Erhabenheit und Kunstautonomie
Schillers Poetik des Unendlichen
Summary
Excerpt
Table Of Contents
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Vorwort
- Danksagung
- Inhaltsverzeichnis
- Abkürzungsverzeichnis
- 1. Einleitung
- 1.1. Gegenstand der Arbeit
- 1.2. Forschungsstand
- 1.3. Methodologische Vorbemerkung
- 2. Schillers Konzeption der Kunstautonomie
- 2.1. Schillers Auffassung von Kunstautonomie im Rahmen der Kunsttheorie im Deutschland des ausgehenden 18. Jahrhunderts
- 2.2. Schönheit als Freiheit in der Erscheinung: Dynamik und Subjektivierung des Schönen in den Kallias-Briefen
- 2.3. Schönheit und Freiheit in Über Anmut und Würde
- 2.4. Versöhnung im Ästhetischen?: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen
- 2.5. Der Widerspruch in Schillers Konzeption der Kunstautonomie
- 2.5.1. Aspekte des Widerspruchs
- 2.5.2. Kunst als Gewalt und das Verhältnis von Form und Stoff
- 5.2.3. Die Kunst und das Subjekt
- 2.5.4. Kunst und Leben
- 3. Schillers Konzeption des Erhabenen
- 3.1. Das Erhabene als Gewalt
- 3.1.1. Überblick der Geschichte des Begriffs
- 3.1.2. Die Gewalt des Erhabenen bei Longin, Kant und Schiller
- 3.2. Das Erhabene als Widerspruch
- 3.3. Darstellung des Undarstellbaren: Die Umdeutung der Mimesis
- 3.3.1. Darstellung als Problem des ästhetischen Diskurses
- 3.3.2. Nachahmung und Darstellung in den Kallias-Briefen
- 3.3.3. Theorie der dramatischen Nachahmung
- 3.3.4. Exkurs: Poetische gegen historische Wahrheit
- 3.3.5. Darstellung des Ideals: Über naive und sentimentalische Dichtung
- 3.4. Schein und Leben: Wo bleibt die Katharsis?
- 3.5. Kunstautonomie und Erhabenheit in Schillers Konzept vom „erhabenen Verbrecher“
- 3.6. Schillers „Große Sünder“
- 3.6.1. Jugenddramen
- 3.6.2. Wallenstein
- 3.6.3. Maria Stuart
- 3.6.4. Demetrius
- 3.6.5. Ästhetische Theorie als Maßstab für die poetische Praxis?
- 4. Zum Verhältnis von Erhabenheit und Kunstautonomie
- 4.1. Kunstautonomie als Erfahrung des Erhabenen
- 4.2. Fazit
- 5. Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
ÄE: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen
AW: Über Anmut und Würde
GV: Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen
NS: Über naive und sentimentalische Dichtung
TK: Über die tragische Kunst
ÜE: Über das Erhabene
ÜP: Über das Pathetische
VE: Vom Erhabenen
1. Einleitung
1.1. Gegenstand der Arbeit
Schillers Ästhetik ist nicht nur viel diskutiert, abgelehnt und glorifiziert, sondern seit den 80. Jahren vielfach aktualisiert worden. In letzter Zeit, vor allem nach der Wende zum 21. Jahrhundert, wird Schillers typische Beschreibung als eines Dichters der Versöhnung immer mehr durch das Bild des Dichters als eines Ästhetikers des Widerspruchs zurückgedrängt. Traditionelle Auslegungen der Schillerschen Ästhetik tendieren dazu, den Moment der Versöhnung durch ästhetische Erziehung zu betonen – eine Auflösung der gegensetzlichen Triebe im Menschen mittels einer autonomen Kunst, die ihrerseits als Loslösung der Kunst von jedem Wirklichkeitsbezug verstanden wird. Dagegen wird von der herkömmlichen Schillerinterpretation der Begriff des Erhabenen als Moment des zu überwindenden Widerspruchs der menschlichen Existenz ausgelegt, als eine übermenschliche Anstrengung des Willens, die über das Ästhetische hinausgeht und die Freiheit der Kunst gerade gefährdet.
Forschungsziel dieser Arbeit ist, dem Verhältnis zwischen den Konzeptionen des Erhabenen und der Kunstautonomie in Schillers Ästhetik nachzugehen, vor allem unter dem Aspekt ihrer widersprüchlichen Konstitution und ihrer Implikationen für die Darstellungsmöglichkeiten der Kunst; sowohl Schillers Postulat der Kunstautonomie, das ihn als Klassiker erscheinen lässt, als auch sein Begriff vom Erhabenen stellen wichtige Stufen einer Entwicklung dar, die zum modernen Kunstverständnis geführt hat. Beide treten mit einer Dynamik auf, welche von der Übertragung menschlicher Freiheitsaspirationen auf die Kunst Zeugnis ablegt und den für die Epoche zentralen Begriff der Form auf das Subjekt und das Objekt der Kunst anwendet. Beide haben Kritik wegen Weltfremdheit, manchmal sogar Unmenschlichkeit, veranlasst, während Schiller sie als Garanten der Menschlichkeit in einer Welt zunehmender Instrumentalisierung von Natur und Menschen konzipiert hat. Ihre gemeinsame Position im ästhetischen, politischen und anthropologischen Schema von Schillers Philosophie ist die – auf jeden Fall prekäre - Mittelposition. Das Erhabene als ästhetisches Phänomen kann sich nur als Moment, nicht als dauernde Situation behaupten. Anhand des Erhabenen formuliert Schiller eine neue Definition des Tragischen, wo die traditionelle Nachahmungslehre nicht mehr bestehen kann; mit dem Anspruch auf Kunstautonomie wird dieser Nachahmung Abschied gegeben. Schillers Ästhetik ist zwar eine Wirkungsästhetik; aber diese Wirkung wird jetzt neu erdacht und eine rudimentäre Form von Rezeptionsästhetik avant la lettre wird aufgeworfen, ←17 | 18→indem die Historizität des Kunstphänomens und die entscheidende Rolle des Kunstrezipienten in die Struktur des Werks aufgenommen werden.
Durch eine Analyse der Strukturelemente der beiden Begriffe der Erhabenheit und der Kunstautonomie wird der Versuch vorgenommen, darauf hinzuweisen, dass diese Konzepte auf denselben semantischen Elementen beruhen (Gewalt, Widerspruch, Negativität, Grenzerfahrung, Schein, Darstellung des Unendlichen bzw. des Undarstellbaren, Unendlichkeit bzw. Unbestimmbarkeit). Die erwünschte Versöhnung scheitert an der Widersprüchlichkeit des Seins. Dasselbe wird durch die Analyse von Dramen aus der klassischen Dramaturgie Schillers (Wallenstein, Maria Stuart, Demetrius) offensichtlich, die freilich nur aus der Perspektive dieser Arbeit vorgenommen wird. In diesen Werken werden die Menschen in einer Welt des Zufalls zerschmettert, die keine Aussicht in irgendeins traditionelles Heldentum zulässt.
Die Kunst ist für Schiller bestimmt ein Mittelbereich der unendlichen Möglichkeiten des Menschseins, jenseits von Ethik und Wissen. Das Beispiel dieser Unterscheidung von Ethik und Ästhetik par excellence ist die Konzeption des „erhabenen Verbrechers“; bei der Bewertung nicht heroischer Dramenpersonen, tendiert der Zuschauer dazu, ihre Handlungen nach dem moralischen Gesetz zu beurteilen, während die Wirkung auf sein Gemüt nach dem Grad von Freiheit und Kraft beurteilt wird, die aus dem Handeln der Personen hervorgeht. Gerade, weil die Kunst keiner didaktischen Intention, keiner Regelung durch die Wissenschaft und durch die Moral duldet, kann sie ihre befreiende Wirkung ausüben.
Allerdings ist es in der Forschung umstritten, ob Erhabenheit und Kunstautonomie überhaupt mit einander vereinbar sind oder ob sie prinzipiell abgesondert werden müssen.1 Peter-André Alt sieht im Konzept der Erhabenheit, wie es in Über die tragische Kunst zum Ausdruck kommt, eine Bestimmung der Tragödienwirkung durch „eine außerästhetische Kategorie […]“, die
←18 | 19→„den Gedanken der Autonomie des Kunstwerks preisgibt, der doch für den Kantianer unantastbar hätte sein müssen […] Das Vergnügen, das die Gattung stiftet, läßt sich mit Schillers analytischem Instrumentarium noch nicht als Leistung der ästhetischen Form der Tragödie, sondern einzig unter Bezug auf außerkünstlerische, nämlich moralische Kategorien erfassen“.2
Wie Jens Awe notiert, kann sich die Verneinung der Frage nach der Kompatibilität von Erhabenheit und Kunstautonomie auf zwei Perspektiven beziehen: man kann über die Einmischung von Moral in der Kunst aus der Untersuchung der Dramen urteilen, also fragen, ob der Dichter durch seine Werke konkrete moralische Begriffe vermitteln will, was dann Schillers ausgesprochene Intention, Moral in die Kunst nicht hineinzumischen, widersprechen würde. Freilich bedeutet dies schon, die Theorie von der Praxis her verifizieren zu wollen, was methodologisch verfehlt ist und wogegen sich Schiller ebenfalls entschieden gesträubt hat.3 Es kann zwar behauptet werden, dass die Argumentation des Autors selbst, in diesem Fall die Ablehnung der Einmischung von Moral in die Kunst, wie sie Schiller vor allem in Vom Pathetischen emphatisch behauptet, nicht problemlos in die kritische Analyse eben dieser Argumentation aufgenommen werden darf. Auch wenn Schillers Dramenpersonen erhaben wären – was sie nicht sind – würde das nichts über die Unvereinbarkeit von Erhabenheit und Autonomie der Kunst aussagen, sondern am meisten etwas über Schillers Konsequenz mit seiner eigenen Theorie. Allerdings wird die Frage nach dem Vorhandensein von moralisch erhabenen Vorbildern in Schillers Dramen schon seit einiger Zeit von der Mehrheit der Schillerforscher negativ beantwortet.4 Wie ←19 | 20→sich Oellers in Anspielung an Nietzsches Vorurteil über Schiller prägnant ausdrückt, „[zeichnen sich] Schillers große Dichtungen dadurch aus, dass in ihnen keine Moral trompetiert wird“.5
Eine andere Perspektive auf diese Frage eröffnet sich, wenn wir bedenken, dass, vor allem in Über das Erhabene, Schiller eine Erweiterung der Erhabenheit außerhalb der Kunst, ins wirkliche Leben hinein, vorschlägt, wenn er dem Schein des Erhabenen auf der Bühne eine „konditionierende Funktion“ zuweist, die den Zuschauer durch das „künstliche Unglück des Pathetischerhabenen“ für das wirkliche Unglück im Leben stärken und vorbeiraten kann.6 Diese als „Inokulationsthese“ in die Schiller-Forschung eingetragene Betrachtungsweise verdient genauer untersucht zu werden, da hier Schiller dem Erhabenen eigentlich den (ausschließlichen) Schein-Charakter abspricht, es in das Leben hinein verpflanzt und zu einer ernsten Lebenshaltung macht. Das bedeutet allerdings, dass hier Schiller eine Erweiterung des Geltungsbereichs des Erhabenen behauptet, die Kunst sich dem Leben öffnen lässt, wobei das Leben ästhetisiert, anstatt dass die Kunst moralisiert wird.
Es wird zwar eine lineare Entwicklung Schillers vom Projekt der ästhetischen Erziehung zur „Inokulationsthese“ hin angenommen, was das Aufgeben der ästhetischen Erziehung durch Schönheit etwa um 1795 suggeriert und Schiller nunmehr das ernste Geschäft des Erhabenen übernehmen lässt.7 Aber Schillers Aufmerksamkeit ist dem Erhabenen nicht nur nach seiner angeblichen Verzweiflung an einer Realisierung des Ideals der schönen Seele zugewandt. Der Begriff des Erhabenen hat Schiller schon vor der Lektüre von Kants Kritik der Urteilskraft beschäftigt und er ist als Leitfaden bei der Interpretation vieler ←20 | 21→Figuren seiner Jugenddramen geeignet. Schon als Schiller die Abhandlung Vom Erhabenen schrieb, hatte er die Kallias-Briefe hinter sich und bei der Veröffentlichung von Über das Pathetische in der Neuen Thalia im September 1793 arbeitete Schiller schon an den Augustenburger Briefe, der ersten Fassung der Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen.8 Das Schöne und das Erhabene als die zwei Komponenten des Ästhetischen haben Schiller sein ganzes Leben lang beschäftigt, allerdings mit ständigen Verschiebungen des Augenmerks und Wechsel der Perspektive. So ist das widersprüchliche und spannende Gebäude seiner Ästhetik zustande gekommen. Die Analyse der Komponenten von Schillers Begriffskomplexen von Erhabenheit und Kunstautonomie wird vielleicht die Annahme plausibler machen, dass die Grenzlinie zwischen ihnen zugleich die Gemeinsamkeiten suggeriert.
Es kann aber auch eingewendet werden, dass die Intention, eine solche Analogie zu beweisen, lediglich Ausdruck des Wunsches ist, Schillers Ästhetik zu einem kohärenten und sinnvollen Ganzen zu machen, was auf die Felsen der komplexen, rhetorisch übertriebenen, zyklischen, rück- und vorwärtsschreitenden, keineswegs konsequenten und rigoros wissenschaftlichen Argumentation Schillers zerbrechen und scheitern muss. Schillers Werk widersteht selbst der endgültigen Bestimmung und der Abrundung. Abgesehen davon, dass Schillers essayistischer Stil den philosophischen Inhalt seiner Abhandlungen nicht beeinträchtigt, sondern ihm gerade entspricht,9 ist schon von der Mehrzahl der Forscher anerkannt, dass Schillers Denken und Schaffen nicht linear abläuft. ←21 | 22→Man kann und muss zwar von Entwicklung und Veränderung sprechen, aber es gibt Übergänge und Transformationen, welche den widerspruchvollen Gang Schillers aufleuchten und ihn als lebendiges Zeugnis einer alles andere als widerspruchfreien Klassik erscheinen lassen.
In dieser Hinsicht kann die Ästhetische Erziehung, trotz ihres versöhnenden Ansatzes, nicht als Grundlage für eine hypothetische Identifikation von Ästhetik, Schönheit und Autonomie der Kunst akzeptiert werden, die dann angeblich wegen der Verzweiflung an der Revolution in den Ästhetizismus der Schlusspassagen und in die Moralisierung der Kunst, siehe der Instrumentalisierung des Zuschauers und seiner Lenkung durch die erhabene Rührung, mündet. Die Duplizität des Seins, Schillers Grundannahme, projiziert sich schon von den Kallias-Briefen an auf die Ästhetik, die als Kampfplatz von streitenden Individuen stilisiert wird.
Wenn Schiller als junger Dichter und angehender Philosoph einem Kult des Heroischen bzw. der Revolte um die Ideale der Humanität und Freiheit huldigt, die angeblich in die Wirklichkeit durch Revolution oder durch Kunst und ästhetische Erziehung durchgesetzt werden können, weicht dieser Optimismus einer Phase der Anerkennung der Dualität von Welt und Ideal, der das lyrische Bild des „Reichs der Schatten“ entspricht.10 Bei gleichzeitigem Versuch, Kants Dualismus zu überwinden, vertieft Schiller die Kluft zwischen den natürlichen Begierden und dem Imperativ der Vernunft, indem er sie in den Menschen hineinprojiziert, der nun aus „zwei Menschen“ innerhalb des Menschen zu bestehen scheint. Daraus sucht Schiller einen Ausweg, zunächst philosophisch, als Erziehung zur Freiheit durch Kunst, gleichsam ästhetisch, als Realisierung des Spiels und des ästhetischen Scheins innerhalb des Lebens, in angeblichen Freiräumen, wo der Mensch sich seines vollen Potenzials gewahr wird und demgemäß frei denken und handeln kann. Die Realisierung dieses Plans scheitert an der immer bitterer werdenden Härte des Bestehenden, das sich nicht einmal ästhetisch ändern lässt. Der schon immer das Projekt der Versöhnung unterminierende Gedanke vom Erhabenen gewinnt an Bedeutung, zunächst in der Tragödie, wo die pathetisch-erhabene Rührung die Funktion der antiken Katharsis übernimmt. Die blinde Notwendigkeit, welche das natürliche und geschichtliche Wesen Mensch zugrunde richtet, lässt keine Hoffnung auf Wiederherstellung der Liebe und Freiheit in dieser Welt zu, wie wohl das Schicksal von Wallenstein, ←22 | 23→Thekla, Max Piccolomini, Maria Stuart, Elizabeth und Demetrius erraten lässt. In der letzten Phase von Schillers Schaffen, welche mit der Wallenstein-Trilogie ansetzt und die großen Dramen Schillers einschließt, sieht, allem Anschein nach, das letzte ästhetische Essay Schillers das Licht des Tages – oder zumindest, es wird von Neuem bearbeitet: Über das Erhabene. Was das Erhabene nun bedeutet, überschreitet bei Weitem die Grenzen des Theatersaals.
Ob sich nun Skepsis, Pessimismus, Ästhetizismus oder Resignation bei Schiller einsetzen, ist vielleicht zu bestreiten. Fest bleibt, dass zu dieser Phase die autonome, sich selbst die Regeln gebende Kunst, die Einübung ins Erhabene als die geeignete Lebenshaltung des – großen oder einfach nur menschlichen - Individuums garantiert. Diese Kunst, die Schiller seit der Zeit der Ästhetischen Erziehung vorgeschwebt hat, „völlig frei, weil sie von ihrem Gegenstand alle zufällige Schranken absondert“,
„läßt auch das Gemüt des Betrachters frei, weil sie nur den Schein und nicht die Wirklichkeit nachahmt. Da aber der ganze Zauber des Erhabenen und Schönen nur in dem Schein und nicht in dem Inhalt liegt, so hat die Kunst alle Vorteile der Natur, ohne ihre Fesseln mit ihr zu teilen“.11
In diesem abschließenden Teil von Über das Erhabene hat Schiller alle Stichworte seiner Bemühungen um eine Lösung des ästhetischen Problems vereinigt, in dem sich die großen politischen, gesellschaftlichen und anthropologischen Aporien seiner Zeit verdichten: hier finden sich die Freiheit der Kunst von den Schranken der Wirklichkeit, die individuelle Freiheit, die Nachahmung des Scheins, also der Abschied von der Nachahmung der Wirklichkeit, der Zauber der ästhetischen Erfahrung, das Bei-einander-Sein von Erhabenheit und Schönheit, die Gegenüberstellung von Schein (alias Form) und Inhalt, der Unterschied von Kunst und Natur und, noch einmal, die Freiheit von den Fesseln der Natur. Aufschlussreicher könnte diese Subsumierung seiner ästhetischen Philosophie nicht sein.
Die Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von Kunstautonomie und Erhabenheit bei Schiller hängt natürlich davon ab, wie man die Autonomie der Kunst versteht und wie breit sie gefasst wird. Eng betrachtet bedeutet sie eine Loslösung der Kunst von jeder Fremdbestimmung durch politische oder religiöse Autorität, Anpassung an das Angenehme und den Publikumsgeschmack, ←23 | 24→vor allem aber, im Gegensatz zur aufklärerischen Wirkungsästhetik, bedeutet sie die Ablehnung der belehrenden Intention, einfach gesagt, die Trennung von Ethik und Ästhetik. Die so verstandene autonome Kunst bezieht sich nur auf ästhetische Maßstäbe und setzt sich selbst die Regeln.
Die hier vorgeschlagene Antwort beruht auf einer Analyse der Kunstautonomie schillerscher Prägung als einer reicheren Konzeption, welche die verschiedenen Aspekte von Produzenten, Kunstwerk und Rezipienten berücksichtigt.12 Eine solche Analyse anhand von Schillers Abhandlungen könnte auf seinen Gedanken verweisen, dass gerade nur eine autonome Kunst Erhabenheit hervorrufen, ja dass eine erhabene Kunst einen freien Menschen am besten erziehen kann.13 Denn beides, die Erhabenheit und die Kunstautonomie, beziehen sich auf die aufklärerische Grundkonzeption eines autonomen Individuums und sind dessen Projektion auf der ästhetischen Ebene.14 Zugleich werden beide ästhetische Phänomene von ihrem herkömmlichen, idealistischen Interpretationsrahmen herausgelöst und eher von ihrer Kehrseite her betrachtet: das Erhabene ist keine positiv heroische, sondern eine resignative und pessimistische Lebenshaltung und entspricht einer Dramatik, in der die moralische Beurteilung der Personen nicht eindeutig und definitiv eintreten kann; die Kunstautonomie bezieht sich nicht auf ein zeitloses und weltfremdes Idealschönes, sondern auf Menschen, die sich durch die Kunst befreien möchten. In beiden Konzepten wird der Moment des Widerspruchs betont; beide werden (auch) als Gewalt aufgefasst.
←24 | 25→1.2. Forschungsstand
In seinem Aufsatz Die Idee des Erhabenen in der deutschen Literatur stellte Karl Vietör 1937 fest, dass viele Philosophen und Kritiker schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts „noch vom Erhabenen als von einer erlauchten Idee [redeten], die man im modernen Weltbild nicht mehr recht unterbringen konnte“.15 Eben im selben Jahr beschrieb Herbert Marcuse als Aufgabe der (bürgerlichen) Kunst die Kompensation für politische Unfreiheit: „Das befreite Individuum, für das die neue Freiheit eine neue Form der Knechtschaft gebracht hatte, so zu disziplinieren, daß es die Unfreiheiten des gesellschaftlichen Daseins ertrage“.16
Das Erhabene hat bis heute lange Karriere gemacht. Ironisch genug, obwohl es mit Unbestimmtheit verbunden ist, hat es eine unüberschaubare Menge von Interpretations- und Anwendungsansätzen inspiriert.17 Seine Anfänge als literarisches Stilmerkmal und seine Anerkennung als eine Schnittstelle von Ästhetik und Ethik, als ein Modus der Lebensführung oder als alter ego der poetischen Inspiration lassen es als Teil der Ästhetik oder als Anti-Ästhetik erscheinen. In der Diskussion des 20. Jahrhunderts wird das Erhabene oft als das Ästhetische par excellence angesehen. Carsten Zelle hat es als Grundkategorie der doppelten Ästhetik der Moderne im Zusammenhang mit der querelle des anciens et des modernes angesehen.18 Die kallistische Betrachtung der neuzeitlichen Ästhetik, welche die Rolle des Erhabenen übersehen und das Ästhetische mit dem Schönen identifiziert hat, hat sich in ihr Gegenteil umgeschlagen: in den Kunstströmungen der (Post)moderne herrscht der gewaltige und negative Charakter vor, der das Erhabene kennzeichnet. In seinem berühmten Artikel „The Sublime is now“ (1948) versteht der amerikanische Künstler Barnett Newman die moderne Kunst als Wunsch, das Schöne zu zerstören.19 Und wenn zur Zeit Schillers die ←25 | 26→ästhetische Kategorie des Erhabenen am Beispiel der Poesie und der Tragödie bearbeitet wurde, hat sie heute vor allem für die bildenden Künste Bedeutung, wo die Darstellung des Undarstellbaren den Charakter einer echten Provokation erhält, oder in der Musik, wo die „Unbegrenztheit des Klangs“ angestrebt und als erhaben empfunden werden kann.20 Die Frage, ob dabei die Kunst Gefahr läuft, ebenfalls in „Leerheit und Plattitüde“ zu verfallen, bleibe hier undiskutiert.
In der Geschichte des Begriffs des Erhabenen mischen sich Perioden der Vergessenheit mit denen der Wiederbelebung. Wenn es in den 80. und 90. Jahren in Europa zu einer Renaissance des Erhabenen kam,21 kann man heute von einem unerhörten Aufschwung des Interesses am Erhabenen sprechen.22
←26 | 27→Natürlich lässt sich die Diskussion um das Erhabene nicht ohne Weiteres linear, als Folge von Quellen verstehen. Wie Ulrich Beil argumentiert hat,23 repräsentiert die neuzeitliche Diskussion eine notwendige Stufe auf dem Weg der Säkularisation der transzendentalen Begriffe von Gott und Unendlichkeit. Sie setzt „die christliche Metaphysik mit ihren Gottesattributen und ihre allmähliche ästhetische Transformation voraus“.24 Die Aneignung des Erhabenen durch die Dekonstruktion, welche es als dargestellte Nicht-Darstellbarkeit versteht, als Vergegenwärtigung des Erlebnisses und Verselbständigung des künstlerischen Werks, kann aufgrund der verschiedenen Weltanschauungen der Antike und der Neuzeit bezweifelt werden. Diese Fruchtbarkeit und Resistenz des Erhabenen basiert nicht zuletzt auf seiner Bestimmung durch Negativität, die es immer zeitgemäß erscheinen lässt: Unbestimmtheit in Bezug auf seine Definition, die sowohl von der antiken Rhetorik als auch von der neuzeitlichen Dichtungstheorie nicht genau angegeben wurde, als auch auf seinen Inhalt selbst, seine Quintessenz: das Erhabene als ästhetische Kategorie und als Empfindung scheint auf der Grenze zwischen Darstellungsvermögen und Undarstellbarkeit, Natur und Menschen zu verweilen, von wo aus es seine immense kreativitätsfördernde Kraft ausübt. Es soll pluralistisch und vieldeutig sein, opak und kritisch der traditionellen Realitätswahrnehmung gegenüber, und damit für eine moderne Welt- und Kunstwahrnehmung grundlegend.25
←27 | 28→In der Abhandlung von Vietör Die Idee des Erhabenen in der deutschen Literatur (1937), welche allerdings das Erhabene nicht in literarischen Texten, sondern in den Werken der Ästhetiker untersucht, wird es als ein idealistischer Schwung nach heroischem Denken und Handeln präsentiert. Enthusiasmus, das Wunderbare, die Rolle der Einbildungskraft, die Wirkung auf den Menschen werden erwähnt; das irrationale Element weicht nach Vietör einer neuen Lehre vom gemischten Gefühl, die nach Bodmer, Klopstock und Baumgarten geformt wird. In einem Exkurs über die englische Theorie des Erhabenen spricht Vietör von der empiristischen Wende bei der Theorie Burkes, dessen Abhandlung als „antiklassizistisch“ klassifiziert und als Wegweiser für die Romantik angesehen wird. Schillers Erhabenes sieht der Verfasser als „Gegensatz des Schönen“ und seine Ästhetik als Resultat eines „dem Christentum entstammenden Dualismus“.26
Zu Schillers Erhabenheitstheorie sind zahlreiche Monographien erschienen. 1967 verfolgt die Dissertation Wolfgang Düsings Schillers Idee des Erhabenen die Entwicklung des Begriffs im Frühwerk Schillers, in den ästhetischen Abhandlungen, in den klassischen Dramen. Düsings Arbeit konzentriert sich auf die Idee des Idealschönen, in der, nach Schiller, das Schöne und das Erhabene harmonisch vereinigt werden sollen, und sieht in den beiden Strängen der Ästhetik Schillers keinen unversöhnbaren Gegensatz, sondern eine „innere Zusammengehörigkeit“27. Besonderes Gewicht legt Düsing auch auf die Unterscheidung zwischen dem ästhetisch und dem moralisch Erhabenen, die anhand der Analyse Schillers über den erhabenen Verbrecher ausführlich behandelt wird.
Renate Homann veröffentlicht 1977 ihre Studie Erhabenes und Satirisches. Zur Grundlegung einer Theorie ästhetischer Literatur bei Kant und Schiller. Homann spricht von einer „Entaktualisierung“ des Erhabenen, gestattet aber, dass bei der Rezeption von literarischen Werken das Erhabene als Diskrepanz von Dargestelltem und Darstellung tätig ist, da es die freie und produktive Rezeption ←28 | 29→ermöglicht.28 Homann behauptet zu recht, dass „das Konstitutionsprinzip des Erhabenen“, d.i. die Darstellung des undarstellbaren Ideals, von Schiller zum „Darstellungsprinzip der sentimentalischen Dichtung verallgemeinert“ worden ist.29 Schillers implizite Unterscheidung zwischen naivem Symbol bzw. Schönheit und sentimentalischer Allegorie bzw. Erhabenheit weist die Richtung auf, „in der gerade nach dem Verlust des Terminus erhaben das Erhabene eine in der modernen Literatur tragende Funktion, und zwar unabhängig von jeder Eingrenzung auf eine bestimmte literarische Gattung, erhält“.30 Hommann sieht die Erhabenheit in der Ästhetik Schillers als einen Ausdruck seiner Anthropologie, die nach Wiederherstellung der verlorenen Totalität der menschlichen Natur strebt. In dieser Hinsicht betont Hommann bei der Betrachtung des Erhabenen das Moment der Versöhnung im Idealschönen.
1997 erscheint die Einführung von Pierre Hartmann in Schillers Erhabenheitstheorie unter dem Titel Du sublime.31 Ziel dieser Arbeit ist es, nach angegebener Intention des Autors, das ästhetische Denken Schillers in Frankreich bekannt zu machen. Hartmann beschäftigt sich sowohl mit dem geschichtsphilosophischen Aspekt des Erhabenen (Longin, Boileau, Burke, Kant), als auch mit Schillers Behandlung des Begriffs in den Abhandlungen Vom Erhabenen, Über das Pathetische und Über das Erhabene, in der Ästhetischen Erziehung und in den Dramen, vor allem in den Räubern, in der Verschwörung des Fiesco zu Genua und in der Jungfrau von Orleans. Gegen die Intention der Kallistik, die Ästhetik Schillers insgesamt mit seiner Theorie des Schönen zu identifizieren, versucht ←29 | 30→Hartmann, der Gesamtheit von Schillers Werk gerecht zu werden, in dem das Erhabene einen der zwei wichtigen Pfeiler darstellt.
2004 veröffentlicht Paul Barone seine für die heutige Diskussion maßgebliche Studie Schiller und die Tradition des Erhabenen.32 Anhand einer Untersuchung der ästhetischen Abhandlungen Schillers, mit Emphase auf der Spätschrift Über das Erhabene und einer Analyse seiner wichtigsten Dramen von Wallenstein an, gelangt Barone zu einer Differenzierung: es gebe eine erste Phase, wo das Heroisch-Erhabene das Denken und Schaffen von Schiller inspiriert, wo der Glaube an den Fortschritt der Geschichte und an das große Individuum aufrecht erhalten bleibt, wo das Leiden und dessen Überwindung stoisch verstanden werden und der tragische Held Entsagung, Selbstaufopferung und Tugend vereinigen soll; es gebe auch eine zweite Phase, wo der Geschichtsoptimismus einem fast nihilistischen Pessimismus weicht, wo das Mitleid als Ziel der Tragödie verschwindet und nur das erhabene Gefühl der Furcht wegen des verzweifelten Kampfes gegen Sinnlichkeit und Vernichtung als Katharsis übrig bleibt.33 Demnach gibt es keine wahrhaft erhabenen Helden in Schillers Dramen und die moralische Bewertung vom dramatischen Ausgang muss etwas wacker und unentschieden bleiben. Das Chaos, das uns durch den Lauf der Weltgeschichte anlächelt, der Abgrund Kants, wonach die Vernunft sich angezogen fühlt, die Anarchie einer Natur und Geschichte, die den Tugendhaften zugrunde richten - dieser Schiffbruch der menschlichen Existenz, wenn das nicht real passiert, sondern vor den Augen von Zuschauern vorgestellt oder aufgeführt wird, das sei das Erhabene, das Schiller als ästhetisches Testament hinterlassen habe.
Barones Studie konzentriert sich auf die Bedeutung des Erhabenen für die tragische Kunst und bezieht sie auf die Geschichtsauffassung Schillers, aufgrund des Aufsatzes von Wolfgang Riedel „Weltgeschichte ein erhabenes Objekt“.34 Riedel berücksichtigt die Formulierung Schillers von Über das Erhabene: „Aus diesem Gesichtspunkt betrachtet, und nur aus diesem, ist mir die Weltgeschichte ←30 | 31→ein erhabenes Objekt“,35 wobei der „Gesichtspunkt“ mit der Anerkennung zu tun hat, dass in der „moralischen Welt“ eine „bedenkliche Anarchie“ waltet, dass in der Welt „mehr der tolle Zufall als ein weiser Plan zu regieren scheint“.36 Nach Riedel sind die zwei geschichtsphilosophischen Abhandlungen Schillers (Antrittsvorlesung und Über das Erhabene), von den eigentlichen historiographischen Texten abgesehen (Geschichte des dreißigjährigen Krieges, Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung), Zeugnisse von zwei fundamental entgegengesetzten Auffassungen der Geschichte bei Schiller: der erste betrachtet die Weltgeschichte unter dem Blickwinkel eines optimistischen Humanismus, als unendlichen Prozess zur Aufklärung des Menschengeschlechts, der zweite sieht die Welt und ihre Geschichte als unpersönliche, unvernünftige Mächte, welche den Menschen sinnlos vernichten, ohne auf Belohnung der Tugend hoffen zu lassen. Von dieser pessimistischen Geschichtsauffassung ausgehend, unternimmt es Barone, Schillers Idee des Erhabenen im Lichte einer Ästhetik des Widerspruchs zu analysieren, in der das Schöne und das Erhabene gerade im Idealschönen nicht zu vereinigen sind, denn die Dissonanzen der Wirklichkeit, im Begriff des Erhabenen kondensiert, lassen sich nicht im hegelianischen Sinne vereinheitlichen und aufheben.37
Der Anteil der stoischen Philosophie an Schillers Ästhetik (und besonders an seiner Ästhetik des Erhabenen) ist Gegenstand der Monographie von Trinidad Piñeiro Costas Schillers Begriff des Erhabenen in der Tradition der Stoa und Rhetorik (2006).38 Piñeiro Costas versucht zu zeigen, dass Schillers Begriff des Erhabenen mit einer neuen Definition der Stoa in der deutschen Aufklärung zusammenhängt, welche nicht auf Vergeistigung des Menschen und Apathie, sondern auf Miteinbeziehung des körperlichen Schmerzens und dessen Überwindung hinausläuft. Zwar hatte Schiller als élève der Militärakademie gelernt, dass Stoizismus mit einer unmenschlichen Freiheit von Affekten verbunden war, was ihn als überholt erscheinen ließ. Aber von seinem verehrten Professor Abel hatte Schiller auch gelernt, dass die Überwindung des Leidens und die moralische Freiheit nicht unbedingt mit Vernichtung der Sinnlichkeit zusammenhängen. Wie Piñeiro Costas notiert, spielte „die stoische Ethik eine zentrale Rolle in der deutschen Geistesgeschichte und [sie] prägte das ethische Ideal ←31 | 32→des ganzen 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts“.39 Dabei wurden die menschlichen Affekte und die Sinnlichkeit als Hindernisse für die moralische Vollkommenheit verstanden, welche von der Vernunft zu beseitigen waren. Die aufkommende Anthropologie, von der auch Abel begeistert war, musste dagegen Einwand erheben. Der Mensch war nicht nur Geist, sondern auch Materie, der es galt, gerecht zu werden. Die empirische Psychologie entwickelte ein neues Bild vom Menschen als ens mixtum, „unselig Mittel-Ding von Engeln und von Vieh“ wie Albrecht von Haller 1729 in seinen Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben bedauerte.40
In ihrer Monographie untersucht Piñeiro Costas ausführlich die stoischen Grundlagen der ersten philosophischen Versuche Schillers und seine Beziehung zur traditionellen Rhetorik, zur der der Terminus „erhaben“ ursprünglich gehörte. Die Loslösung vom pseudo-stoischen Ideal der Apathie und vom rhetorischen Dekorum des übermenschlichen Erhabenen der Könige und Helden signalisiert demnach die Geburt des schillerschen Erhabenen. Dennoch muss man feststellen, dass Piñeiro Costas über die Missverständnisse und Vorbehalte des 17. und 18. Jahrhunderts gegen die stoische Philosophie spricht, ohne die Gedankengänge dieser Philosophie selbst in ihren Quellen zu verfolgen. Zu ihren Verdiensten gehört, dass sie die Dichotomie des Erhabenen (das Erhabene als Apathie und Ataraxie oder als Pathos und dessen Überwindung) als Quelle der Antinomie von übermenschlicher barock-rhetorischen Ethik und menschlicher Ästhetik des Erhabenen betont.
2012 publiziert Jens Awe seine Studie Das Erhabene in Schillers Essays zur Ästhetik. Stilistische Praxis, essayistische Strategien, ästhetische Theorie. Awe stützt sich vor allem auf die Forschungsansätze von Düsing, Hermann Meyer, Sabine Schneider, Elizabeth Wilkinson und versucht, die Abweichungen der ästhetischen Schriften Schillers vom philosophisch-wissenschaftlichen Stil nicht als Mangel und Unzulänglichkeit, rhetorische Selbstgefälligkeit, zyklische Argumentation und Vorwegnahme des zu Beweisenden zu deuten, sondern als philosophische Experimente in der Nachfolge der essayistischen Tradition von Frankreich und England, wobei die Diktion und die Argumentationsweise dem Inhalt der philosophischen Gedankengänge genau entsprechen. In Über das ←32 | 33→Erhabene z.B. entwickelt Schiller selbst eine erhabene Schreibart. Indem Awe die sprachtheoretischen und erkenntniskritischen Annahmen untersucht, die Schiller seinen Texten zugrunde gelegt haben soll, hofft er sich, „eine genauere Einordnung und Würdigung der ästhetischen Schriften Schillers“ zu verschaffen.41 Am Ende seiner umfangreichen Studie kommt Awe zum Schluss, dass sich Erhabenheit und Schönheit als die zwei Stützpfeiler der Ästhetik Schillers nicht gegen, sondern eher neben einander stellen lassen, da erst mit der Zusammenkunft beider die ästhetische Erziehung genauer bestimmt werden kann – ihr Verhältnis sei das der Komplementarität.42 Es handelt sich beim Erhabenen nicht um eine „mißachtend repressive Entgegensetzung“ und der Versöhnungsgedanke „gilt in den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen nicht bedingungslos“.43 Die zwei Essays (Über die ästhetische Erziehung des Menschen und Über das Erhabene), so Awe, stellen den moralischen Menschen als Ziel dar und dieser steht in keinem Widerspruch zum schönen Charakter. Dieser moralische Zustand könne nun, da die Natur unsere physische Existenz beherrscht, nicht mit dem Idealzustand der Übereinstimmung von Pflicht und Neigung, Vernunft und Sinnlichkeit identisch sein. Erhabenheit sei nicht die Vollendung, der Gegenpol oder das Supplement des Schönen. Beide Kategorien seien nach Awe komplementär und ihr „Geltungsbereich […] ist weit über das Gebiet der Ästhetik hinaus ausgedehnt bis hin zur Ethik bzw. zur Eudämonie“.44
Trotzdem hat sich Awes umfangreiche und in ihrem Sinn überzeugend argumentierende Studie die Kritik erlauben müssen, dass „the argument falls into two large parts, each of which could have formed the basis of an independent publication“. 45 Der erste Teil versucht, unter Berücksichtigung der Quellen von und über Schiller, Schillers Abhandlungen als Essays zu bezeichnen und gegen philosophisch-stilistische Kritik zu rechtfertigen. Im zweiten Teil nimmt Awe es vor, die Komplementarität von Schönem und Erhabenem in Schillers Ästhetik zu postulieren, in entschiedenem Gegensatz zum Konzept der doppelten Ästhetik; während Zelle von einer prinzipiellen Unvereinbarkeit der Schönheit und der Erhabenheit in der Ästhetik von Boileau bis Nietzsche ausgeht und Schillers Ästhetik als einen fortwährenden Widerspruch zwischen gegensätzlichen Paaren ←33 | 34→(schön-erhaben, Anmut-Würde, schmelzende-energische Schönheit, naive-sentimentalische Dichtung) ansieht, spricht Awe entschieden von der Komplementarität der beiden Begriffe und versetzt das Gewicht von Schillers Ästhetik vorwiegend auf die Anthropologie der Versöhnung und der Eudämonie, in aristotelischem Sinne. In dieser Konzeption des Erhabenen, die natürlich vieles aus den Essays Schillers auslassen muss, um aufrechterhalten zu bleiben, lassen sich Begriffe wie Antinomie und Unversöhnlichkeit nicht einordnen. Trotzdem gibt es in Schillers ästhetischem und dramatischem Werk viele Hinweise auf die Notwendigkeit des unauflösbaren Widerspruchs und den moralischen Wert der Annahme eben dieser Notwendigkeit. Wie die vorliegende Arbeit behauptet, ist Schillers Begriff vom Erhabenen widersprüchlich strukturiert, im ständigen Schwanken zwischen Sinnlichkeit und Sittlichkeit, Notwendigkeit und Freiheit, Natur und Kunst, Optimismus und Pessimismus.
Eben im Zeichen einer Tendenz zur Vereinheitlichung steht auch die Dissertation von Vasilis Diamantopoulos Das Reflexionserhabene. Analyse des Erhabenen bei Schiller im Licht seines späten Pessimismus (2018). Diamantopoulos beschreibt die spätere, eher auf Widerspruch als auf Versöhnung angelegte Phase der schillerschen Ästhetik, besonders des Begriffs vom Erhabenen, als dessen Transformation zum Reflexionserhabenen. Nach Diamantopoulos verlässt Schiller etwa zur Zeit der Abfassung von Über das Erhabene und der Arbeit an Wallenstein die Vorstellung vom Erhabenen als Versinnlichung von Vernunftideen zugunsten einer reflexiven Auffassung des Erhabenen. In diesem Sinne wird die Konzeption Kants analysiert, wonach die Negativität des Erhabenen, die Tatsache, dass es mit „Unordnungen“ und Chaos in der Natur zusammenhängt, es von der Zweckmäßigkeit der Natur ausschließt; daraus resultiert, dass das Erhabene im Rahmen der Ästhetik, die ja von der Teleologie des Schönen beherrscht wird, nur toleriert und am Rande gestellt wird. Anhand der Arbeiten von Pries und Hommann versucht Diamantopoulos, diese Negativität doch als ergänzendes Teil der Naturzweckmäßigkeit im Sinne Kants zu beweisen. So erscheint das Erhabene in seiner Bearbeitung und Bereicherung durch Schiller, der es ja mit dem Hauptprinzip der transzendentalen Philosophie, die Reflexion, als Reflexionserhabene vor allem in Über das Erhabene und in der Braut von Messina verbindet, als notwendiges Korrelat des kantischen Erhabenen. Die Aufweisung des reflexiven Charakters des Erhabenen beim späten Schiller ist das Verdienst dieser Arbeit, obwohl schon seit Barones Studie die Entwicklung der schillerschen Auffassung von der Phase des Heroischerhabenen zur Phase des Chaotischerhabenen der Geschichte hin besprochen worden ist. Dennoch dient bei Diamantopoulos die Anerkennung der Negativität letzten Endes nur derer Integrierung in die Totalität der Vernunft, was seine vereinheitlichende These ←34 | 35→implizit in Verbindung mit der versöhnenden Tendenz bringt, Schiller doch als Vorläufer Hegels zu deuten; die Transzendenz wäre demnach um eine Negativität bereichert, nur um der Vollständigkeit des Ganzen willen: „die Aufwertung der Zweckwidrigkeiten und der Negativität bei der Betrachtung der Natur, der Geschichte und der menschlichen Existenz, die Vernunft in ihrer Tendenz zur Totalität und Zweckmäßigkeit eventuell mehr fördert als eine nur durch Lust und positive Erfahrungen gekennzeichnete Zweckmäßigkeit der Natur, denn die so dargestellte Natur ist frei, sie weist nicht mittelbar auf eine Freiheit hin“.46
Außer dieser Monographien, die sich die schillersche Ästhetik des Erhabenen zum Thema machen, gibt es eine reiche Auswahl an Werken, die sich mit dem Thema des Erhabenen befassen und von der Wiederbelebung des Interesses der Forschung daran zeugen. Als Initiator dieser Wiederbelebung kann Jean François Lyotard gelten, der 1982 mit der Analytik des Erhabenen die Grundlage für ein postmodernes Verständnis dieser ästhetischen Kategorie setzte, nachdem die Ideologiekritik an der gesamten Konzeption der Klassischen Ästhetik (mitunter auch an Schillers Konzepten von Erhabenheit und Kunstautonomie) in den 70. Jahren diese Kategorien abgewertet hatte. 1984 initiiert Lyotard mit seinem Essay Das Erhabene und die Avantgarde den modernen Kult des Erhabenen und eine neue Ära in dessen Forschung, die bis in die unübersehbare Anzahl von „Erhabenheiten“ im 21. Jahrhundert reicht. 1988 erscheint der Sammelband Du sublime, herausgegeben von Michel Deguy und Jean Luc Nancy; Lyotards Schülerin, Christine Pries, gibt 1989 den Sammelband Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn heraus; gleichzeitig widmet die Zeitschrift Merkur das Heft 43 (1989) dem Erhabenen.
Details
- Pages
- 398
- Publication Year
- 2021
- ISBN (PDF)
- 9783631841754
- ISBN (ePUB)
- 9783631841761
- ISBN (MOBI)
- 9783631841778
- ISBN (Hardcover)
- 9783631816691
- DOI
- 10.3726/b17838
- Language
- German
- Publication date
- 2021 (March)
- Keywords
- Widerspruch Negativität Schönheit Freiheit Gewalt Undarstellbares Grenzsituation Dichtungstheorie Moderne Mimesis
- Published
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 398 S.