Das Warschauer Ghetto
Zwischen «Ausnahmezustand» und permanent schlechtem Gewissen. Eine Untersuchung anhand zentraler Texte der polnischen Literatur. Mit einem Vorwort von Claus Leggewie
Summary
Excerpt
Table Of Contents
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Dank
- Hinweise zur Textgestaltung
- Vorwort
- Einleitung
- Teil I Das Warschauer Ghetto und der „Ausnahmezustand“
- 1. Das Warschauer Ghetto und der Chronotop-Begriff
- 2. Das Warschauer Ghetto als „Chronotop des permanenten Rechtsbruchs“
- I. Warschau als „Urort der Ausgrenzung“ und Giorgio Agambens Denkfigur der „einschließenden Ausschließung“
- II. Das Warschauer Ghetto als „Chronotop des permanenten Rechtsbruchs“. Im Schwebezustand zwischen Norm und Willkür, zwischen „Führerprinzip“ und „Ausnahmezustand“
- III. Das Warschauer Ghetto: „Der alltägliche Ausnahmezustand vor den Augen aller“76
- 3. Vom „Ausnahmezustand“ zu einer Ethik der Menschenrechte: Von der Re- zur Dekonstruktion der nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit
- Teil II Polen als Schauplatz der Shoa
- 4. Polen als Schauplatz eines permanenten Rechts-, Zivilisations- und Gattungsbruchs
- I. „Zerbrechende Zeit“. Der „Ausnahmezustand“, die Frage nach historischen Kontinuitäten, Identitäten und Differenzen
- II. „Im Niemandsland des Verstehens“. Eine deutsche Debatte um die Historisierung des Nationalsozialismus sowie der Shoa
- III. Orte „im Schatten des Wundenmals“: Deutsche Tatorte, Polen als „Landschaft des Holocaust“ und als „Heimstätte des Antisemitismus“
- 5. Vom Schauplatz zur „Augenzeugenschaft der polnischen Literatur“
- 6. Zeugenschaft zwischen Sprachspiel und Erfahrungswirklichkeit?
- 7. Aleida Assmanns Grundtypen von Zeugenschaft und die Shoa
- I. „Der religiöse Zeuge“. Die Anwesenheit Gottes in der Bibel und seine Abwesenheit im „Warschauer Ghetto“.
- II. „Der historische Zeuge“. Emanuel Ringelblum, der Historiker im Warschauer Ghetto
- III. „Der juristische Zeuge“ und das Gericht: Literatur im Zeugenstand. Anhand von Zofia Nałkowskas Medaliony und Kazimierz Moczarskis Rozmowy z katem
- 8. An den Grenzen von Sprache und Zeugenschaft …
- I. Das „Unausdrückbare ausdrücken“, das „Unbezeugbare bezeugen“
- II. Die „kontaminierte Sprache“, Shoa als „dämonischste Verschwörung zwischen Literatur und Leben“ und die Zeugenschaft
- III. Sprachvertrauen als Grundvoraussetzung jeder Zeugenschaft: „Intellektuelle Zeugenschaft“ wider den Zivilisationsbruch, „sekundäre Zeugenschaft“ wider das Vergessen
- 9. Die Perspektivität: Innen- und Außenperspektive im Hinblick auf das Warschauer Ghetto
- Teil III Der permanente Rechts-, Zivilisations- und Gattungsbruch
- 10. Bogdan Wojdowskis Roman Chleb rzucony umarłym oder die Ermordung des jüdischen Gedächtnisses
- I. Der Roman als „Tonaufnahme“. Chleb rzucony umarłym zwischen kunstvoller Romankomposition und Dokument
- II. Chleb rzucony umarłym als Roman von der zerbrochenen Identität und vom verzweifelten Versuch, diese Identität doch zu retten
- III. Das nationalsozialistische Eindringen in die jüdische Raum-Zeit, deren versuchte Okkupation und Zerstörung oder ein antisemitisches Purim-Fest
- IV. Das Ringen um Recht und Gerechtigkeit im Warschauer Ghetto. Zwischen mörderischer Identität und ständigem Aufschub, zwischen Ergebung und Rebellion
- V. Die apokalyptische Vorstellung einer „judenreinen“ Welt – die Auslöschung des jüdischen Gedächtnisses als Imperativ des Überlebens?
- VI. Die metaphysische Obdachlosigkeit oder Davids Ankunft im „schweigenden und gefühllosen Kosmos“?
- Teil IV Der „Chronotop des permanent schlechten Gewissens“ (1940er Jahre)
- 11. Der „Ausnahmezustand“ und das Gewissen der polnischen Katholiken
- 12. Skizze zu den Belastungen der polnisch-jüdischen Beziehungen aus der Zwischenkriegszeit
- 13. Skizze zu den polnisch-jüdischen Beziehungen während des Zweiten Weltkriegs
- 14. Zofia Kossak-Szczuckas Protest
- 15. Czesław Miłoszʼ Karussell vor dem Warschauer Ghetto als ein Symbol für Gleichgültigkeit und Sprachlosigkeit
- 16. Jerzy Andrzejewskis Wielki Tydzień – eine Augustinische Gewissenserforschung polnischer Prägung angesichts des Warschauer Ghettos574
- I. Die jüdischen Figuren und der polnische Blick – ein todbringender Blick?
- II. Noch einmal zurück zum Karussell auf dem Krasiński-Platz: Von der radikalen Entsolidarisierung zum „permanent schlechten Gewissen“
- III. Die Introspektion oder die Gewissenserforschung des Intellektuellen Jan Malecki angesichts des Warschauer Ghettos
- IV. Anna – die katholische Märtyrerin als Ideal?
- V. Die Solidarisierung im Kampf – die Überwindung der polnisch-jüdischen Paratopizität und Parachronizität?
- VI. Von Denunzianten, Erpressern, Vergewaltigern und Feiglingen
- VII. Resümee: Jerzy Andrzejewskis Wielki Tydzień – die schonungslose Erforschung des eigenen, des nationalen und des gesamtmenschheitlichen Gewissens?
- 17. Czesław Miłosz’ Biedny chrześcijanin patrzy na getto, das „Buch der Gattung“, der Gattungsbruch und „kontaminierte polnisch-christliche Seelenlandschaften“
- Teil V Der „Chronotop des permanent schlechten Gewissens“ (1980er Jahre)
- 18. Die Wiederauferweckung des Miłosz’ schen „Maulwurfs“ in den 1980er Jahren oder die „Rekonstruktion des Gedächtnisses“ an die Shoa
- 19. Jan Błońskis Essay Biedni Polacy patrzą na getto, das Ringen mit den „kontaminierten polnischen Seelenlandschaften“ und die Sehnsucht nach „Reinigung“
- 20. Jarosław Marek Rymkiewicz’ Umschlagplatz … oder: Der Versuch einer Historisierung des Ghettos im Bewusstsein des notwendigen Scheiterns am eigenen „schlechten Gewissen“
- I. Der Versuch einer Kartographierung des „Umschlagsplatzes“
- II. „Umschlagplatz“ als „totalitäres Territorium“ – als Ort der totalen Liquidierung des Gedächtnisses, des totalen „Mnemozids“?
- III. Die Revision der Vergangenheit und die Reaktivierung des „schlechten Gewissens“ mit Hilfe einer Fotographie
- IV. Schreiben über die Shoa als ständiges Scheitern an der Zeugnispflicht: Von der literarischen „Auto(r)dizee“ zur Theodizee und zurück
- V. Der „Riss“ im historischen Bewusstsein oder: die unerträgliche Präsenz des Absenten
- 21. Andrzej Szczypiorskis Roman Początek792
- I. Historisierung als Anschreiben gegen die „Trivialität“ des Überlebenskampfes?
- II. Der allwissende Erzähler: Von Anfang bis zum Ende …
- III. Der „Anfang“: Warschau – als Raum des permanenten Rechtsbruchs
- IV. Das Ende: Die Transformation des Warschauer Ghettos in einen Historiotop oder das Schicksal des jüdischen Jungen Henryk Fichtelbaum und der preußische Postwagen, mit dem Hegel nach Sankt Petersburg fuhr
- V. Das Schicksal des jüdischen Mädchens Joasia Fichtelbaum und das Prinzip der „ewigen Nachahmung“
- VI. Das Karussell und die unsägliche Hilflosigkeit des Intellektuellen angesichts des „Triumphes des Bösen“ – der Ausbruch aus dem „Chronotop des permanent schlechten Gewissens“
- VII. Początek – ein „europolnischer“ Roman voller Stereotype
- VIII. „Anfang“ ohne Juden – der Aufbruch in ein demokratisches Polen
- Teil VI Der „Chronotop des permanent schlechten Gewissens“ (nach der Wende)
- 22. Schmerzhafte Debatten: Jedwabne und der „Historikerstreit à la polonaise“
- 23. Noc żywych Żydów – eine Reise ins Subterritorium von Warschau
- I. Muranów als „Ruine“ und als Ort des „Unheimlichen“ sowie Bohdan Lacherts gescheiterter Versuch, die „ghostware“ zu entschärfen …
- II. Von der „Leere“ zur Plünderung
- III. Subterritorialisierung und „Verdrängung“
- IV. Der Patient – ein Durchschnittsbürger im Warschau des 21. Jahrhunderts
- V. Saubere Abrechnungen
- VI. „Lernen, mit den Gespenstern zu leben“ oder Leben an einem Traumatotop
- VII. Die metaphysische Schlacht zwischen „Gut“ und „Böse“ im Konsumparadies „Arkadia“ – inszeniert als Computerspiel zur virtuellen Unterhaltung eines „banalen Nihilisten“?
- VIII. Von der Vivisektion des polnischen Seelenlebens zur therapeuthischen Wirkung der Trauer
- Teil VII Die moralische Zeugenschaft
- 24. Der moralische Zeuge als umfassendster Zeugentypus
- 25. Janusz Korczak und Irena Sendlerowa als Bewahrer der Menschlichkeit in einer unmenschlichen Zeit
- 26. Marek Edelman – der moralische Zeuge und das alternative Ghetto- und Aufstandsnarrativ984
- I. Die Shoa als Bruchpunkt der Identität und die dialogische Form der „literarischen Reportage“
- II. Zdążyć przed Panem Bogiem als „Chronotop des Einsatzes für jedes einzelne Menschenleben“
- III. Marek Edelman und sein narrativer Kampf um und gegen den Heldenbegriff
- 27. Schluss … Folgerungen: Aufbruch in die „moralische Zeugenschaft“
- Literaturverzeichnis
- Personenverzeichnis
- Reihenübersicht
Dank
Der Abschluss eines Werkes, das auch einen Forschungsprozess abschließt, ist immer auch ein Anlass zu Dank. Nahezu jede Forschungsarbeit bedarf der Einbettung in einen institutionellen Rahmen: Erst das Jan-Evangelista-Purkyně-Fellowship, auf dessen Grundlage ich vom Mai 2014 bis Ende April 2019 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Slawischen Institut der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik angestellt war, ermöglichte es mir, die hier veröffentlichte Forschungsarbeit zum Warschauer Ghetto in der polnischen Literatur fertigzustellen. Die Publikation dieses Werkes wurde aus den von der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik vergebenen Mitteln der Strategie AV21 (zur Förderung von Forschungen im öffentlichen Interesse) finanziert. Ganz besonderer Dank gebührt dem Slawischen Institut, in dem ich ein meiner wissenschaftlichen Tätigkeit förderliches Arbeitsumfeld vorfand. Vor allem Frau Dozentin Dr. Helena Ulbrechtová, der damaligen Direktorin des Slawischen Institutes und jetzigen Leiterin der literaturwissenschaftlichen Abteilung am selben Institut, habe ich es zu verdanken, dass meine Kandidatur für das Jan-Evangelista-Purkyně-Fellowship erfolgreich war. Sie begleitete meine Projekte am Slawischen Institut stets mit großem Wohlwollen und trug maßgeblich zu deren wissenschaftlich-inhaltlichen Profilierung bei. Sie nahm sich immer wieder die Zeit, meine wissenschaftliche Arbeit in organisatorischer und analytisch-kritischer Weise zu unterstützen. Ohne ihre Unterstützung und Freundschaft hätte diese Arbeit nicht entstehen können. Danken möchte ich auch dem derzeitigen Direktor Dr. Václav Čermák, der meine Projekte ab Mai 2017 stets freundlich unterstützte und ein offenes Ohr für meine Anliegen hatte. Insgesamt möchte ich festhalten, dass ich das Slawische Institut als einen Ort empfunden habe, wo sich die alltägliche Forschungsarbeit mit einer menschlichen und freundschaftlichen Atmosphäre verbindet.
Besonders hervorheben möchte ich im Zusammenhang mit der Entstehung dieses Buches meine Jahre am Institut für germanische Philologie der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań: Dort war ich von 2005 bis 2011 Lektor am Lehrstuhl für österreichische Literatur und Kultur unter der damaligen Leitung von Prof. Dr. Stefan H. Kaszyński, den ich heute nicht nur als meinen wissenschaftlichen Förderer, sondern auch als Freund betrachten kann. Erst die intellektuelle Atmosphäre an diesem Lehrstuhl, an dem österreichische, deutsche und polnische Literatur und Kultur gleichermaßen präsent sind, ließ mich etwas von der Brisanz und Eigenart der polnischen Literatur spüren. An diesem Lehrstuhl wurde ich dazu ermutigt, mich sowohl der österreichischen als auch der polnischen Literatur zuzuwenden. Dort lernte ich zwei weitere, für die Entstehung dieser Arbeit wichtige Freunde kennen – Dr. Katarzyna Sliwińska und Dr. Lothar Quinkenstein. Letzterer ist ein tiefgründiger Kenner der polnisch-jüdischen Thematik und Übersetzer polnischer Literatur. Den Gesprächen mit ihm habe ich viele wertvolle Hinweise und Anregungen zu verdanken. Ganz besonders aber möchte ich den Beitrag ←13 | 14→hervorheben, den Frau Dr. Katarzyna Sliwińska zur Entstehung dieser Arbeit leistete: Sie war es, die mich in all den Jahren, in denen ich mich mit der Thematik der Shoa und des Warschauer Ghettos in der polnischen Literatur beschäftigte, an ihrem profunden Wissen über die polnische Literatur zu Krieg und Shoa, über erinnerungskulturelle und -politische Diskurse teilhaben ließ. Ohne ihre Hinweise wäre diese Arbeit um einige Facetten ärmer, vor allem auch im Hinblick auf aktuelle Debatten. Darüber hinaus hat Frau Dr. Sliwińska die polnischen Zitate und Übersetzungen ins Deutsche überprüft und verbessert.
Nicht unerwähnt lassen möchte ich Prof. Dr. Dirk Uffelmann, damals Inhaber des Lehrstuhls für Slavische Literaturen und Kulturen an der Universität Passau, derzeit Inhaber des Lehrstuhls für Slavische Literaturwissenschaften an der Universität Giessen. Er hat die Anfangsphase der Konzipierung dieser Arbeit intensiv begleitet und mir in dieser Phase sowohl wissenschaftliche als auch institutionelle Unterstützung (durch Anstellungsverhältnisse und Lehraufträge) angedeihen lassen. Damit hat er einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass diese Arbeit entstehen konnte. Gedankt sei auch Prof. Dr. Alois Woldan, der durch seine Seminare und Vorlesungen mein Interesse für die Polonistik geweckt hat und mir immer wieder seine Zeit für wissenschaftliche Hintergrundgespräche zur Verfügung gestellt hat.
Unentbehrlich gerade in der letzten Phase der Entstehung dieses Werkes war die Hilfe meines Vaters Dr. Ägid Höllwerth, der das Typoskript mehrmals durchgelesen hat und zu seiner Verbesserung im Hinblick auf Orthographie, Interpunktion und Stilistik beigetragen hat. Gleichzeitig möchte ich ihm auch meinen Dank aussprechen für die intellektuelle, von Büchern und Diskussionen geprägte Atmosphäre in unserem Elternhaus – hier lernte ich Bücher „lieben“, kritisch denken und argumentieren. Dank gebührt auch Mag. Julian Pokay, der die Zusammenfassungen am Beginn eines jeden großen Abschnitts ins Englische übersetzt hat. Auch Herrn Dr. Siegfried Ulbrecht, meinem Kollegen und Freund am Slawischen Institut, danke ich für seine Bereitschaft, mich bei Fragen zur deutschen Stilistik zu beraten. Ganz besonders sei auch Herrn Prof. Dr. Claus Leggewie für die Verfassung des Vorworts gedankt und für sein Buch zur „europäischen Erinnerung“, das auch diese Arbeit inspiriert hat. Frau Prof. Dr. Joanna Jabłowska wiederum danke ich für die freundliche Aufnahme dieser Studie in die Reihe „Lodzer Arbeiten zur Literatur- und Kulturwissenschaft“ ebenso wie für ihre genaue, kritische Lektüre und ihre Verbesserungsvorschläge, von der die Arbeit profitierte. Mein Dank gilt auch Frau Dr. Kalina Kupczyńska und Herrn Prof. Dr. Artur Pełka für deren kritische Lektüre und wertvolle Korrekturen.
Abschließend sei auch meiner Gattin Mag. Janina Höllwerth-Schelechowa gedankt, die mich während der Jahre der Entstehung dieser Arbeit bisweilen in lebenspraktischen Fragen entbehren musste – für ihr Verständnis und für ihre Liebe. Ganz am Schluss auch noch ein dickes Bussi an meine beiden Kinder Nicolas und Anna, die mich ab und an von der Wissenschaft abgehalten haben und denen ich es zu verdanken habe, dass ich trotz der Beschäftigung mit diesem traurigen und ernsten Thema das Lachen nicht verlernt habe.
Hinweise zur Textgestaltung
Wie jede wissenschaftliche Arbeit kommt auch diese nicht ohne technische Hinweise zur Textgestaltung aus. In der folgenden Arbeit werden längere polnische Zitate immer ins Deutsche übersetzt bzw., falls vorhanden, Übersetzungen zitiert. In der Fußnote wird aber immer – auch im Falle von sog. „Sekundärliteratur“ – das polnische Original angeführt. Falls jedoch ein solches nicht vorhanden ist, weil etwa das Original in jiddischer oder englischer Sprache verfasst worden ist, dann wird nur die deutsche Übersetzung zitiert. Die Ringelblum-Chronik, das Ghettotagebuch des Historikers Emanuel Ringelblum, ist hier eine Ausnahme – sie wird in polnischer Übersetzung zitiert, obwohl ihre Originalversion in jiddischer Sprache verfasst worden ist. Ihre Übersetzung ins Polnische besorgte in den 1950er Jahren bereits Adam Rutkowski, wurde aber aufgrund der antisemitischen Propaganda im Jahre 1968 nicht gedruckt und konnte erst in den 1980er Jahren erscheinen. Damit ist sie als Übersetzung direkt mit unserer Thematik verbunden. Durch den Verzicht auf polnische Zitate im Fließtext soll dem deutschsprachigen Leser ein flüssigeres Lesen ermöglicht werden, gleichzeitig aber soll der slavistisch-polonistische Charakter der Arbeit gewahrt bleiben – daher verbleiben die polnischen Originale in den Fußnoten, sodass dem des Polnischen kundigen Leser der Blick in die Originalversion des Textes stets möglich ist. Titel und einzelne polnische Wörter oder Halbsätze, die für die Analyse wesentlich sind, bleiben im Fließtext, entweder werden die Originale oder die deutschen Übersetzungen in Klammern gesetzt. Eckige Klammern werden für Übersetzungen und Auslassungen verwendet, runde Klammern verweisen auf den ergänzenden und erläuternden Charakter des in Klammer gesetzten Ausdrucks: Wird im Fließtext eine Übersetzung ins Deutsche verwendet, wird das polnische Original in runden Klammern ergänzt. Wird die deutsche Bedeutung eines griechischen Ausdrucks wie „dike“ in Klammern erläutert, so werden runde Klammern gesetzt. Wird im Fließtext das polnische Original zitiert, wird die Übersetzung ins Deutsche in eckige Klammern gesetzt. Da diese Analyse sich in erster Linie der polnischen Literatur zuwendet, haben wir darauf verzichtet, Texte russischer Autoren wie etwa Michail M. Bachtin oder Jurij M. Lotman im Original anzuführen, da dadurch kein analytischer Zugewinn erzielt würde.
Bei den Literaturangaben in den Fußnoten gilt, dass die selbstständigen Titel kursiviert werden. Bei einem zitierten Zeitschriftenartikel oder einem Beitrag in einem Sammelband wird bei der erstmaliger Zitation der Titel der Zeitschrift bzw. des Sammelbandes kursiviert, bei allfälligen weiteren Zitationen wird ein gekürzter Titel des Zeitschriftenartikels bzw. des Sammelbandbeitrages in kursivierter Form angeführt. Auf eine Unterscheidung zwischen „uneigentlichen“ und „eigentlichen“ Zitaten durch Verwendung von einfachen und doppelten Anführungszeichen wurde bewusst verzichtet, da die eigentlichen Zitate ohnedies durch Literaturangaben ausgewiesen sind. Einfache Anführungszeichen werden nur für Zitate in Zitaten verwendet. In den Literaturangaben wurde auch auf die häufig ←15 | 16→verwendeten Abkürzungen wie vgl., siehe etc. verzichtet, da wörtliche Zitate durch die Verwendung von Anführungszeichen klar von indirekten Wiedergaben unterscheidbar sind.
Nun noch ein Wort zur Verwendung der „Wir“-Form, die dem heutigen Leser bzw. der heutigen Leserin „antiquiert“ erscheinen könnte: Wir haben diese Form bewusst gewählt. Sie ist keinesfalls als Pluralis Majestatis zu verstehen, der dem Autor eine besondere Würde verleihen soll. Sie soll vielmehr als eine dialogische Form verstanden werden, die zwischen den Lesern und dem Autor eine Gemeinschaft „sekundärer Zeugenschaft“ stiftet – in der gemeinsamen Lektüre und Analyse von Texten zum Warschauer Ghetto. Eine solche Gemeinschaft will und soll keineswegs vereinnahmen, da der Dialog, auf dem sie beruht, ein kritischer sein soll, der nicht unreflektiertes Mitgehen, sondern auch Dissens miteinschließt und vorsieht. Auch wenn wir es in dieser Untersuchung nicht unmittelbar mit der Erfahrung des Ghettos, sondern mit Texten, in denen der reale Ereignisraum des Ghettos re- und dekonstruiert wird, zu tun haben, so wollen wir uns hier doch als Partizipanten an einer „sekundären“ intellektuellen Zeugenschaft der Shoa verstehen – und diese Partizipation übersteigt den Horizont meines, unseres „Ich“. Claude Lanzman sagt in einem später zitierten Interview über die in seinem Film auftretenden Zeugen der Vernichtung: „Sie sagen immer ‚wir‛, sie sagen niemals ‚ich‛“.
Auf ein eigenes Abkürzungsverzeichnis wird verzichtet, da nur geläufige Abkürzungen verwendet werden – weniger bekannte Abkürzungen werden direkt im Text „dechiffriert“. Ansonsten haben wir uns bemüht, bei der Gestaltung des Textes wissenschaftlichen Standards und dem Prinzip der Einheitlichkeit, soweit als möglich, zu genügen. Wir hoffen daher, dass es uns gelungen ist, den Text so zu gestalten, dass es dem geneigten Leser/der geneigten Leserin möglich ist, sich auf die inhaltliche Analyse der Texte zu konzentrieren.
Vorwort
Claus Leggewie
Die vorliegende Studie zum Warschauer Ghetto kann ich als wichtigen Beitrag zur Europäischen Erinnerungskultur nachdrücklich empfehlen. Sehr zu Recht wendet Alexander Höllwerth in seiner so originellen wie minutiösen Arbeit den Terminus auf den Fall des Ghettos an, in dem sich die Wege der polnischen Juden, der Warschauer Bevölkerung und der deutschen Okkupanten so unheilvoll überschnitten: erstere als Opfer einer unvorstellbaren Gewalttat, letztere als Vollstrecker eines regelrechten Zivilisationsbruchs, die Polen teils im Widerstand, aber auch in einer antisemitischen Kollusion. Dieses Spannungsverhältnis hat Höllwerth aus polnischen Quellen der literarischen Überlieferung herausgearbeitet, vieles davon in dieser Breite und Konsistenz erstmals für ein deutschsprachiges Publikum. Das polnisch-jüdisch-deutsche Konfliktdreieck so zu benennen, hindert nicht daran, das Ghetto als europäischen Erinnerungsort zu markieren – im Gegenteil: Im Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist es geradezu die Voraussetzung. Europäisch ist ein Ort nicht durch Homogenisierung und Assimilation, auch nicht durch eine dogmatisch festgelegte Geschichtsinterpretation; europäisch wird er, weil hier kulturelle Differenzen aufeinanderprallen und unterschiedliche Sichtweisen ausdrücklich zugelassen sind. Daran zeigt sich auch, dass Geschichtsereignisse und Katastrophen nicht entlang nationaler Grenzen und Loyalitäten wahrgenommen und beurteilt werden, sondern grenzüberschreitend unter Gesichtspunkten von Menschlichkeit, Empathie und Vernunft. Um den Autor zu zitieren: „Die Botschaft des Warschauer Ghettos richtet sich keineswegs nur an die Polen, sondern an ganz Europa. Daher sollen die literarischen und essayistischen Texte über das Warschauer Ghetto Teil einer gesamteuropäischen Narration, einer gesamteuropäischen Literaturgeschichtsschreibung werden. Sie erzählen vom permanenten Rechts-, Zivilisations- und Gattungsbruch vor den Augen aller, mitten in der Stadt Warschau, mitten in Polen, mitten in Europa. Sie erzählen auch von der Kontamination des moralischen Bewusstseins, der Kultur und der Sprache angesichts dieses Menschheitsverbrechens. Wer die Botschaft des Warschauer Ghettos vernimmt und beherzigt, wird sich nicht mehr leichtfertig einer Rhetorik der Ausgrenzung bedienen, weil er weiß, dass der Übergang von der Rhetorik zur realen Gewalt fließender ist, als man bisweilen glauben möchte.“
Leider droht Europa dieser transnationale Blick unter dem Druck eines regressiven, illiberalen Nationalismus abhanden zu kommen. Revisionistische Kräfte bestreiten und zerstören allerorts den erzielten Konsens, der stets einem fragilen „agree to disagree“ gleichkam, mit einer auf Eindeutigkeit getrimmten national-konservativen Geschichtspolitik, die gar nicht erst verstehen und einfühlen will, sondern starre Selbstbehauptung. Sie nimmt dabei die Klitterung und Fälschung der Geschichte und Wahrheit bewusst in Kauf, mit aberwitzigen ←17 | 18→Gesetzen und Strafandrohungen, auch mit Gängelungen und Entlassungen von Historikern und Museumsdirektoren. Jahrelange Anstrengungen der polnisch-deutschen Kooperation und der polnisch-jüdischen Versöhnung werden damit aufs Spiel gesetzt.
Höllwerths Buch ist ein kleiner, aber wichtiger Baustein, um das zu verhindern und eine aufrichtige europäische Erinnerungskultur zu erhalten und voranzubringen.
Einleitung
Dieses Buch handelt vom Warschauer Ghetto1 in der polnischen Literatur. Markus Roth und Andrea Löw schreiben in der Einleitung zu ihrer Monographie über das Warschauer Ghetto, dass dieses keine sichtbaren Spuren in der Stadt hinterlassen habe. Sie fahren fort:
Dennoch entwickelte sich das Warschauer Getto nach dem Krieg schnell zu dem Erinnerungsort für die Verfolgung der polnischen Juden, vor allem für ihren Widerstand. So wie Auschwitz für den Massenmord an den europäischen Juden insgesamt steht, so ist Warschau sicherlich das Getto des Holocaust. Der Aufstand im Getto, der tragische bewaffnete Kampf gegen die militärische Übermacht ist weltweit zu einem Symbol geworden.2
In der polnischen Literatur jedenfalls hat das Warschauer Ghetto deutliche Spuren hinterlassen. In den Texten der Literatur spiegelt sich auch eine spezifisch polnische Erinnerungskultur wider, mit der wir uns auseinandersetzen müssen, wenn wir diese Texte verstehen wollen. Gleichzeitig aber prägen die Texte ihrerseits die Erinnerungskultur und sind ein integrativer Bestandteil von ihr. Mitzubedenken sind auch die erinnerungspolitischen Rahmenbedingungen, die in den 1950er Jahren andere waren als Ende der 1980er Jahre, in der Ära des Kommunismus andere als in der postkommunistischen Zeit. Das Zeitspektrum, in dem die hier behandelten Texte über das Warschauer Ghetto entstanden, reicht von den 1940er über die 1980er bis in die 2010er Jahre. Im ersten Teil dieser Abhandlung wird versucht, mit Hilfe von Michail M. Bachtins Chronotop-Begriff und Carl Schmitts Konzept des „Ausnahmezustandes“ in der Rezeption von Giorgio Agamben begriffliche Kategorien zu erarbeiten, mit deren Hilfe wir imstande sind zu begreifen, wie der Ereignisraum des Warschauer Ghettos in literarische Texte Eingang findet. Dieser Versuch ist aber gleichzeitig vom Bewusstsein getragen, dass alle Begriffe, seien sie nun narratologischer, rechts-, kultur- und geschichtswissenschaftlicher oder philosophischer Art, am Abgrund des Geschehens scheitern müssen. Die Shoa ist ein „Ereignis“, an dem historische, zivilisatorische und gesamtmenschheitliche Kontinuitäten zerbrechen – sie ist daher nicht nur als permanenter Rechts-, sondern auch als Zivilisations- und Gattungsbruch zu verstehen. Im zweiten Teil wird Polen als Schauplatz der Shoa mit der Augenzeugenschaft der polnischen Literatur im Sinne von Henryk Grynberg in Verbindung gebracht – das Warschauer Ghetto kann nicht losgelöst von Polen als „Schauplatz und Gedächtnisraum“ (Barbara Breysach) betrachtet werden. Der ←19 | 20→kulturelle, literarische und philosophische Diskurs über das Warschauer Ghetto ist in einen Bezug zu setzen zum Diskurs über Auschwitz, jenen Ort in Polen, der für maßgebliche westliche Intellektuelle (Agamben, Lyotard, Adorno) zur Chiffre für die Shoa insgesamt wurde. Auschwitz steht für ein massenmörderisches Geschehen, an dem (literarische) Augenzeugenschaft und Sprache an ihre Grenzen gelangen: Von der Sprachlosigkeit, die im „Muselmann“ (Primo Levi, Giorgio Agamben) seine nahezu schon „entkörperte“ Verkörperung findet, sind auch andere Schauplätze der Shoa, u. a. das Warschauer Ghetto, angerührt. Wenn auch die Kategorie der Zeugenschaft in ihren religiösen, historischen, juristischen und moralischen Ausformungen von der fundamentalen Erschütterung der Shoa nicht unangetastet bleibt, so muss dennoch an ihr festgehalten werden – schon aus Respekt vor den Opfern der Shoa, die sogar noch unter den Bedingungen des Ghettos, des Verstecks, des Lagers, bereits im Schatten der Vernichtung am Anspruch der Zeugenschaft festhielten, als Hoffnung auf eine Zukunft, in der das Verbrechen der Ermordung der europäischen Juden wieder als solches benannt, bezeugt und verurteilt werden kann. Auch wenn die Sprache (eigentlich: die Sprachen) die Shoa nicht unbeschadet überstanden hat und von der „Kontamination“, die die Shoa an ihren Schauplätzen hinterlassen hat, in ihrer (moralischen) Substanz angegriffen ist, bleibt sie dennoch das wichtigste Mittel der Zeugenschaft, zumal der literarischen Zeugenschaft. Durch die Sprache werden die Zuhörer, die Leser der Texte von Autoren, die über die Ereignisse der Shoa, in Auschwitz oder im Warschauer Ghetto, in faktualer oder auch in fiktionaler Form erzählen, in den Stand „sekundärer Zeugenschaft“ versetzt. Damit werden aber auch wir, die Leser, zu Zeugen – zu „sekundären“ und intellektuellen Zeugen. Wir können uns nicht mehr in eine Haltung moralischer Beliebigkeit flüchten, mit der Ausrede, wir hätten es ja bloß mit Texten, Diskursen, „moralisch arbiträren“ Sprachzeichen auf der Spielwiese postmoderner „Sprachspiele“ zu tun.
Durch den Begriff des „Schauplatzes“ wird der Schauende, der Augenzeuge in einem Raum verortet – dies impliziert aber, dass die Art, wie er ein Geschehen wahrnimmt, von seinem Standort im Raum abhängt. Dieser Standort bestimmt auch die „Wahrheit“, die er in seinem Augenzeugenbericht, allgemeiner: in seiner Narration sprachlich konstruiert, entscheidend mit. Damit ist die Perspektivität für die Texte über das Warschauer Ghetto in gnoseologischer sowie in narratologischer Hinsicht von ausschlaggebender Bedeutung: Die Perspektivität bestimmt, wie ein Augenzeuge in seinem Bericht oder eine Figur in einem fiktionalen Text die Ereignisse im Ghetto wahrnimmt, was er oder sie erkennt, was und wie er oder sie über bestimmte Ereignisse erzählt – dies macht schon der Titel von Czesław Miłosz’ Gedicht Biedny chrześcijanin patrzy na getto [Armer Christ schaut auf das Ghetto] (1945) deutlich. Die zwei zentralen Perspektiven, die in den Texten der polnischen Literatur im Hinblick auf das Warschauer Ghetto eingenommen werden, sind die Innen- und die Außenperspektive.
Im dritten Teil wird die Innenperspektive des Ghettos anhand von Bogdan Wojdowskis „Ghettoroman“ Chleb rzucony umarłym (1971), in der Übersetzung von Henryk Bereska: „Brot für die Toten“ (1974), beleuchtet: In die Welt des jugendlichen Protagonisten David, der in einer orthodoxen jüdischen Familie im ←20 | 21→Warschauer Ghetto heranwächst und von seinem Großvater liebevoll in das jüdische Alphabet und in die Tradition von Thora und Talmud eingeführt wird, bricht die mörderische Rassenideologie der Nazis herein. Die zwischen brutaler Realistik, kindlicher Phantastik und jüdischer Mythologie changierende Erzählästhetik des Romans dokumentiert letztlich auch das Scheitern der Ansätze eines jüdischen Bildungs- und Entwicklungsromans an der Realität des Warschauer Ghettos, in der eine solche Bildung und Entwicklung nicht mehr möglich ist. Schließlich ist David um des nackten Überlebens willen gezwungen, sich der mnemozidalen Logik der Nazis zu beugen. Gleichzeitig aber schafft er so die Möglichkeit zukünftiger Zeugenschaft. Damit hintergeht und überwindet der Roman von seinem narratologischen Ansatz her die Logik der „Endlösung“.
Der vierte Teil wendet sich nun der polnischen Außenperspektive zu: Das Ghetto versetzte auch seine polnisch-katholischen Nachbarn, die auf die dort verübten Verbrechen blickten, in einen „Ausnahmezustand“ und stellte für deren Gewissen eine schwere Belastung dar. Dabei stand auch das polnisch-jüdische Verhältnis, wie es sich in der polnischen Geschichte bislang gestaltet hatte, auf dem Prüfstand, wodurch der Blick der Polen auf das Ghetto nicht frei von Ambivalenz ist. Dieser Blick, eigentlich – diese Blicke der Polen werden in einer Reihe von Texten der polnischen Literatur der 1940er Jahre thematisiert, etwa in der bereits 1943 entstandenen Erzählung Wielki Tydzień (dt. Die Karwoche) aus der Feder des Schriftstellers Jerzy Andrzejewski, in Czesław Miłoszʼ Gedichten Campo di Fiori (1943) und Biedny chrześcijanin patrzy na getto. Im Hinblick auf diese Texte wird von einem „Chronotop des permanent schlechten Gewissens“ gesprochen. Einer genauen Analyse wird auch Zofia Kossak-Szczuckas Protest unterzogen, in dem sich die Autorin angesichts der Deportation der Bewohner des Warschauer Ghettos im August 1942 in einem dramatischen Appell an das Gewissen ihrer Landsleute wendet. Trotz seines Mutes und seines klaren moralischen Appells gibt es in dem Text auch antisemitische Unter- und Nebentöne.
Im fünften Teil rückt die Ära der Solidarność-Bewegung und des Endes der Volksrepublik Polen ins Zentrum der Aufmerksamkeit: In dieser Zeit ist eine erneute Zuwendung zur Shoa-Thematik und zum Warschauer Ghetto zu beobachten. Eine emotionale Debatte löste damals vor allem Jan Błońskis Essay Biedni Polacy patrzą na getto (dt. Die armen Polen schauen auf das Ghetto) (1987) aus, der das schlechte Gewissen der Polen reaktivierte und alte, immer noch nicht verheilte Wunden im Hin- und Rückblick auf die Zeit des Krieges und der Shoa wieder sichtbar werden ließ. Während Jarosław Marek Rymkiewicz’ ebenfalls damals publizierter Romanessay Umschlagplatz (1988) im Bewusstsein geschrieben ist, dass jeglicher Versuch einer Historisierung des Warschauer Ghettos am „permanent schlechten Gewissen“ scheitern muss, will ein anderer Roman aus diesen Jahren, Andrzej Szczypiorskis Początek [wörtlich: Der Anfang] (1986), genau das: Er will das Warschauer Ghetto zu einem „Historiotop“ machen und es in eine universale historische „Großerzählung“ integrieren. Während im deutschen Historikerstreit gerade die „Historisierung“ des Nationalsozialismus und der Shoa zur Debatte stand, ist Szczypiorskis Roman der narrative Versuch einer Historisierung des ←21 | 22→Zivilisations- und Gattungsbruches der Judenvernichtung – und scheitert dabei grandios und kläglich zugleich. Eben dieser Roman wurde in Deutschland unter dem attraktiveren Titel Die schöne Frau Seidenman (1988) zu einem Bestseller – vielleicht weil er dem deutschen „Historisierungsbedarf“ entgegenkam?
Der sechste Teil führt vor Augen, dass die „Schlacht um das polnische Gedächtnis“ auch in der postkommunistischen Ära noch nicht an ein Ende gekommen ist. Mit dem Millennium entflammt die sog. „Jedwabne-Debatte“, die als eine Art polnischer Historikerstreit charakterisiert wird: In dieser durch Jan T. Gross’ Buch Sąsiedzi. Historia żydowskiego miasteczka (dt. Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne) (2000) ausgelösten Debatte steht das über Jahrzehnte, ja Jahrhunderte lancierte martyrologische und heroische Geschichtsbild der Polen zur Disposition: Kann es denn sein, dass Mitglieder einer Nation der Opfer und Helden sich in der Shoa aktiver Täterschaft schuldig gemacht haben? Oder handelt es sich um eine gezielte Beschädigung des guten Rufes Polens? In den nunmehr schon fast drei Jahrzehnten, in denen sich die nationale Identität des postkommunistischen, demokratischen und rechtsstaatlichen Polen mühsam konstituiert, gab es viele Diskussionen, in denen es nicht zuletzt auch um die Juden und die Shoa ging. Auch die Literatur beteiligte sich mit zahlreichen Texten an diesem Diskurs. Einer dieser Texte stammt von einem Akteur im politischen Leben des postkommunistischen Polen, Igor Ostachowicz, dem PR-Mann Donald Tusks. „Alles schön und gut, wir haben ein unabhängiges Polen, ja, das ist super, aber was ist mit den Juden?“, formuliert Ostachowicz in legerer Art. Sein 2012 erschienener Roman Noc żywych Żydów [Nacht der lebenden Juden] zeigt auf, wie die unbetrauerten „toten Juden“ des Warschauer Ghettos das Leben der postkommunistischen Metropole „unheimlich“ und „gespenstisch“ werden lassen. Sein popkultureller Roman ist als eindringlicher Appell zu lesen, die „subterritorialisierten“ „toten Juden“ des Warschauer Ghettos endlich „nach oben“ zu lassen und in einem Prozess des „historischen Trauerns“ in das eigene polnische Gedächtnis zu integrieren. Nur so kann verhindert werden, dass die „toten Juden“ als „ghostware“ (Aleksandr Ėtkind) die Wohnungen (die „Identitätsarchitekturen“) der Warschauer „unsicher“ machen.
Der siebte Teil versucht mit Verweis auf Irena Sendlerowa und Janusz Korczak als Bewahrer der Menschlichkeit in einer unmenschlichen Zeit einen Weg des Ausbruchs aus den „Chronotopen des permanent schlechten Gewissens“ zu weisen – einen Weg des Aufbruchs in eine moralische Zeugenschaft ex positivo, die im Unterschied zur moralischen Zeugenschaft ex negativo nicht nur ein Zeugnis vom Gattungsbruch der Shoa ablegt, sondern auch davon, dass es möglich war und ist, inmitten eines Menschheitsverbrechens nach den Gesichtspunkten einer humanitär geprägten Moral zu handeln. Der Ghettokämpfer und Arzt Marek Edelman verbindet beide Formen der Zeugenschaft: Er legt in ungeschönter Form Zeugnis von der Welt des Ghettos ab, wie sie sich ihm darstellte – einer Welt des Hungers, der Krankheit und des Todes. Obwohl selbst ein Teilnehmer des Ghettoaufstandes lehnt er sich gegen eine triumphalistische Überhöhung des Heldenbegriffes und eine narrative „Nichtigmachung“ des anonymen Todes von Hunderttausenden in den Gaskammern auf. Er (bzw. Hanna Krall) versucht den Bruch zwischen seiner ←22 | 23→Ghettonarration und der Narration über sein Leben als Arzt, als welcher er nach dem Krieg tätig war, sichtbar zu machen. Dadurch aber wird seine Narration zu einem „Chronotop des Einsatzes für jedes einzelne Menschenleben“: Für Marek Edelman verbinden sich die Zeugenschaft von dem, was damals im Warschauer Ghetto geschehen ist, und der Einsatz für die, deren Leben heute in Gefahr ist, die heute verfolgt werden, die heute der Bedrohung durch Terror und Krieg ausgesetzt sind, zu einem Gestus moralischer Zeugenschaft. So aber kann der Kampf um das Gedächtnis nicht mehr losgelöst betrachtet werden vom Einsatz für die Verfolgten, „Erniedrigten und Beleidigten“ unserer Tage. Vielleicht ist es kein Zufall, wenn national verengte Erinnerungspolitiken bisweilen Hand in Hand mit der Schaffung eines negativen Klimas gegen die vor Terror und Krieg aus ihren Heimatländern Geflohenen einhergehen.
Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie, der in seinem Buch Der Kampf um die europäische Erinnerung … den Holocaust als negativen Gründungsmythos Europas bezeichnet, zählt sieben Kreise europäischer Erinnerung auf: Auf den innersten Kreis, den Holocaust, folgen der GULag, die ethnischen Säuberungen, Kriege und Krisen, Kolonialverbrechen, Migrationsgeschichte und, als äußerster Kreis, die europäische Integration.3 Wer mit Leggewie alle sieben Kreise als Fundament für eine europäische Erinnerung zusammendenken will, wird nicht mehr imstande sein, eine exklusive nationale oder eine exklusive europäische Erinnerungspolitik zu forcieren, die mithilfe rhetorischer Ausgrenzung eine nationale oder auch eine europäische Identität gegen die „Anderen“ propagiert. Zu sehr sind wir über die Kreise unserer Erinnerung mit den sog. „Anderen“ verbunden. Wer in der Gegenwart über eine europäische Migrations- und Asylpolitik debattiert, sollte zumindest die europäische Kolonialgeschichte mitbedenken. Auch sollte immer mitbedacht werden, dass es in all den Debatten um konkrete Menschen geht – um die Würde und die Rechte von Menschen, die aufgrund von Kriegen und politischen Umbrüchen um Leib und Leben bangen müssen.
Dieses Buch, das sich dem Thema des Warschauer Ghettos in den Chronotopen der polnischen Literatur zuwendet, versteht sich explizit als Beitrag im Ringen um eine europäische Erinnerung – es ist in deutscher Sprache geschrieben und setzt sich mit der Wahrnehmung des Gattungsbruchs der Shoa in wichtigen Texten der polnischen Literatur auseinander. Es ist geschrieben im Bewusstsein um die Differenz: „Der Mord an den europäischen Juden wird in Deutschland und Polen je spezifisch gedeutet und aufgearbeitet, aber der Holocaust bestimmt zugleich die gesamteuropäische Erinnerung“.4 Diese Differenz in der Deutung und Aufarbeitung der Shoa zeigt sich auch in den in diesem Buch analysierten Texten zum Warschauer Ghetto. Daher versteht sich dieses Buch nicht zuletzt als Beitrag zu ←23 | 24→einem deutsch-polnischen Dialog im Hin-Blick auf das Warschauer Ghetto und auf die Shoa insgesamt. Durch die Beschäftigung mit der anderen, der polnischen Wahrnehmung bezeugen wir unseren Nachbarn Respekt – und dieser Respekt ist gerade angesichts einer Geschichte von Krieg und Okkupation, in der die Nationalsozialisten den Polen mit Verachtung begegneten und die polnischen (Seelen-)Landschaften mit der Saat von Terror und Völkermord kontaminierten, notwendig. Eben dieser Respekt ist es auch, der von uns verlangt, den schwierigen Versuch zu wagen, polnische Sichtweisen einerseits zu verstehen, diese aber andererseits nicht einfach nur kritiklos zu übernehmen. Wer Konfliktstoffe, kritische Fragen und Unterschiede in den Betrachtungen, Bewertungen und Interpretationen von Geschichte und Gegenwart einfach ausspart, begibt sich der Chance auf einen echten Dialog. Nur wer seinem Gesprächspartner in einer Haltung des kritischen Verstehens begegnet, erweist ihm auch die nötige Achtung. Die hier analysierten Texte können uns helfen, zu so einer Haltung kritischen Verstehens zu gelangen.
Gerade die Texte, die in den 1980er Jahren entstanden sind, etwa Szczypiorskis Początek, Rymkiewicz’ Umschlagplatz oder auch Kazimierz Moczarskis Rozmowy z katem (dt. Gespräche mit dem Henker) verdeutlichen, dass in Polen ebenso wie in anderen Ländern Mittel- und Osteuropas die Erinnerung an das zweite totalitäre Regime des 20. Jahrhunderts, den Stalinismus, mindestens ebenso präsent wie die Erinnerung an die Shoa ist:
Wenn man also eine Gesamtschau der Menschheitsverbrechen im 20. Jahrhundert anstrebt, wird aus dem Kern der westeuropäischen Erinnerung, dem Holocaust-Gedächtnis, in der Perspektive des „GULag-Gedächtnisses“ jeweils ein Halbkreis, und beide Halbkreise fügen sich zur totalitären Erfahrung des 20. Jahrhunderts. Man gerät allerdings in grobschlächtigen Varianten der Totalitarismusthese (rot gleich braun) rasch auf die schiefe Ebene der wechselseitigen Relativierung und Aufrechnung. Die Herausforderung der europäischen Erinnerungskultur besteht mithin darin, das „Singuläre“ am Zivilisationsbruch der industriell-bürokratischen Vernichtung der europäischen Juden herauszustellen, ohne die systematische Ausrottung der „Klassen- und Volksfeinde“ im sowjetischen Machtbereich herunterzuspielen.5
Es war der russische Schriftsteller Vasilij Grossman, der in seinem großen Romanepos Żizn’ i sud’ba (dt. Leben und Schicksal) aufgezeigt hat, dass beiden Formen des Totalitarismus eine zutiefst menschenverachtende Logik zugrunde liegt – eine Logik, in der das Leben von Einzelmenschen bedeutungslos ist. Literatur kann sich dieser totalitären Logik der Menschenverachtung widersetzen, indem sie den Leben und Schicksalen ihrer Figuren, Protagonisten, Ich-Erzähler etc. nachgeht, ihrem Dasein, das totalitäre Regime millionenfach bedenkenlos zum Erlöschen brachten, wieder Bedeutung verleiht. Kazimierz Moczarskis dokumentarischer Roman Rozmowy z katem widersetzt sich dem Antihumanismus des Totalitären ←24 | 25→sosehr, dass er sogar noch dem Henker, Jürgen Stroop, dem SS-Offizier, der für die Niederschlagung des Ghettoaufstandes verantwortlich war, jene bedeutungsverleihende Aufmerksamkeit zuteilwerden lässt, die sein „Leben und Schicksal“ in seiner Verwicklung in die verbrecherische Ideologie und Praxis des Nationalsozialismus zu verstehen und in eine Narration zu bringen versucht.
Dieses Buch, das sich mit dem Warschauer Ghetto in zentralen Texten der polnischen Literatur auseinandersetzt, versteht sich als Beitrag zu einer europäischen Erinnerungskultur, in der des Zivilisations- und Gattungsbruchs der Shoa gedacht wird – im Bewusstsein der tiefen Menschenverachtung, die beiden totalitären Regimen, dem nationalsozialistischen wie dem stalinistischen, inhärent ist. Das Lesen und Analysieren von Texten über das Warschauer Ghetto wird dabei als ein Akt verstanden, der Erinnerung, Gedächtnis und sekundäre sowie intellektuelle Zeugenschaft konstituiert. Der Leser partizipiert an einer Erinnerungskultur, die sich nicht mehr nur als ein der Vergangenheit zugewandtes Ritual, sondern als ein auf die Zukunft gerichteter Akt der Bewusstwerdung versteht. Wie dieser Akt der Bewusstwerdung in aktives Handeln, in Gestalten von Politik und Gesellschaft übergehen kann, versucht der letzte Teil dieses Buches aufzuzeigen. Teilnahme an einer europäischen Erinnerungskultur könnte, so verstanden, bedeuten, dass man sich immer wieder von Neuem, in erinnernder Auseinandersetzung mit dem Zivilisations- und Gattungsbruch der Shoa, diesem widersetzt. So betrachtet ist eine europäische Erinnerungskultur ein Prozess, der nie an ein Ende kommt, denn: Mit der Vergangenheit abzuschließen, würde bedeuten, mit der Gegenwart und der Zukunft abzuschließen.
←25 | 26→1 In diesem Buch werden wir uns der Schreibweise „Ghetto“ bedienen – die Schreibweise „Getto“ wird nur in direkten Zitaten verwendet.
2 Markus Roth, Andrea Löw: Das Warschauer Getto. Alltag und Widerstand im Angesicht der Vernichtung. München 2013, S. 7.
3 Claus Leggewie (zusammen mit Anne Lang): Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt. München 2011, S. 14.
4 Claus Leggewie (zusammen mit Anne Lang): Der Kampf um die europäische Erinnerung …, S. 50.
5 Claus Leggewie (zusammen mit Anne Lang): Der Kampf um die europäische Erinnerung …, S. 24f.
Details
- Pages
- 540
- Publication Year
- 2020
- ISBN (PDF)
- 9783631814895
- ISBN (ePUB)
- 9783631814901
- ISBN (MOBI)
- 9783631814918
- ISBN (Hardcover)
- 9783631779279
- DOI
- 10.3726/b16652
- Language
- German
- Publication date
- 2020 (November)
- Keywords
- Holocaustliteratur Erinnerungskultur Erinnerungspolitik Literarische Zeugenschaft Giorgio Agamben Carl Schmitt Chronotop, Chronotopos Narratologie
- Published
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 540 S.