegen
  • b) Vertragliche Gestaltungsmöglichkeiten angesichts des Abstraktionsprinzips
  • 4. Der unentgeltliche Erb- und Pflichtteilsverzicht
  • 5. Wirkungen des Erb- und Pflichtteilsverzichts
  • B. Motivation von Familienangehörigen zum Abschluss von Erb- oder Pflichtteilsverzichten
  • C. Kombination von familien- und erbrechtlichen Elementen
  • D. Zwischenergebnis
  • § 3 Möglichkeiten des kodifizierten Rechts zur Kontrolle von Pflichtteilsverzichten
  • A. Sittenwidrigkeit, § 138 BGB
  • B. Störung der Geschäftsgrundlage
  • I. Erbverzicht
  • 1. Anwendbarkeit der Regeln über Fehlen und/oder Wegfall der Geschäftsgrundlage
  • a) Begrifflichkeiten
  • b) Differenzierung zwischen abstraktem und kausalem Erbverzicht unter Beachtung des Risikocharakters des Erbverzichts
  • aa) Die Literaturmeinungen
  • bb) Die Rechtsprechung
  • cc) Zeitliche Grenzen
  • dd) Stellungnahme
  • 2. Rechtsfolgen
  • II. Pflichtteilsverzicht
  • 1. Anwendbarkeit der Regeln über Fehlen und/oder Wegfall der Geschäftsgrundlage
  • 2. Rechtsfolgen
  • C. Anfechtung, §§ 119 ff. BGB
  • I. Anfechtung wegen Inhalts- und Erklärungsirrtums gemäß § 119 Abs. 1 BGB
  • II. Anfechtung wegen Eigenschaftsirrtums gemäß § 119 Abs. 2 BGB
  • 1. Irrtum über den Wert des Vermögens
  • 2. Irrtum über die künftige Vermögensentwicklung
  • 3. Irrtum über die wertbildenden Merkmale und/oder über den Bestand des Vermögens
  • III. Anfechtung wegen arglistiger Täuschung oder Drohung gemäß § 123 BGB
  • IV. Zeitliche Begrenzungen
  • V. Anfechtung des abstrakten Erbverzichts
  • D. Abschließender Charakter der kodifizierten Kontrollmöglichkeiten?
  • I. Das Verhältnis der einzelnen Rechtsinstitute untereinander
  • II. Grenze der gesetzlichen Schutzmechanismen und Anwendungsbereich einer Inhaltskontrolle
  • § 4 Grundsätze der Rechtsprechung zur Kontrolle von Eheverträgen
  • A. Die Entwicklung des Instrumentariums „Inhaltskontrolle“ bis heute
  • I. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 2001
  • II. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 11. Februar 2004
  • 1. Kein unverzichtbarer Mindestgehalt an Scheidungsfolgen und Ehevertragsfreiheit
  • 2. Begrenzung der Ehevertragsfreiheit durch den Schutzzweck der gesetzlichen Regelungen
  • 3. Kernbereichslehre und Abstufungen im Rang der Scheidungsfolgen
  • 4. Zweistufige Inhaltskontrolle
  • III. Die zweistufige Inhaltskontrolle heute
  • 1. Allgemeines
  • 2. Wirksamkeitskontrolle am Maßstab des § 138 BGB
  • a) Tatbestandsvoraussetzungen
  • b) Beurteilungszeitpunkt
  • c) Rechtsfolgen
  • aa) Teilnichtigkeit oder Gesamtnichtigkeit bei Eheverträgen
  • bb) Salvatorische Klauseln – Erhaltungs- und Ersetzungsklauseln
  • 3. Ausübungskontrolle, § 242 BGB
  • a) Tatbestandsvoraussetzungen
  • b) Beurteilungszeitpunkt
  • c) Rechtsfolgen
  • aa) Anpassung
  • bb) Salvatorische Klauseln
  • 4. Die wichtigsten Kriterien der Inhaltskontrolle von Eheverträgen
  • a) Die Lehre von den Ehetypen
  • b) Grundsatz der ehelichen Solidarität
  • c) Ehebedingte Nachteile und der Kompensationsgedanke
  • d) Die Kernbereichslehre des Bundesgerichtshofs
  • e) Weitere Komponenten
  • f) Das Verhältnis der einzelnen Kriterien – Gesamtschau
  • 5. Zusammenfassung
  • IV. Inhaltskontrolle von Scheidungsfolgenvereinbarungen
  • B. Dogmatische Abgrenzung zu anderen Rechtsinstituten
  • I. Ergänzende Vertragsauslegung
  • II. Störung der Geschäftsgrundlage
  • 1. Allgemeine Voraussetzungen – Abgrenzung
  • 2. Die Rechtsprechung
  • 3. Die Literaturmeinungen
  • 4. Ergebnis
  • III. Allgemeine Inhaltskontrolle außerhalb des Familienrechts
  • IV. Rechtsmissbrauch
  • § 5 Übertragung der ehevertraglichen Rechtsprechung auf den Pflichtteilsverzicht
  • A. Überblick über die Rechtsprechung zur Wirksamkeit von Pflichtteilsverzichten
  • I. „Vorgaben“ der Rechtsprechung vor dem Urteil des BGH vom 19. Januar 2011
  • 1. Einleitung
  • 2. Die Hohenzollern-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22. März 2004
  • a) Sachverhalt
  • b) Entscheidungsgründe
  • c) Auswirkungen der Entscheidung
  • 3. Das Urteil des OLG Nürnberg vom 12. November 2002
  • a) Sachverhalt
  • b) Entscheidungsgründe
  • c) Bewertung der Entscheidung
  • 4. Das Urteil des OLG München vom 25. Januar 2006
  • 5. Das Urteil des LG Ravensburg vom 31. Januar 2008
  • a) Sachverhalt
  • b) Entscheidungsgründe
  • c) Bewertung der Entscheidung
  • 6. Weitere Gerichtsentscheidungen im Überblick
  • a) Das Urteil des OLG Koblenz vom 13. Januar 2004
  • b) Das Urteil des LG Düsseldorf vom 02. März 2007
  • II. Das Urteil des BGH vom 19. Januar 2011 zum Pflichtteilsverzicht eines behinderten Sozialleistungsbeziehers
  • 1. Auswirkungen des Sozialrechts unter Berücksichtigung der Parallele zu Unterhaltsverzichten zu Lasten der Sozialhilfe
  • 2. Das Urteil des BGH vom 19. Januar 2011
  • a) Sachverhalt
  • b) Entscheidungsgründe
  • c) Umfang der Entscheidung – ein obiter dictum für Pflichtteilsverzichte unter Ehegatten und anderen Familienangehörigen?
  • aa) Charakteristika von Behindertentestamenten sowie Anspruchsübergänge nach dem SGB
  • bb) Meinungsstand in der Rechtsprechung und im Schrifttum
  • aaa) Der Pflichtteilsverzicht von Sozialleistungsbeziehern
  • bbb) Überleitung von Pflichtteilsansprüchen
  • ccc) Ausschlagung und Überleitungsfähigkeit
  • cc) Fazit
  • B. Prüfungsmaßstab – Verfassungsrechtliche Anforderungen
  • I. Privatautonomie, Testierfreiheit und Pflichtteil
  • 1. Kurzer historischer Seitenblick und verfassungsrechtliche Aspekte
  • 2. Die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs
  • a) Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 19. April 2005
  • b) Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 19. Januar 2011
  • II. Inhalt der grundrechtlichen Erbrechtsgarantie
  • 1. Die Drittwirkung von Grundrechten im Privatrecht als unverzichtbarer Mindestgehalt
  • 2. Das Pflichtteilsrecht im Spannungsverhältnis zwischen Testierfreiheit und Verwandtenerbrecht
  • 3. Die negative Erbfreiheit
  • 4. Der Schutzzweckgedanke
  • C. Kriterien und Schlussfolgerungen für eine etwaige grundrechtskonforme Inhaltskontrolle
  • I. Die Funktionen des Pflichtteils in Rechtsprechung und Literatur
  • 1. Geschichtliche Aspekte – Zweck des Pflichtteils nach den Gesetzesmaterialien
  • a) Pflichtteilsbegründung in den Gesetzesmaterialien
  • b) Ausfluss des § 1615 Abs. 1 BGB auf das Pflichtteilsverständnis
  • c) Fazit
  • 2. Die Intention des Reformgesetzes / Gesetz zur Änderung des Erb- und Verjährungsrechts
  • 3. Rechtsvergleichende Aspekte
  • 4. Funktionenvielfalt und Rechtfertigung des Pflichtteilsrechts
  • a) Streuungseffekt durch Verteilungsfunktion
  • b) Familienschutzfunktion
  • c) Selbstbindung des Erblassers
  • d) Teilhabefunktion und Familiengebundenheit des Vermögens
  • aa) Gleichwertigkeit der Funktionsansätze
  • bb) Familiengebundenheit und Familiensolidarität
  • cc) Vermögensweitergabe aufgrund Generationenvertrages
  • dd) Familiärer Teilhabegedanken
  • e) Versorgungs- und Alimentationscharakter – Unterhaltsfunktion
  • 5. Zwischenergebnis
  • II. Überprüfung der Funktion des Pflichtteils unter besonderer Berücksichtigung einfachgesetzlicher Normen
  • 1. § 1586 b BGB
  • a) Problemdarstellung / Ansatzpunkte
  • b) Gesetzeshistorischer Hintergrund und Rechtswirklichkeit
  • aa) Entstehungsgeschichte im BGB
  • bb) Das Ehegesetz von 1938
  • cc) Das Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts von 1976
  • dd) Fazit
  • c) Die Wirkung des Pflichtteilsverzichts
  • aa) Wohl noch herrschende Meinung – Einheitslösung
  • bb) Im Vordringen befindliche Ansicht
  • cc) Eigener Standpunkt
  • 2. Bedarfsunabhängigkeit des Pflichtteils und das Kriterium der Unterhaltsbedürftigkeit des Pflichtteilsberechtigten
  • 3. Die Bestimmungen über die Pflichtteilsentziehung, §§ 2333 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 BGB
  • 4. Der Unterhaltsanspruch der nichtehelichen Mutter gemäß § 1615 l Abs. 3 S. 4 BGB
  • 5. Der Unterhaltsanspruch des § 1371 Abs. 4 BGB
  • 6. Zwischenergebnis
  • III. Reichweite der Disponibilität des Pflichtteils
  • 1. Die gesetzliche Wertung des § 1614 Abs. 1 und des § 2346 Abs. 1 BGB
  • 2. Die Wertung des § 1933 S. 1 und 2 BGB
  • 3. Die Wirkung des § 2349 BGB
  • 4. Der Charakter des Pflichtteilverzichts als aleatorisches Rechtsgeschäft ohne Orientierung an Bedarfslagen
  • 5. Die Wechselwirkung von Unterhalt und Pflichtteil im Rahmen des Bedarfs und der Leistungsfähigkeit im Unterhaltsrecht
  • 6. Das Kriterium der Rechtssicherheit
  • 7. Die Reform des Pflichtteilsrechts
  • 8. Unterhaltsreform und Disponibilität
  • 9. Der Pflichtteilsverzichtsvertrag als Verfügungsvertrag mit Kausalgeschäft
  • 10. Das Kriterium der Mehrbelastung unter sozialrechtlichen, insolvenzrechtlichen und steuerrechtlichen Aspekten
  • a) Das Kriterium der Mehrbelastung
  • b) Aspekte des Sozialrechts
  • aa) Unterhaltsrechtliche Sichtweise
  • bb) Pflichtteilsrechtliche Sichtweise
  • aaa) Allgemeine sozialrechtliche Perspektive und Pflichtteilsverzicht
  • bbb) Vergleichbarkeit mit den Sozialhilfeträger benachteiligenden Unterhaltsverzichten
  • cc) Sozialrechtliche Gesamtbetrachtung
  • c) Insolvenzrechtliche Aspekte
  • d) Steuerrechtliche Aspekte
  • e) Fazit
  • 11. Zwischenergebnis
  • IV. Besondere Parallelen von Pflichtteilsanspruch und Scheidungsfolgenansprüchen
  • 1. Kernbereichslehre im Erbrecht?
  • 2. Der Zugewinnausgleichsanspruch
  • D. Die Vereinbarung von Ehevertrag und Pflichtteilsverzicht in einer Urkunde – „Infektion“ des Pflichtteilsverzichts
  • E. Exkurs: Schlussfolgerungen für eine Inhaltskontrolle bei bloßem Erbverzicht unter Vorbehalt des Pflichtteils
  • F. Ergebnis: Konsequenzen für eine Wirksamkeits- und Ausübungskontrolle von Pflichtteilsverzichtsverträgen
  • Literaturverzeichnis
  • Rechtsprechungsnachweise

←22 | 23→

§ 1 Einleitung / Einführung in die Thematik

A. Problemaufriss / Die Entscheidung des OLG München vom 25. Januar 2006

Mit Urteil vom 25.01.2006 hat das OLG München mit dem sog. „Wildmoser-Urteil“1 eine Entscheidung erlassen, die seitdem insbesondere in der Kautelarjurisprudenz für einige Verwirrung gesorgt und zusammen mit einigen wenigen weiteren gerichtlichen Entscheidungen zu einer noch am Anfang stehenden Diskussion2 geführt hat. Während ein Teil der Literatur3 das Urteil in der Konsequenz als wegweisend für eine neue Ära der Übertragbarkeit der Rechtsprechung zur Inhaltskontrolle von Eheverträgen auf die Überprüfung von Pflichtteilsverzichtsverträgen bezeichnet, begreifen es andere4 lediglich als Denkanstoß, sich die Frage dieser Übertragbarkeit im vorbenannten Sinne zu stellen, im Ergebnis jedoch mit einer klaren Absage. Die Entscheidung des OLG München soll im Folgenden beispielhaft aufzeigen, wie die Gerichte in vergleichbaren Fällen argumentieren und welche Schwerpunkte in der Beurteilung des Sachverhalts gesetzt werden. Die Rechtsprechung selbst liefert hier bisher nur wenige bis keine Erkenntnisse5. Inzwischen hat sich die Problematik durch eine Entscheidung des BGH aus Januar 2011 nochmals verschärft, zumindest jedoch thematisch insoweit erweitert, als nunmehr auch Aspekte des Sozialrechts, insbesondere das Nachrangprinzip eine gesteigerte Rolle spielen6. Erstmals musste der BGH nämlich Stellung zu der Frage beziehen, ob der Pflichtteilsverzicht eines behinderten Sozialleistungsbeziehers sittenwidrig ist7. Fraglich ist, ob die Entscheidung präjudizielle Wirkung hat für sonstige Pflichtteilsverzichte, die nicht von behinderten Beziehern von staatlichen Hilfen, sondern ←23 | 24→beispielsweise zwischen voll erwerbstätigen Ehegatten oder auch zwischen Eltern und Kindern vereinbart werden.

Dem von dem OLG München in zweiter Instanz rechtskräftig8 entschiedenen Fall lag der folgende Sachverhalt zugrunde: Im Jahre 1980 schloss der damals 19jährige nichteheliche Sohn, der Kläger, mit seinem vermögenden Vater, dem beklagten „Erblasser9“ einen Erbverzichtsvertrag gegen Abfindung. Die nichteheliche Zwillingsschwester des Klägers, Zeugin des hiesigen Verfahrens, schloss einen inhaltsgleichen Vertrag mit ihrem Vater ab. Zuvor hatte der Beklagte lediglich jahrelang Kindesunterhalt an die ehemals mit ihm befreundete Mutter gezahlt, persönlicher Kontakt zwischen Kindern und Vater bestand jedoch erst ab dem 17. Lebensjahr der Zwillinge. Nicht ganz unerheblich für die Motivation der Vertragsabschlüsse war die Tatsache, dass der späteren Ehefrau des Beklagten die Existenz dieser vorehelichen Kinder bisher verschwiegen worden war. Vor diesem Hintergrund ließ sich der Beklagte von seinem Rechtsanwalt insbesondere zu der Höhe einer etwaig zu zahlenden Abfindung beraten. In Anlehnung an § 1934 d BGB a.F.10 wurde zunächst anhand der Unterhaltszahlungen ein Abfindungsbetrag errechnet, der den Zwillingskindern als Abfindung von dem Rechtsanwalt des Beklagten vorgeschlagen werden sollte. Im Folgenden kam es zu einer Besprechung zwischen dem Anwalt und den Kindern. Der Beklagte nahm daran nicht teil. Notariell beurkundet wurde daraufhin pro Kind ein Erbverzicht gegen Abfindung in Höhe von 19.500,- DM.

Das OLG München stellte sodann schlicht, ohne auf die vom BGH entwickelte Rechtsprechung zur ehevertraglichen Inhaltskontrolle einzugehen, fest, dass der Erbverzichts- und Abfindungsvertrag gemäß § 138 Abs. 1 wegen Umstandssittenwidrigkeit nichtig sei. Der Senat folgte insoweit der Rechtsprechung des BGH, wonach sich die Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts auch aus einer Gesamtwürdigung ergeben könne, was dann der Fall sei, wenn es nach seinem aus der Zusammenfassung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu entnehmenden Gesamtcharakter mit den guten Sitten nicht zu vereinbaren sei. Dabei ging das Gericht davon aus, die Parteien hätten nicht etwa einen gemäß dem damals noch gültigen § 1934 d a.F. vorgesehenen vorzeitigen Erbausgleich geschlossen, sondern einen Erb- und Pflichtteilsverzichtsvertrag gemäß § 2346 bezogen auf den Erbersatzanspruch des Klägers gemäß § 1934 a a.F. Ohne an dieser Stelle näher auf die Normen ←24 | 25→einzugehen, kommt es jedoch entscheidend darauf an, dass zum einen § 2346 in Ansehung des Erbersatzanspruchs aus § 1934 a a.F. keine Abfindung vorsieht, ein unentgeltlicher Verzicht also zweifellos möglich gewesen wäre. Zum anderen hat der Beklagte der Berechnung der Abfindung fälschlicherweise den von ihm als einschlägig angenommenen § 1934 d Abs. 1 Satz 1 a.F. zugrunde gelegt, dies war der pauschalierte Unterhaltsbetrag. Die Summe von 8.000,- DM wurde dann den Zwillingen als das rechnerische Ergebnis der erbrechtlichen Anteile für den Fall des Versterbens des Vaters im damaligen Zeitpunkt unterbreitet. Dies war jedoch grob falsch, da ihnen in diesem angenommenen Fall ein Anspruch gemäß § 1934 a a.F. zugestanden hätte. Dieser Erbersatzanspruch orientiert sich jedoch an der wahren Vermögenslage des Erblassers und wäre weitaus höher gewesen11.

In der Urteilsbegründung wird weiter ausgeführt, der Kläger sei auch im Vergleich zu dem Beklagten als aufstrebendem Geschäftsmann in einer schwächeren Position betroffen gewesen, einmal aufgrund seines Alters von 19 Jahren, zum anderen durch das Fehlen eines Ausgleichs durch einen fachkundig beratenden Rechtsanwalt. Diese schwächere Position des Klägers sei zudem verstärkt worden durch den objektiv von dem Beklagten veranlassten Effekt der Einschaltung des Rechtsanwalts als Inanspruchnahme eines neutralen sachverständigen Dritten, dem man aus Sicht des Klägers vertrauen durfte und musste.

Das OLG München hat die Revision unter Verweis auf das Vorliegen einer Einzelfallentscheidung, welche lediglich bereits höchstrichterlich entschiedene ←25 | 26→Rechtsfragen betreffe und deshalb keine grundsätzliche Bedeutung habe, nicht zugelassen. Die Entscheidung der Nichtzulassung ist bezeichnend für das ganz offensichtlich fehlende Problembewusstsein des erkennenden Senats. Nahezu jeder unbefangene Leser des Urteils dürfte zwar zu dem Ergebnis kommen, dass jedenfalls die erstrebte Rechtsfolge des zwischen Vater und Sohn geschlossenen Vertrages, nämlich ein wirksamer Erbverzicht dem schlichten Gerechtigkeitsempfinden widersprechen dürfte, dies sagt jedoch noch nichts über etwaige Begründungen aus. Das Gericht geht denn auch weder auf das rechtlich durchaus komplizierte Konstrukt des Erb- und Pflichtteilsverzichts ein, noch auf alternative Lösungswege. Stattdessen werden bei den gewählten Formulierungen und angestrebten Vergleichen Erinnerungen wach an eine Terminologie, von welcher der BGH in seiner Ehevertragsrechtsprechung regelmäßig Gebrauch macht12.

Der Erbverzicht bzw. der in der Praxis weit häufiger vorkommende isolierte Pflichtteilsverzicht auf der einen Seite und Verzichte auf gesetzliche Scheidungsfolgen auf der anderen Seite sind jedoch zunächst zwei voneinander grundsätzlich zu unterscheidende Rechtsinstitute. § 2303 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches garantiert dem durch Verfügung von Todes wegen von der Erbfolge ausgeschlossenen Abkömmling des Erblassers eine Mindestbeteiligung am Nachlass gegenüber den Erben. Diese Beteiligung besteht in Form des Pflichtteils in Höhe der Hälfte des gesetzlichen Erbteils, § 2303 Abs. 2. Gemäß Absatz 2 Satz 1 der Norm steht das Recht, den Pflichtteil von den Erben zu verlangen, auch den Eltern und dem Ehegatten des Erblassers zu, wenn diese durch Verfügung von Todes wegen von der Erbfolge ausgeschlossen sind13. Der Anspruch auf den Pflichtteil entsteht dabei nach § 2317 mit dem Erbfall. Er ist als schuldrechtlicher Anspruch auf eine Geldforderung gerichtet14, der sich gemäß § 1967 für die Erben als Nachlassverbindlichkeit darstellt.

Der Erblasser kann sich nicht ohne weiteres dieses Anspruchs „zugunsten seiner anderen Erben“, nämlich zur Reduktion der Nachlassverbindlichkeiten und zum Erhalt seiner vollen Testierfreiheit15 entledigen. Die gesetzlich zwingende wirtschaftliche Teilhabe am Nachlass ist nur bei einem wirksamen Ausschluss des ←26 | 27→Pflichtteils nicht mehr gegeben. Als solche Gründe kommen zunächst solche des einseitigen Ausschlusses in Betracht, auf welche der potentiell Pflichtteilsberechtigte keinen Einfluss hat, welche also einseitig ohne Mitwirkung des Pflichtteilsberechtigten zu einem Entzug des Pflichtteils führen. Dies sind die Entziehung des Pflichtteils durch letztwillige Verfügung gemäß § 2333 aufgrund Eingreifens von Entziehungsgründen und die Erklärung der Erbunwürdigkeit gemäß §§ 2345 Abs. 2, 143. Der Pflichtteilsberechtigte kann jedoch auch vertraglich gegenüber dem Erblasser im Wege der notariellen Beurkundung auf seinen Pflichtteil verzichten, § 2346 Abs. 2.

Vielfach wird der Verzichtende allerdings nur gegen Zahlung einer Abfindung bereit sein, auf seinen Pflichtteil zu verzichten, zumal er damit rechnen muss, dass der Erblasser von seiner wiedererlangten Testierfreiheit derart Gebrauch macht, dass dieser den Verzichtenden nunmehr enterbt, ihn mithin durch Verfügung von Todes wegen von der Erbfolge ausschließt oder im Wege der vorweggenommenen Erbfolge sein übriges Vermögen anderweitig überträgt, ohne dass der Pflichtteilsberechtigte daran partizipieren würde.

Kommt es insbesondere noch zu Lebzeiten des Erblassers zu Störungen innerhalb der Vertragsbeziehungen zwischen diesem und dem Verzichtenden, so stellt sich zum einen die Frage nach Korrekturmöglichkeiten. Zu denken ist hier etwa an Rückgewähr der empfangenen Leistungen aufgrund Nichtigkeit, Anfechtung, Rücktritt und Störung der Geschäftsgrundlage, mithin an kodifizierte Rechtsinstitute. Zum anderen wird äußerst kontrovers diskutiert, ob diese Rechtsinstitute als abschließend zu betrachten sind oder ob die Rechtsprechung zur Inhaltskontrolle16 von Eheverträgen ergänzend herangezogen werden kann und muss.

Eheverträge wurden zunächst überhaupt keiner Inhaltskontrolle unterzogen, weder von Gesetzes wegen noch aufgrund richterlicher Rechts(fort)bildung. So konstatierte der BGH noch 1996: „Für Vereinbarungen vermögensrechtlicher Art, die Ehegatten während der Ehe oder vorsorglich schon vor der Eheschließung für den Fall einer späteren Scheidung treffen, besteht grundsätzlich volle Vertragsfreiheit. … Die Schranken der Gültigkeit einer solchen Vereinbarung ergeben sich allein aus den §§ 134 – Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot – und 138 – Verstoß gegen die guten Sitten – BGB17.“

Mittlerweile existiert demgegenüber eine gewachsene, wenn auch recht junge Rechtsprechung18 mit einer ausgefeilten Kasuistik zu der Frage, anhand welcher ←27 | 28→Maßstäbe eine Überprüfung von Eheverträgen erfolgen darf. Die derart entwickelten Grundsätze zu den Scheidungsfolgenansprüchen führen im Ergebnis zwar zu einer Begrenzung der grundsätzlich gewährten Vertragsfreiheit unter Ehegatten, allerdings hält der BGH in seiner Grundsatzentscheidung in zunächst scheinbarem Gegensatz dazu fest, dass es einen unverzichtbaren Mindestgehalt von Scheidungsfolgen nicht gebe und meint damit, dass die gesetzlichen Regelungen über nachehelichen Unterhalt, Zugewinn und Versorgungsausgleich grundsätzlich der vertraglichen Disposition der Ehegatten unterliegen19. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Privatautonomie und Schutzzweck der gesetzlich geregelten Scheidungsfolgen löst der BGH zugunsten der schwächeren Vertragspartei auf und bedient sich dabei unter anderem dem ursprünglich aus dem Gesellschaftsrecht bekannten20 Instrumentarium der sog. Kernbereichslehre. Die Belastungen des einen Ehegatten wiegen dabei umso schwerer und die Belange des anderen Ehegatten bedürfen umso genauerer Prüfung, je unmittelbarer die vertragliche Abbedingung gesetzlicher Regelungen in den Kernbereich des Scheidungsfolgenrechts eingreift21. Bei der Ausrichtung am Kernbereich der Scheidungsfolgen wird für deren Disponibilität eine Rangabstufung vorgenommen, die sich in erster Linie danach bemisst, welche Bedeutung die einzelnen Scheidungsfolgenregelungen für den Berechtigten in seiner jeweiligen Lage haben. So soll etwa die Absicherung des laufenden Unterhaltsbedarfs für den Berechtigten in der Regel wichtiger als etwa der Zugewinn- oder der spätere Versorgungsausgleich sein22.

Die Überprüfung des Ehevertrages erfolgt in zwei Stufen: Vorrangig ist im Rahmen der Wirksamkeitskontrolle gemäß § 138 Abs. 1 der Vertrag auf seine Wirksamkeit hin zu überprüfen. Die Sittenwidrigkeit ist laut BGH auf „gravierende Verletzungen der sittlichen Ordnung23“ beschränkt. Maßgeblich sind dabei die Verhältnisse im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses. Sittenwidrigkeit kommt danach regelmäßig dann in Betracht, wenn Regelungen aus dem Kernbereich ganz oder zum erheblichen Teil abbedungen werden, keine ausreichende Kompensation und keine Rechtfertigung durch die Besonderheiten des Ehetyps vorliegen.

Details

Seiten
366
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631864074
ISBN (ePUB)
9783631864081
ISBN (MOBI)
9783631864098
ISBN (Hardcover)
9783631834077
DOI
10.3726/b18812
DOI
10.3726/b19098
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Oktober)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 366 S.

Biographische Angaben

Verena Henrike Wallrabenstein (Autor:in)

Verena H. Wallrabenstein absolvierte das Studium der Rechtswissenschaften und eine Fachspezifische Fremdsprachenausbildung im Anglo-Amerikanischen Recht an der Universität Trier. Seit 2007 ist sie als Rechtsanwältin im Familien- und Erbrecht sowie als Mediatorin tätig.

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