Sartre, Camus und die Kunst
Die Herausforderung der Freiheit
Summary
Excerpt
Table Of Contents
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- 1. Wols und das blaue Phantom
- 2. Von den Porträtstudien zur Theorie
- 2.1. Die Kunst und die Freiheit
- 2.2. Von Wilhelm II. zu Flaubert
- 2.3. Das Werk und seine Leser
- 3. Die Methode der Porträttechnik
- 3.1. Die Kritik am Marxismus
- 3.2. Die Rekonstruktion des Entwurfs
- 3.3. Dialektik und Hermeneutik
- 4. Skulpturen und Mobiles. Von Giacometti zu Calder
- 5. Die Poetik von Stéphane Mallarmé*
- 6. Saint Genet oder wie macht ein Individuum aus sich einen Künstler?*
- 7. Tintoretto und die „Schule des Sehens“
- 8. Der Künstler ist ein Verdächtiger
- 9. Albert Camus: Auf der Suche nach einer Moral
- 9.1. Literarische Anfänge: Licht und Schatten und Hochzeit des Lichts
- 9.2. Die Kunstform von Der Fremde
- 10 Camus und die Kunst als eine Antwort auf das Absurde
- 10.1. Das Absurde ist nicht das letzte Wort: Der Mythos des Sisyphos
- 10.2. Der Kampf gegen das Unheil: Die Pest
- 11. Moral und Revolte
- 11.1. Die Geschichte der Revolte
- 11.2. Eine Ästhetik der Revolte
- 12. Die Kunst als moralische Verpflichtung
- 12.1. Das Leben des Künstlers
- 12.2. Der Künstler und die Freiheit: Heimkehr nach Tipasa
- 12.3. Der Fall und Das Exil und das Reich
- 12.4. Der Nobelpreis
- 12.5. Der erste Mensch
- 13. Albert Camus und Jean-Paul Sartre
- Schlussbemerkung
- Bibliographie
- Register
- Reihenübersicht
„Der Künstler ist der vornehmste Arbeiter: er erschöpft sich und quält die Materie, um Visionen zu erzeugen, die er dann verkauft.“
Sartre, Der Eingeschlossene von Venedig
„Die absurde Welt kann nur ästhetisch gerechtfertigt werden.“
Albert Camus, Tagebücher 1942–1951
Die Kunst ist als Domäne der Freiheit allen Ideologien und somit auch der Politik überlegen. Jean-Paul Sartre und Albert Camus bestätigen diese Einsicht auf eindrucksvolle Weise in ihren Schriften über die Kunst.
In seinen Arbeiten zur Ästhetik wollte Sartre Philosophie und Literatur miteinander verbinden. Er hat zahlreiche Künstlerporträts, von Baudelaire über Tintoretto bis Flaubert, verfasst. Camus nutzte seine Überlegungen zur Kunst zu einem Brückenschlag zwischen seinen theoretischen Werken und seinen Romanen, Theaterstücken und Novellen. Auf der Grundlage der Kunst entwickelt er die Revolte als Antwort auf die absurde Situation des Menschen in der Welt.
Sartre erwähnt in einem Gespräch über die Kunst die Absicht, ein theoretisches Werk zur Ästhetik zu verfassen,1 so wie Camus im Februar 1950 in seinen Tagebüchern die Idee notiert, ein Buch über die Kunst schreiben zu wollen, um seine ästhetischen Überlegungen zu resümieren.2 Beide haben ihre Pläne nicht ausgeführt. Sartre hat aber eine große Zahl von Künstlerporträts verfasst, in denen er das Verhältnis der Künstler zu ihren Werken untersucht. Er formuliert in diesen Studien eine Ästhetik, in deren Mittelpunkt die Freiheit des Menschen steht. Die Analyse der Werke Camus’ lässt sein Konzept von der Autonomie der Kunst erkennen, das er den Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts entgegensetzt. Die Aufgaben, die beide dem Künstler und dem Intellektuellen zuweisen, lassen bemerkenswerte Übereinstimmungen erkennen, hinter denen ihr ←7 | 8→persönlicher Streit von 1952, der nach der Veröffentlichung von Der Mensch in der Revolte zum Bruch ihrer Freundschaft führte, verblasst.
Die Stürme der ideologisch aufgeheizten Debatten in den Jahrzehnten nach Kriegsende haben dazu geführt, dass bei beiden Autoren die herausragende Bedeutung der Kunst für ihr Gesamtwerk eher nur als ein Thema unter anderen oder gar nicht wahrgenommen wurde. Es waren aber nicht die politischen Auseinandersetzungen, die ihre Werke bestimmten, beide ließen sich in ihren Reaktionen auf die Politik ihrer Zeit von ästhetischen und moralischen Überlegungen leiten, die ihren Ursprung in ihren Werken hatten. Die Beurteilung der Ideologien und ihrer Gefahren, die beide artikulierten, ging nicht aus ihren unmittelbaren zeitgeschichtlichen Erlebnissen, sondern aus ihren Überlegungen zur Kunst hervor, mit denen für beide die Forderung nach einer absoluten Freiheit für den Künstler als einer conditio sine qua non seines Schaffens verbunden ist.
In Bezug auf Sartre wird heute meist zuerst sein gescheitertes Engagement auf der Seite linker Gruppierungen erwähnt, und Camus wird oft nur als Autor des absurden Romans genannt, wie zahlreiche Interpretationen von Der Fremde dies ohne Unterlass wiederholen. Eine genaue Lektüre der Werke Camus’ zeigt indes, dass er in seinem Werk keineswegs das Absurde als pessimistischen Lebensinhalt ermittelt, sondern aus dem Absurden eine Verpflichtung für die Kunst herleitet. Mit seiner Analyse der Werke bildender Künstler und von Schriftstellern zeigt Sartre, wie Künstler ihre Epoche mit ihren Ideen prägen, zugleich aber auch die Strömungen ihrer Zeit mit neuen Ideen überschreiten. Er will nachweisen, dass die in Das Sein und das Nichts definierte Freiheit des Menschen eine wesentliche Voraussetzung für Kunst ist. Sartres oft gescheitertes politisches Engagement lässt vermuten, dass nicht die Politik, sondern die enge Verbindung zwischen Kunst und Philosophie seinem Werk eine bleibende Bedeutung sichern wird. Es sind die Kunst und die Freiheit, die in seinem Gesamtwerk jenseits aller Brüche die Kontinuität seines Denkens erkennbar werden lässt.
Die 1987 entstandene Untersuchung über die Ästhetik im Werk Sartres analysiert ihren Stellenwert in seinem Gesamtwerk. Somit versteht sich die hier vorliegende Studie auch als eine Einführung in sein Werk. Der Essay über die Kunst im Werk von Albert Camus ist als Fortsetzung der Arbeit über Sartres Ästhetik angelegt. Für die Ausgabe in dem hier vorliegenden Band3 wurde der ←8 | 9→Text der beiden genannten Bücher überarbeitet. 2006 bot mir Professor Dirk Hoeges (1943–2020) die Veröffentlichung der beiden Bücher in einem englischsprachigen Band in seiner Reihe Dialogues/Dialoghi. Literatur und Kultur Frankreichs und Italiens an. Mit dieser Möglichkeit wird die Kontinuität eines in der deutschen Romanistik ungewöhnlich langen und ungemein ertragreichen intellektuellen wie freundschaftlichen Austauschs seit 1976 unterstrichen, für den ich meinem Doktorvater sehr zu Dank verpflichtet bin. 2019 entstand im Verlauf unserer Gespräche die Idee, eine überarbeitete Neuausgabe dieses Bandes auf Deutsch, ergänzt um die seither u. a. in der Sorbonne in Paris gehaltenen Vorträge zu veröffentlichen.
←9 | 10→←10 | 11→1 Sartre/Sicard, Penser l’art. Entretien, in: Sicard, M., Essais sur Sartre. Entretiens avec Sartre (1975–1979), Paris 1989 (231–240), S. 231: „[…] versuchen, zu beschreiben, was einen Maler ausmacht und was ein Bild ist, so dass ich den Teil eines Ganzen hätte formulieren können, woraus die Ästhetik entstanden wäre.“ Übers. v. Vf.
2 A. Camus, Tagebücher 1935–1951, übers. v. G. G. Meister, Reinbek b. Hamburg 1997, S. 449.
3 Detaillierte Nachweise besonders zur Sekundärliteratur in: H. Wittmann, Von Wols zu Tintoretto. Sartre zwischen Kunst und Philosophie, Frankfurt/M. u. a. 1987. Die Arbeit über Sartre und die Kunst beruht auf der ergänzten Fassung einer Dissertation, die im Wintersemester 1986/87 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn angenommen wurde. Das Buch wurde 1996 um ein Kapitel („L’intellectuel est un suspect“) erweitert: Ders., Sartre und die Kunst. Die Porträtstudien von Tintoretto bis Flaubert, Tübingen 1996. Ders. L’esthétique de Sartre, Artistes et intellectuels, übers. v. N. Weitemeier, J. Yacar, Paris 2001. Die Studie über Camus entstand aufgrund einer Anregung von Professor Dr. Dirk Hoeges, ders., Albert Camus. Kunst und Moral, Reihe Dialoghi/Dialogues, hrsg. v. D. Hoeges, Band 6, Frankfurt/M. 2002. Beide Bände erschienen je in einer überarbeiteten und gekürzten Fassung zusammen auf Englisch H. W., Aesthetics in Sartre and Camus. The Callenge of Freedom, Reihe Dialoghi/Dialogues, hrsg. v. D. Hoeges, Band 13, Frankfurt/M. 2009. Weitere Hinweise zur Bibliographie stehen auf der Website des Vf.: www.romanistik.info/sartre und …/camus und auf den Websites der Groupe d’études sartriennes, Paris: www.ges-sartre.fr und der der Deutschen Sartre-Gesellschaft: www.sartre-gesellschaft.de sowie in: L’Année sartrienne. Bulletin du Groupe d’Études Sartriennes, Paris 1986 ff.
„Das große Ganze zeigt sich
in einer Zahl von Kreisen ohne Ende
alle Details bewegen sich in Kreisen
das Wasser beweist es.
Die Welt besteht durch Rhythmen.“
Wols4
Sartre begegnet dem Maler Alfred Otto Wolfgang Schulze5, der sich Wols nennt, in Paris und schreibt 1963 ein Vorwort in einem Ausstellungskatalog zu Wols’ Aquarellen und Zeichnungen. In diesem Künstlerporträt wie in den anderen Schriften über Künstler greift Sartre auf seine philosophischen Konzepte zurück, um das Werk des Künstlers zu beschreiben. Zudem entwickelt er eine Anleitung, Kunst zu verstehen.
Wols’ Menschenmengen bestehen aus Individuen, die anscheinend keine Beziehungen zueinander haben. Sein Versuch, mehr als die zwei möglichen Dimensionen auf der Leinwand abzubilden, führt zu einer neuen Interaktion zwischen der Realität und dem Künstler selbst.6 Seine kleinen Städtebilder, wie „Soleil sur la ville déserte“7 (1948), verschachteln die Flächen der Hauswände mit den Dächern und den Fensterläden, die zu den zahlreichen Plätzen hin geöffnet sind. Obwohl es wie die Fixierung einer gerade gemachten Beobachtung wirkt, wird bei näherer Betrachtung das Spiel mit der Perspektive erkennbar, das an Formen des Kubismus erinnert: Mal sind es scharf abgezirkelte Hauskanten, ←11 | 12→dann bilden dieselben Linien den Rahmen eines Raumes, in den der Betrachter hineinschaut.
Mit der Totalisation wird ein erstes Thema der Porträtstudie benannt, das zu einem Kapitel der Philosophie Sartres gehört. Die Totalisation bestimmt die Beziehungen zwischen Maler und Objekt, da beide – obwohl getrennt voneinander – eine Einheit verkörpern. Wie der Maler gibt das Objekt seine funktionale Beziehung zur Welt preis. Die Beziehung des Einzelnen zum Ganzen ist ein weiteres Thema des Wols-Porträts, das mit dem „Zirkus“ und dessen Untertitel „Simultane Aufnahmen und Projektionen“8 aufgegriffen wird.
Sartre versteht den „Zirkus“ als eine Illustration zu dem Gedanken des Malers Paul Klee (1879–1940), der in seinem Band Das bildnerische Denken9 die Entstehung einer Form im Auge zeigt, wo verschiedene Linien zusammenlaufen und eine Synthese bilden, wie sie der physische Aspekt eines Objekts kaum bieten kann. Die Parallelen zwischen Wols und Klee, die Sartre herstellt, bieten ihm Gelegenheit, eigene Thesen anzuführen, die auf seine philosophischen Werke verweisen: Keines der Werke Wols’ oder Klees zeigt einseitig als Objekt das Sein des Autors oder der Welt.10 Die metaphysische Haltung, die Wols sich zu eigen macht, veranschaulicht Sartre mit einem Gedanken, der an Das Sein und das Nichts (1943) erinnert: Es gehe auch in der Kunst darum zu sehen, was ist, gleichzeitig seine Natur im Sein des Anderen zu entdecken, und weil das Sehen mit dem Sein identisch ist, erscheint das Anders-Sein nur dem inneren Anders-Sein. Diese Bemerkung verweist auf Sartres Ansatz einer Rezeptionsästhetik, die den Betrachter eines Kunstwerks hinsichtlich der Vollendung des Werks in die Pflicht nimmt:11 „Die Kunst des Autors besteht darin, daß er mich zwingt, zu schaffen, was er enthüllt, also mich zu kompromittieren.“12
Mit dem Anderen wird ein Konzept eingeführt, um die Erscheinungsformen des Seins mit Hilfe des Betrachters, des Anderen, der in Das Sein und das Nichts die Rolle des Vermittlers13 erhält, zueinander in Beziehung zu setzen. Die zentrale Stellung dieser Aussage in diesem Künstlerporträt leitet die Diskussion des Verhältnisses des Malers zu den abgebildeten Objekten ein und benennt so die ←12 | 13→Seinsproblematik als ein Thema dieser Studie, das auch als eine der zentralen Fragen in Das Sein und das Nichts genannt wird: Das Sein der Phänomene lässt sich nicht in Seinsphänomene zerlegen, trotzdem muss das Verhältnis zwischen ihnen und dem Sein des Phänomens geklärt werden.
Bis 1940 arbeitet Wols nach dem Prinzip der Andersartigkeit des Seins. Die Objekte erhalten ihre Bedeutung durch die Präsenz anderer Objekte, die ihrerseits ihr Sein nicht unbedingt offenlegen. Aber es sind Bezugspunkte erkennbar, die dem Auge eine Führung bieten. Zuerst zeichnet Wols Städte, Tiere, Menschen und Pflanzen; später ändern sie ihre Funktionen. Vor 1940 verbirgt er auf seinen Bildern das Wesen der Dinge, jetzt zeigt er ihr Wesen und deutet die Dinge selbst nur noch an. Die Folge ist eine stärkere Einbeziehung des Betrachters, die Sartre nutzt, um in dieser Studie an die Darstellung des Blicks14 in Das Sein und das Nichts zu erinnern.
Die Erfahrung, die die Natur der Dinge Wols vermittelt, lässt ihn die Welt so darstellen, wie sie gewöhnlich nicht angetroffen wird. Das in der Londoner Ausstellung 1985 gezeigte Aquarell „Nombril du monde“15 enthält vielfältige runde, mit dünnen Federstrichen gezeichnete Formen. Sie deuten Figuren und Gesichter an und konstruieren unterschiedliche Ebenen, die sich voneinander unterscheiden lassen. Hingegen spielen in dem etwa zwei Jahre älteren „Zirkus Wols“16 die verschiedenen Personen eine genau definierte Rolle als Zuschauer, Musiker oder Clowns.
Details
- Pages
- 234
- Publication Year
- 2020
- ISBN (PDF)
- 9783631836521
- ISBN (ePUB)
- 9783631836538
- ISBN (MOBI)
- 9783631836545
- ISBN (Hardcover)
- 9783631833865
- DOI
- 10.3726/b17636
- Language
- German
- Publication date
- 2020 (September)
- Keywords
- Camus Kunst Ästhetik Freiheit Philosophie Literatur Sartre
- Published
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 234 S.