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Aufgerichtet werden

Zum Potenzial von Religion und Spiritualität für Entwicklung

von Christine Gühne (Autor:in)
©2019 Dissertation 386 Seiten

Zusammenfassung

Menschen werden aufgerichtet und verändern sich tiefgreifend in ihren Selbst- und Weltbildern, wenn sie sich selbst als gewürdigtes Gegenüber Gottes erfahren. Diese Erfahrung ist unverfügbar und eröffnet dennoch Räume für individuelle und soziale Transformationen. Formate der Entwicklungszusammenarbeit, die diese Erfahrungen integrieren, teilen, vertiefen und reflektieren, bauen auf einem intrinsischen Fundament auf, das tragfähig ist und auf dem gemeinsam nach Werten und Zielen gesucht werden kann. Nachhaltige Armutsbekämpfung benötigt diese Art des gemeinsamen Arbeitens innerhalb von Beziehungen, die durch Anerkennung geprägt werden, weil Armut mehr ist als materieller Mangel. Armut reicht tiefer und verletzt die Identität von Menschen – sie kann daher nicht alleine durch ökonomische und politische Strategien überwunden werden. In diesem Buch kommen Menschen aus einem Kontext zu Wort, in dem die Entwicklungszusammenarbeit tätig ist. Sie beschreiben, wie Religion und Entwicklung aus ihrer Sicht zusammengehören und warum die spirituelle Dimension von Transformationsprozessen für sie genauso relevant ist wie die materielle Verbesserung von Lebensbedingungen. Ebenso arbeitet die Autorin heraus, welche Folgen diese Einsichten für das Selbstverständnis und die Formen der internationalen Zusammenarbeit mit dem Ziel der Armutsbekämpfung haben.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • 0. Einleitung
  • I. Hinführung: Annäherungen an Entwicklung
  • 1. Entwicklung: eine Sinnfrage
  • 1.1 Ein Relikt des Kalten Krieges und ein Business
  • 1.2 Ein Projekt der westlichen Moderne
  • 1.3 Eine säkulare Heilslehre
  • 1.4 Die Notwendigkeit der Entmythologisierung
  • 1.5 Ein geschichtlicher und reflexiver, aktiver Prozess
  • 1.6 Entwicklung zur Armutsbekämpfung – doch was ist Armut?
  • 1.7 Entwicklung wohin? – „Beyond Aid“
  • 2. Entwicklung und Religion
  • 2.1 Religion – vom Tabu zum Trend
  • 2.1.1. Der Entdeckung des Themas und der Tabubruch
  • 2.1.2 Kritische Diskursanalyse des Tabubruchs
  • 2.1.3 Folgerung für die Weiterarbeit am Thema Religion und Entwicklung
  • 2.2 Die Fragestellung: Integration von Religion – aber wie?
  • 2.2.1 Die institutionelle Ebene
  • 2.2.2 Die soziale und individuelle Ebene
  • 2.2.3. Die konzeptionelle Ebene
  • 2.3 Wertschätzende Annäherung an Religion und Spiritualität – zu Thematik und Fragestellung dieser Arbeit
  • 2.3.1 Begriffsbestimmungen: Religion und Spiritualität
  • 2.3.2 Religion als Ressource zur Bewältigung von Sinndeutungsnot in kulturellen Transformationsprozessen?
  • II. Beobachtungen am Fallbeispiel: Das EYN TEE College in Nordost-Nigeria
  • 1. Das Fallbeispiel: EYN TEE College in Mubi/Nordost-Nigeria
  • 1.1 Der Kontext: Nordost-Nigeria als „Entwicklungsland“ mit Gegensätzen und Grenzen
  • 1.2 Theological Education by Extension – Idee, Methode und Geschichte
  • 1.3 Das EYN TEE College Mubi
  • 2. Empirische Untersuchung im Kontext
  • 2.1 Die Befragung – Herangehensweise und Situation
  • 2.2 Auswertung der Befragung
  • 2.2.1 Die TEE-Studierenden und ihr Hintergrund
  • 2.2.2 Lernmotivation und Lernerfahrungen
  • 2.2.3 Der Blick auf die Lebenswelt in Wertschätzung und Kritik
  • 2.2.4 Veränderungssehnsucht und eigene Anfänge
  • 2.2.5 Eigene Ressourcen und Grenzen
  • 2.2.6 Erfahrungen von Lebenswenden und deren Folgen
  • 2.2.7 Die Sicht auf Entwicklung
  • 2.2.8 Inhaltliche Lernerfahrungen
  • 2.3 Interpretation der Auswertung
  • 2.3.1 Veränderte Subjektivität: „from victim to victor“
  • 2.3.2 Eine spezifische Sinnerfahrung
  • 2.3.3 Veränderte Kommunikation in der Gemeinschaft
  • 2.3.4 Erkennen der eigenen Handlungsfähigkeit im Gleichgewicht von Geben und Nehmen
  • 2.4 Ergänzungen aus der Außenperspektive
  • 2.5 Fazit: Spiritual growth und Entwicklung
  • 3. Ertrag der Beobachtungen am Fallbeispiel
  • 3.1 Religion und Entwicklung nach Max Weber?
  • 3.2 Folgerungen
  • III. Verwundbarkeit als Schnittstelle von Religion und Entwicklung
  • 1. Verwundbarkeit in Mission und Entwicklungszusammenarbeit
  • 1.1 Jim Harries: „Vulnerable Mission“
  • 1.2 Die beiden Säulen von „Vulnerable Mission“
  • 1.2.1 Der Gebrauch lokaler Sprachen
  • 1.2.2 Die Arbeit mit lokalen Ressourcen
  • 1.3 Weltbilder und Weltsichten
  • 2. Verwundbarkeit – eine Grundkategorie für interkulturelle Arbeit
  • 2.1. Verwundbarkeit und wechselseitiges Verstehen
  • 2.2 Ein Praxisbeispiel: „Begleiten statt erobern“
  • 2.3 Eine Stimme aus der säkularen Entwicklungszusammenarbeit: „Im Inneren der Globalisierung“
  • 3. Verwundbarkeit als Teil eines neuen Paradigmas der interkulturellen Zusammenarbeit?
  • 3.1 Verwundbarkeit als Baustein zur Überwindung des kolonialen Erbes in der Entwicklungszusammenarbeit
  • 3.2 Weiterführende Fragen und Überlegungen
  • IV. „Rethinking Development“
  • 1. Interkulturelles Lernen als Beziehungsgeschehen
  • 1.1 Lernen in Beziehung und durch Anerkennung: die Relationale Lerntheorie
  • 1.2 Lernen und Transkulturation
  • 2. Impulse transformativer Spiritualität
  • 2.1 Transformative Spiritualität als Dynamik der Verwicklung
  • 2.2 Partizipation und Empowerment neu denken
  • 3. Mögliche Einwände
  • 3.1 … und der Fundamentalismus?
  • 3.2 … und die interreligiöse Situation?
  • 3.3 … und wo liegen die Grenzen?
  • 4. Folgerungen
  • 4.1 … für säkulare Akteure in der Entwicklungszusammenarbeit
  • 4.2 … für FBOs
  • 5. Schlussgedanken
  • 5.1 Die Grenzen des Verstehens
  • 5.2 Nachwort: „Re-framing the Trauma“

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0. Einleitung

Du sagst, du liebst die Armen? Wie heißen sie denn?1

Sonntagmorgen im Slum von Mubi, Nordost-Nigeria: Aus winzigen Lehmhütten mit Wellblechdächern kommen die Menschen heraus und machen sich auf den Weg zum Gottesdienst. Aufrecht und bereit gemacht wie für ein großes Fest gehen sie auf den staubigen Trampelpfaden neben den Abwassergräben und Müllhalden. Es beginnt ein Singen und Tanzen, das stundenlang andauert und in dem sich Kräfte Bahn brechen.

Freitagnachmittag im selben Slum: Die Frauen treffen sich zur Chorprobe. Frauen, die Kinder verloren haben, die täglich härteste Arbeit tun müssen, die oft nicht wissen, wie sie am nächsten Tag die Familie ernähren sollen. Sie stellen sich auf und singen, nein, sie jubeln miteinander: Yesu ne ya ba ni iko, shi ne mai cetona, ba zan rabu ba da shi har abada. (Jesus gibt mir Kraft, er ist mein Erlöser, nichts wird mich jemals von ihm trennen.) Während ich mitsinge, kommen mir Gedanken und Fragen: Hier schöpfen Menschen ganz offensichtlich aus einer Kraftquelle, die für sie unbedingte Bedeutung hat. Hier werden Menschen aufgerichtet, deren widrige Lebensbedingungen ihnen kaum Anlass zu Hoffnung geben. Ich möchte die Armut dieser Menschen auf keinen Fall verklären, sondern sie in ihrer zerstörerischen, hässlichen Brutalität wahrnehmen – aber ich möchte auch die Kraft ihres Glaubens ernst nehmen und diese weder als billige Jenseitsvertröstung im Elend noch als eigenmächtige Konstruktion zur Sinngebung eines kümmerlichen und kurzen Lebens oder einfach als naiv-voraufklärerisches Weltbild abtun. Dazu trägt diese Kraft zu sehr. – Was könnte diese Kraft hervorbringen, was könnte daraus erwachsen – bei ihnen, bei mir?

Mittwochnachmittag in Kalaa, einem Dorf an der Straße zwischen Mubi und Hong: Eine TEE-Klasse sitzt zusammen. Wir beginnen, miteinander über unseren gemeinsamen Glauben zu reden. Wir schauen auf das, was uns gemeinsam heilig ist. Wir fragen, was es bedeutet, wie es uns Kraft gibt und was wir tun ←13 | 14→wollen, um dies zu leben. Völlig unterschiedliche Welten beginnen, einander zu berühren. – Was kann daraus entstehen?

Auf der anderen Seite finden sich am gleichen Ort unzählige Entwicklungsruinen: technische Geräte, die vor sich hin rosten, ehemalige Gesundheitsstationen und Bildungseinrichtungen, Erinnerungen an Projekte und Workshops zur Verbreitung von Inhalten und Impulsen aller Art – gute Ideen, mit viel Enthusiasmus begonnen, doch wenig davon hat sich vor Ort tatsächlich verwurzelt oder ist langfristig angenommen worden. – Warum ist das so, und was hat das eine mit dem anderen zu tun?

In der Hauptstadt des Landes haben zahlreiche staatliche und nichtstaatliche Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit ihren Sitz. In klimatisierten Büros werden Konzepte und Policies verfasst, doch wer mit denen redet, die dort Verantwortung tragen, erfährt davon, wie schwierig bis unmöglich es ist, damit den „garstigen Graben“ zu den lokalen Kulturen wirklich zu überbrücken. – Könnte mitgeteilte und geteilte Religion ein missing link sein, der den interkulturellen Brückenbau stützen kann?

Und dann ist da noch ein rasanter Wandel zu beobachten, der die Menschen erfasst hat und sie in eine Ungleichzeitigkeit hineinreißt, die verkraftet werden muss: Traditionelle Heilverfahren stehen unvermittelt und unverstanden neben Antibiotika, Emire neben demokratisch gewählten Amtsinhabern, Kommunikation gemäß der alten Höflichkeits- und Respektsrituale wird per Mobiltelefon weitergeführt, man holt Wasser am Brunnen, kocht am Drei-Steine-Feuer und geht anschließend ins Internet-Café. – Wie können diese Ungleichzeitigkeiten und Umbrüche bewältigt werden in einer Weise, dass die Menschen davon nicht einfach nur überrollt werden, sondern so, dass sie die Deutungshoheit über ihre Lebensgestaltung und damit ihre Würde behalten und zurückgewinnen? Kann die Ressource ihrer Religion und Spiritualität sie mündig machen, um im Wandel zu bestehen und ihn eigenständig mitzugestalten? Wie könnte das geschehen?

Daneben stehen im gleichen Land und an zahlreichen anderen Orten in vielen Ländern religiös begründete blutige Gewalttaten, Fundamentalismen verschiedenster Art in verschiedenen Religionen und mit Machtansprüchen verwobene Religion, die dazu genutzt wird, Menschen nicht aufzurichten, sondern klein zu machen und klein zu halten. – Wie verhält sich dieses bedrohliche Potential zum aufrichtenden Element? Ist das eine nicht ohne das andere zu haben? Wer entscheidet darüber, was wann zum Tragen kommt?

Es sind solche und ähnliche Erlebnisse und Erfahrungen, die dazu geführt haben, dass die Suche nach den Zusammenhängen von Religion und Entwicklung mich zunehmend beschäftigt hat. So ist die zugrunde liegende Fragestellung ←14 | 15→dieser Arbeit nicht am Schreibtisch, sondern in einem konkreten Kontext und aus den dortigen Beobachtungen heraus entstanden und ist als action-reflection-Projekt beziehungsweise als reflexive practice zustande gekommen. Möglicherweise wird man mir deshalb eine zu große persönliche Nähe zum Thema vorwerfen. Jedoch wäre es mir ohne diese Nähe nicht möglich gewesen, auf die Stimmen derer zu hören, in deren Leben Entwicklungsmaßnahmen verändernd eingreifen sollen und die dazu ihre eigene Sichtweise vorbringen. – Ich wollte besser verstehen: Wie kann die Kraftquelle von Religion und Spiritualität konstruktiv fruchtbar werden für eine nachhaltige Entwicklung, die für die betroffenen Menschen tatsächlich stimmig ist? Wie verändern sich der Fokus, die inhaltliche Füllung und die soziale Praxis von Entwicklung wiederum, wenn sie auf dieser Kraftquelle basiert? Welche Folgen hat dies für die Rollen der sogenannten Geber und Akteure sowie für die sogenannten Zielgruppen von Entwicklungsprojekten? Was denken eigentlich Letztere über den Zusammenhang ihrer Religion mit dem, was ihnen in unterschiedlichster Weise als „Entwicklung“ begegnet?

Um hier weiterzukommen, nähere ich mich zunächst an den Entwicklungsbegriff an und frage nach seinen Implikationen, die er bislang im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit hatte. Im ersten Kapitel wird außerdem der neuere Prozess der Annäherung der Entwicklungszusammenarbeit an das Phänomen von Religion in den Blick genommen und davon ausgehend die leitende Fragestellung dieser Arbeit formuliert.

Im zweiten Teil kommen im Rahmen einer case study Menschen zu Wort, die in einem Kontext leben, in dem Entwicklungszusammenarbeit tätig ist. Ihre Stimmen sind im bisherigen Diskurs kaum hörbar geworden:2 Wie erleben sie ihre Religion und was sagen sie als die Adressaten der Entwicklungszusammenarbeit zur Frage von Entwicklung, Wandel und Transformation? Wie hängt aus ihrer Sicht beides zusammen? Welche Folgen hätte dies für eine Entwicklungszusammenarbeit, die darauf Bezug nehmen will?

Anschließend werden Modelle und Erfahrungen aus der Mission daraufhin befragt, was sie erhellend zu dieser Suchbewegung beitragen können. Es zeigt sich, dass Stimmen aus der säkularen Entwicklungszusammenarbeit durchaus damit konvergieren und sich ein gemeinsamer Nenner finden lässt, in dem das Potential liegt das bisherige Profil dieser Arbeit infrage zu stellen und zu verändern.

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Im Schlussteil wird davon ausgehend der Entwicklungsbegriff überdacht und in Beziehung gesetzt zur relationalen Lerntheorie und zur Perspektive der Transkulturation. Einwände, die gegen die Verbindung von Religion und Entwicklung laut werden, werden aufgegriffen, und es werden Folgerungen formuliert, die zusammenfassen, in welchem Modus eine interkulturelle Zusammenarbeit unterwegs sein muss, die Religion und Spiritualität nicht länger ausklammert oder instrumentalisiert, sondern sich zunehmend positiv auf sie zu beziehen lernt. Schlagworte wie die Forderungen nach Partizipation und empowerment alleine reichen nicht aus – diese müssen in Bezugnahme auf Religion und Spiritualität neu und anders gefüllt werden, und es müssen die Dimensionen der Anerkennung und der Verwundbarkeit hinzukommen, um zu einer Zusammenarbeit beyond aid zu finden, die sich als gemeinsame globale Verantwortung in alle Richtungen konkretisiert.

1 Frage, die dem katholischen Theologen Gustavo Gutierrez aus Peru zugeschrieben wird. Für den mündlichen Hinweis vom 14.04.2015 danke ich Frank Paul. Vgl. zu den Namen der Armen Myers, Walking with the poor, 105–107: „Referring to people by a label is always dangerous. (…) The poor as a category are nameless, and this invites us to treat them as objects of our compassion, as a thing to which we can do what we believe is best. (…) Whenever we reduce the poor from people with names to abstractions, we add to their poverty and impoverish ourselves“.

2 Vgl. Myers, Walking with the Poor, 274: „The poor will be less poor when they (…) find their own voice. (…) At the end of the day, the problem is not that the poor have no voice; it is that no one is listening“.

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I. Hinführung: Annäherungen an Entwicklung

„Es sollte niemals bloß ein Wasserprojekt
oder ein Schulhaus oder ein Kleinkredit sein.
Daher hat man in eine Projektbeschreibung
die Zusammenhänge aufzunehmen. (…)
Religion ist heute in die Entwicklung zurückgekehrt,
und das ist gut so.
Denn letztlich ist Entwicklung eine Sinnfrage
und der Versuch einer Antwort dazu.“3

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3 Imfeld, Entwicklung, 90.

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1. Entwicklung: eine Sinnfrage

1.1 Ein Relikt des Kalten Krieges und ein Business

Der Beginn der Karriere des Entwicklungsbegriffs als gesellschaftspolitische Kategorie und „ökonomisch-kultureller Gradmesser für Zivilisation und Durchkapitalisierung sowie Industrialisierung einstiger Kolonialländer“4 ist eng verknüpft mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und mit dem Übergang zur Ost-West-Konfrontation der Nachkriegszeit. Entwicklung hin zur kapitalistischen Wirtschaftsweise galt als Instrument zur Westbindung der nichtkommunistischen Länder und steht nicht umsonst in Zusammenhang mit der Gründung der NATO.

Dieser Begriff kreist rund um das semantische Feld von positiver Veränderung und steter Verbesserung. Es handelt sich um ein sedimentiertes Narrativ, in dem sich lineares Zeitverständnis, die Idee einer stets aufsteigenden Linie gesellschaftlicher Prozesse und damit das Selbstbild des Westens verfestigt haben.5 Den Begriff näher zu fassen ist daher ein schwieriges Unterfangen, denn es „ist ein normativer Begriff, der praktisch relative Bedeutung hat. (…) Entwicklung ist (…) nicht statisch, sondern abhängig von den jeweiligen Wertvorstellungen in Raum und Zeit. Wie die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse, von denen er spricht, ist er ständigen Veränderungen unterworfen.“6

Vielfach kritisiert, von Post-Developmentalists und anderen vielfach verworfen, hinterfragt und doch weiterverwendet, weil scheinbar alternativlos – die Betrachtung des Entwicklungsbegriffs ergibt ein vielstimmiges und durchaus disparates Bild, in dem sich die Überlegenheit, Unsicherheit und zugleich Schuldgefühle des industrialisierten Nordens und der Globalisierungsgewinner angesichts der Lebensbedingungen in den „Entwicklungsländern“ und die Frage, was mit ihnen zu tun sei, gleichermaßen spiegeln.

Die Entwicklung des Entwicklungsbegriffs sagt viel aus über diejenigen, die diese Entwicklung ins Werk setzen wollten und wollen7 – und über deren Bild ←19 | 20→von denen, denen dieses Vorhaben zugutekommen soll. Entwicklung ist eine Manifestation der eigenen Sinngefüge und Werte, die einzelne oder Gruppen nach außen tragen und universalisieren. Es ist ein appellativer Begriff, der stets die Notwendigkeit von Eingriffen und Änderungen unterstellt und der die Vorstellung evoziert, Wandel könne (bei anderen) direkt und zielgerichtet erzeugt und gesteuert werden. Wertschätzung von Vorhandenem, Verstehen des historischen und sozialen Kontextes und Einfühlung in das Gegebene, Kontinuitäten, Stabilisierung und Bewahrung liegen in dieser Begrifflichkeit automatisch weiter weg, weil Entwicklung sich stets von Unterentwicklung absetzen muss und damit den Ist-Zustand der Gegenwart grundsätzlich negativ konnotiert. Trotzdem hat er sein emanzipatorisches Potential weitgehend abgestreift und wird meist pragmatisch-aktivistisch verwendet:

„Denn den Status Quo herausfordern zu wollen, gilt in den Augen der Öffentlichkeit kaum noch als glaubwürdiges Engagement. Die modernen Helden zivilgesellschaftlicher Aktion halten sich nicht erst lange mit dem politischen Kontext auf, sondern packen unmittelbar zu. Wo früher die Vorstellung von einer anderen Welt zum Handeln motivierte, herrscht heute ein unpolitischer Pragmatismus, der sich nicht einmischen will, keine Partei ergreifen möchte, sich um Linderung der ärgsten Not kümmert, aber die bestehende Ordnung nicht mehr in Frage stellt.

(…) Überhaupt scheint es vielen Helfern kein Hindernis, wenn sie wenig über die Menschen wissen, mit denen sie es zu tun haben. Die Hilfe, die sie betreiben, folgt technisch-ökonomischen Kriterien und erhebt gar nicht erst den Anspruch, in Kriegsopfern und Notleidenden mehr als Objekte einer möglichst effizienten Versorgung zu sehen.

(…) Von einem solchen Pragmatismus ist der Weg nicht weit zum Business. (…) Zug um Zug ist die Hilfe aus dem Kontext sozialen Handelns herausgelöst und zu einem Produkt transformiert worden, das – wie andere Produkte auch – nicht unbedingt mehr mit den Bedürfnissen der Menschen korrespondiert. Stattdessen haben sich die Interessen der Geber in den Vordergrund geschoben und entscheidet gar die mediale Verwertbarkeit von Hilfe über ihr Zustandekommen. (…) Statt sich mit dem Eigensinn von Hilfe und ihren Wirkungen auseinanderzusetzen, eröffnet die Kapitalisierung von Hilfe die Möglichkeit, politisch unliebsame Hilfen allein aufgrund wirtschaftlicher Bewertungen scheitern zu lassen. (…) Das Medium setzt das Thema, motiviert zur Aktion, sammelt Spenden und setzt diese in Projekte um, die wiederum neue Bilder liefern und für ein medial überzeugendes ‚Controlling‘ sorgen.“8

Veränderung und Wandel sind verwoben mit Sinngefügen und verlaufen von daher eigen-sinnig. Wo jedoch internationale Hilfe marktförmig in das mediale und ökonomisch ausgerichtete Sinngefüge der westlichen Rationalität eingepasst ←20 | 21→wird, werden Menschen und ihre Notlagen zur Bühne für die Inszenierung einer Intervention und der Vermarktung dieses Produktes. Ein scheinbar neutraler Aktionismus der Helfer erlaubt es den Zuschauern und deren Unterstützern, sich auf die vermeintliche Rolle „der Guten“ zurückzuziehen, die ja „einfach nur helfen“ wollen, die in Wahrheit aber sehr leicht einem Vermarktungsschema folgen und oftmals den Eigen-Sinn der betroffenen Menschen nicht wahrgenommen haben. Versuche, ihn wahrzunehmen und achten zu wollen, stoßen die Entwicklungszusammenarbeit zunehmend auf Fragen nach kultureller Sensibilität. Dabei rückt auch der Bereich von Religion und Spiritualität in den Fokus einer Arbeit, die von ihrem Ansatz her säkular angelegt war.

1.2 Ein Projekt der westlichen Moderne

Details

Seiten
386
Erscheinungsjahr
2019
ISBN (PDF)
9783631765098
ISBN (ePUB)
9783631765104
ISBN (MOBI)
9783631765111
ISBN (Hardcover)
9783631765081
DOI
10.3726/b14545
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (März)
Schlagworte
Missionstheologie Ökumenik Relationale Lerntheorie Entwicklungsethik Interkulturelle Pädagogik
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 386 S.

Biographische Angaben

Christine Gühne (Autor:in)

Christine Gühne ist evangelische Theologin und Pfarrerin mit Erfahrungen aus Tätigkeiten in unterschiedlichen ökumenischen Arbeitsfeldern in Deutschland, im Nahen Osten und in Westafrika.

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Titel: Aufgerichtet werden