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Der zweite deutsch-französische Städtepartnerschaftsboom (1985-1994)

Akteure, Motive, Widerstände und Praxis

by Tanja Herrmann (Author)
©2019 Thesis 444 Pages

Summary

Entgegen der Annahme, dass der deutsch-französische Städtepartnerschaftsboom von 1963 bis 1975 einzigartig war, weisen die Jahre 1985 bis 1994 einen Zuwachs auf. Die Arbeit analysiert 40 Fallstudien: Wer war warum und in welchem Kontext am zweiten Boom beteiligt? Sie beleuchtet das Zusammenspiel von politischer Richtungsvorgabe, halböffentlichen Institutionen, Zivilgesellschaft und privaten Kontakten, widerlegt die Hypothese, dass zu diesem Zeitpunkt Ressentiments Verschwisterungen nicht mehr beeinträchtigten, und betont Verdienste in der Vergangenheitsaufarbeitung. Auch wenn der Fokus auf den Jahren 1985 bis 1994 liegt, zeigen die Schlussfolgerungen aktuelle Trends auf und bieten verschiedene Erklärungsansätze für die weltweit einmalige Anzahl von deutsch-französischen Partnerschaften.

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Forschungsstand
  • 1.2 Fragestellungen und Aufbau der Arbeit
  • 1.3 Methodisches Vorgehen, Forschungskorpus und theoretischer Rahmen
  • 1.4 Quellenlage
  • 2. Entwicklung und Charakteristika der deutsch-französischen Städtepartnerschaften
  • 2.1 Anzahl und geografische Verteilung
  • 2.2 Entwicklungstendenzen bis Mitte der 1980er Jahre
  • 2.2.1 Rahmenbedingungen zu Zeiten des Kalten Kriegs
  • 2.2.2 Ein zögerlicher Beginn im Westen (1950-1957)
  • 2.2.3 Die Entstehung eines asymmetrischen Dreiecks (1958-1962)
  • 2.2.4 Der erste Städtepartnerschaftsboom (1963-1975)
  • 2.2.5 Stagnation auf hohem Niveau und sinkendes Interesse der DDR (1976-1984)
  • 2.3 Standardisierter Gründungsverlauf zwischen Ritualen und Symbolen
  • 3. Initiatoren und Vermittler beim zweiten Städtepartnerschaftsboom
  • 3.1 Prämissen einer akteurszentrierten Untersuchung
  • 3.2 Bürgermeister und Gemeinderäte
  • 3.3 Sport- und Kulturvereine
  • 3.4 Lehrende und Lernende
  • 3.5 Ehemalige Kriegsgefangene
  • 3.6 Städtepartnerschaftskomitees
  • 3.7 Regional- und Bezirkspartnerschaften
  • 3.7.1 Regionalpartnerschaft Rheinland-Pfalz/Burgund
  • 3.7.2 Bezirkspartnerschaft Unterfranken/Calvados
  • 3.7.3 Bezirkspartnerschaft Schwaben/Mayenne
  • 3.8 Politische Funktionsträger auf regionalen Verwaltungsebenen
  • 3.9 Kommunalverbände
  • 3.10 Schlussfolgerungen einer akteurszentrierten Untersuchung
  • 4. Gründungsmotive und Widerstand: Städtepartnerschaften zwischen Idealismus, Pragmatismus und Protest
  • 4.1 Ausgestaltung und Kontextualisierung des zweiten deutsch-französischen Städtepartnerschaftsbooms
  • 4.2 Städtepartnerschaften und Europa
  • 4.2.1 Ein Beitrag für ‚Europa‘ – ein Beitrag für die EG/EU?
  • 4.2.2 Der Ausschuss für ein „Europa der Bürger“ und der Städtepartnerschaftsfonds
  • 4.3 Städtepartnerschaften und das deutsch-französische Verhältnis
  • 4.3.1 Der Einfluss der Regierungsebene: Vorbild und Förderer der Städtepartnerschaften
  • 4.3.2 Dynamik und Stabilisierung des deutsch-französischen Netzwerks
  • 4.3.3 Die Allgegenwart der gemeinsamen Geschichte
  • 4.3.4 ‚Le franco-allemand‘1301: Königsweg oder Notlösung?
  • 4.4 Städtepartnerschaften und die Kommunalpolitik
  • 4.4.1 Selbstdarstellung und projektbezogene Kooperationen
  • 4.4.2 Praktische Bedenken und materielle Hindernisse
  • 5. Städtepartnerschaften in der Praxis: Auslaufmodell oder Erfolgskonzept?
  • 5.1 Ist das städtepartnerschaftliche Verständigungskonzept gescheitert?
  • 5.2 Städtepartnerschaften und die EU: Konformität oder Diskrepanz?
  • 5.3 Stellenwert von Erinnerung und Vergangenheitsaufarbeitung1589
  • 5.3.1 Versöhnend-vereinigende Dimension
  • 5.3.2 Historisch-pädagogische Dimension
  • 5.4 Umsetzung eines breitenwirksamen Ansatzes: eine Utopie?
  • 6. Schlussbetrachtung
  • Anhang
  • 1 Geografische Übersicht der 40 untersuchten Städtepartnerschaften in Deutschland und in Frankreich
  • 2 Angaben zu den 40 untersuchten Städtepartnerschaften
  • 3 Gründungsdaten der Städtepartnerschaften der 92 untersuchten Städte und Gemeinden
  • 4 Fallstudien
  • 5 Questionaire/Fragebogen
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Abbildungsverzeichnis
  • Tabellenverzeichnis
  • Quellen- und Literaturverzeichnis
  • Ungedruckte Quellen
  • Archive
  • Zeitzeugeninterviews
  • Anfragen
  • Zeitschriften und Zeitungen
  • Publizierte Quellen und Literatur
  • Internetquellen

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1. Einleitung

„Nirgendwo anders auf der Welt gibt es so enge und vielschichtige Beziehungen und gesellschaftliche Verflechtungen zwischen zwei Ländern wie im sogenannten ‚franco-allemand‘.“1

Die deutsch-französischen Beziehungen zeichnen sich heute durch eine konstante Zusammenarbeit auf politischer, wissenschaftlicher, wirtschaftlicher, kultureller und gesellschaftlicher Ebene und durch einen hohen Institutionalisierungsgrad aus. Das Deutsch-Französische Jugendwerk (DFJW), die Deutsch-Französische Hochschule (DFH), das Deutsch-Französische Institut (DFI), der Fernsehkanal ARTE und die deutsch-französischen Minister-, Kultur- sowie Verteidigungs- und Sicherheitsräte sind nur einige Beispiele für die Förderung der bilateralen Kooperation. Der ‚deutsch-französische Motor‘ nimmt innerhalb der Europäischen Union häufig eine führende Rolle ein und auch wirtschaftlich sind die beiden Länder eng miteinander verflochten. Es gibt deutsch-französische Kindergärten, Gesellschaften, Wirtschaftsclubs und Chöre sowie ein Schulgeschichtsbuch und eine Agenda 2020. Das Programm DeutschMobil/FranceMobile ermuntert Schüler2 zum Erlernen der Partnersprache, sie treffen sich dank einiger tausend Schulpartnerschaften und können ein deutsch-französisches Abitur erwerben. Studierende profitieren von unzähligen Hochschulkooperationen und absolvieren Doppelabschlüsse. Nicht zuletzt festigen Partnerschaften zwischen den Gemeinden, Städten, Landkreisen, Kantonen, Bezirken, Departements, Bundesländern und Regionen die Zusammenarbeit beider Länder.

Mit knapp 2200 deutsch-französischen Städtepartnerschaften ist auf kommunaler Ebene die Vernetzung zwischen Deutschland und Frankreich weltweit einmalig.3 Der Begriff ‚Städtepartnerschaft‘ scheint sich zunächst nur auf Verbindungen zwischen Städten zu beziehen, die vorliegende Dissertation nutzt ihn jedoch im Einklang mit der Bedeutung laut Duden auch für Verbindungen „zwischen Verwaltungsbezirken oder Gemeinden“.4 Im französischen Sprachgebrauch verwendet man das Wort ‚Jumelage‘, das seit den 1870er Jahren existiert und ursprünglich die Kopplung von Schusswaffen beschrieb. Der Bedeutungswandel vom Krieg zum Frieden, vom Konflikt zur Kooperation spiegelt für den deutsch-französischen ←11 | 12→Kontext die symbolische Dimension des Begriffes wider, die der Öffentlichkeit kaum bekannt sein dürfte.5 Je nach Art der Partnerschaft wird das Wort ‚Jumelage‘ um den Zusatz ‚communal‘, ‚départemental‘ oder ‚régional‘ erweitert. Eine Anfang der 1950er Jahre entstandene und bis zum heutigen Tag häufig verwendete Definition für das Phänomen stammt von Jean Bareth, dem ersten Generalsekretär des Rates der Gemeinden Europas:

„Le jumelage, c’est la rencontre de deux communes qui entendent s’associer pour agir dans une perspective européenne, pour confronter leurs problèmes et pour développer entre elles des liens d’amitié de plus en plus étroits.“6

Abgesehen davon, dass die europäische Perspektive in Bareths Definition in ihrem Entstehungskontext zu Zeiten des Kalten Kriegs vage blieb,7 lässt die Begriffserklärung sämtliche Beziehungen zu anderen Kontinenten außen vor. Bei der Berücksichtigung weiterer Verbindungen, wie der sogenannten Entwicklungspartnerschaften mit afrikanischen oder asiatischen Städten und Gemeinden, erscheint eine Definition für die vielseitige Erscheinung der Städtepartnerschaften ohnehin nahezu unmöglich. Bei der Bestimmung des kleinsten gemeinsamen Nenners assoziiert man mit dem Begriff „eine kommunale Verbindung mit einem entsprechenden Partner im Ausland“.8 Selbst diese Assoziation trifft auf deutsch-deutsche9 oder ←12 | 13→französisch-französische10 Partnerschaften, die sich aus einer speziellen Situation heraus entwickelten, jedoch nicht zu. Der Rat der Gemeinden und Regionen Europas – Deutsche Sektion versteht das Phänomen als eine „förmliche, zeitlich und sachlich nicht begrenzte Partnerschaft, beruhend auf einem Partnerschaftsvertrag (Partnerschaftsurkunde)“.11 Diese sehr weite Begriffserklärung hat den Vorteil, alle Arten von Städtepartnerschaften zu erfassen, ohne auf ihre Zielsetzung oder die beteiligten Länder näher einzugehen,12 aber den Nachteil, dass sie nicht präzisiert, welche Parteien die Verbindung eigentlich abschließen. Des Weiteren setzt sie die Partnerschaftsurkunde als juristische Basis voraus, was in der Realität so mancher Kommunalverbindung widerspricht.13 Vor diesem Hintergrund versteht die vorliegende Dissertation den Forschungsgegenstand ‚Städtepartnerschaft‘ als eine förmliche, zeitlich und sachlich nicht begrenzte Partnerschaft zwischen zwei oder mehreren Städten bzw. Gemeinden.

Seit Anbeginn der Kommunalbewegung14 variierten die Zielsetzung, die inhaltliche Ausgestaltung und die geografische Schwerpunktsetzung von Städtepartnerschaften. Diese entwickelten sich maßgeblich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, auch wenn es grenzüberschreitende Kommunalkontakte schon vorher gegeben hatte.15 Der Internationale Gemeindeverband (IGV) entstand 1913 in ←13 | 14→Gent16 und englische Städte unterstützten Gemeinden in Nordfrankreich, die der Erste Weltkrieg besonders in Mitleidenschaft gezogen hatte.17 In Deutschland entwickelten sich Städtepatenschaften mit dem Ziel, den Kontakt zu deutschen Muttersprachlern, die aufgrund der Grenzziehungen des Versailler Vertrags auf einmal außerhalb des Reiches lebten, aufrecht zu erhalten.18 Weimar und Florenz unterhielten zu Zeiten des Dritten Reichs und des mussolinischen Italiens einen ideologisch geprägten Austausch.19

Trotz einiger Vorläufer und Kontinuitätslinien und -brüche ist unbestritten, dass die Blütezeit der Städtepartnerschaften erst nach 1945 einsetzte.20 Nach dem Zweiten Weltkrieg kam in Westeuropa aufgrund der Tatsache, dass eine staatliche Zusammenarbeit nicht gelungen war, die Idee einer ‚Vereinigung von unten‘ auf. Die Gemeinde schien eine „optimale Vermittlungsebene“21 für ←14 | 15→Demokratisierungsprozesse und grenzüberschreitende Verständigung zu sein. Der bürgernahe Annäherungsansatz bot einen Ausgangspunkt zur Überwindung von Ressentiments in bilateralen Konfliktkonstellationen sowie zur Einübung neuer, europäisch geprägter Denk- und Verhaltensmuster. In Osteuropa konsolidierten Städtepartnerschaften den kommunistischen Block. Erste Partnerschaften über den Eisernen Vorhang hinweg – und somit auch ostdeutsch-französische Kommunalbeziehungen – entstanden Ende der 1950er Jahre.22 Diese vielfältigen Verschwisterungsansätze spiegelten sich in der in den 1950er Jahren erfolgten Gründung dreier Kommunalverbände wider: die Internationale Bürgermeister Union für die deutsch-französische Verständigung (IBU), der Rat der Gemeinden (und Regionen) Europas (RG(R)E)23 und die Fédération mondiale des villes jumelées (FMVJ). Ihren Namen entsprechend blieb das Handeln der beiden erstgenannten auf Deutschland und Frankreich bzw. Westeuropa beschränkt, während sich die FMVJ zum Ziel setzte, weltweit – und damit während des Ost-West-Konflikts auch systemübergreifend – Partnerschaften zu initiieren.24 Seit dem Mauerfall und dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung sind kommunale Kontakte als Annäherungsinstrument zur Überwindung von Gräben innerhalb des in zwei Blöcke gespaltenen Europas allgemein anerkannt und gelten als Symbol und Synonym für die „größte ‚Friedensbewegung‘ Europas“.25 Nicht nur die Zielsetzungen waren demnach je nach Städtepartnerschaft und Gründungszeitpunkt unterschiedlich, sondern auch die an der Kontaktanbahnung beteiligten Akteure und das Zielpublikum variierten.

Im deutsch-französischen Kontext betonen politische Stellungnahmen bis heute die Bedeutung, die die Verankerung des Verständigungsgedankens auf der Ebene der Bürger für den Erhalt der Qualität und Quantität der Zusammenarbeit beider Länder hat.26 Auch die tragende Rolle der Städtepartnerschaften für die ←15 | 16→deutsch-französische Versöhnung27 und für die europäische Integration ‚von unten‘ ist regelmäßig Gegenstand in Reden von Politikern28 wie Bundespräsident Joachim Gauck, der Partnerschaften 2013 als „deutsch-französische Bürgerbewegung“29 bezeichnete. Sie bieten in der Tat die Gelegenheit, Bürger direkt anzusprechen und im Sinne eines „erweiterten Kulturbegriffes“30 – zumindest theoretisch – alle Altersklassen und sozialen Schichten einzubeziehen, da Städtepartnerschaften grundsätzlich jedem offen stehen. Bis heute haben sie den Anspruch, nicht auf offizielle Delegationen beschränkt zu bleiben, sondern sich an die Breite der Bevölkerung zu richten, indem Mitglieder von Sportvereinen, Chören, Feuerwehren, Tanz- oder Theatergruppen, aber auch Musiker, Maler und andere Künstler, Kirchgänger, junge Menschen von Grundschülern bis hin zu Studierenden, Kriegsveterane und Angehörige bestimmter Berufsgruppen miteinander in Kontakt treten können. Mit Blick auf die Ausgestaltung der Austausche resümierte der amerikanische Kulturgeograf Wilbur Zelinsky in wenigen Worten: „The formula for interaction is that there is no set formula.“31 Die Begegnungen im eigenen und im Partnerland sollen aufgrund der regelmäßigen gegenseitigen Besuche des auf zwei Städte bzw. Gemeinden begrenzten Personenkreises „mehr als die anderen deutsch-französischen Programme Kontinuität über Jahre und […] Generationen hinweg“32 gestatten.

Zwischen den einstigen ‚Erbfeinden‘ ist heutzutage die Dichte städtepartnerschaftlicher Beziehungen weltweit am höchsten, was vor dem Hintergrund der ←16 | 17→zahlreichen militärischen Konflikte der Vergangenheit auf den ersten Blick geradezu paradox erscheinen mag. Die Statistik ist eindeutig: Keine andere bilaterale Konstellation erreicht diese Abschlussrate an Partnerschaften auch nur annähernd.33 Zu diesem numerischen Übergewicht im deutsch-französischen Kontext haben maßgeblich zwei sogenannte ‚Städtepartnerschaftsbooms‘ beigetragen (1963-1975 und 1985-1994), wobei die Forschung den jüngeren erst vor einigen Jahren wahrgenommen hat.34 Bevor die Arbeit der Frage nachgeht, welche Faktoren für die Konstituierung dieses weltweit einmaligen Kommunalnetzes ausschlaggebend waren und welche den zweiten Städtepartnerschaftsboom auslösten, sei ein Blick auf den derzeitigen Forschungsstand geworfen.

1.1 Forschungsstand

Mit der stetig wachsenden Städtepartnerschaftsbewegung schenkte auch die Wissenschaft dem Untersuchungsgegenstand im Laufe der Zeit zunehmend Aufmerksamkeit, wobei die Geschichtswissenschaft ihn im Gegensatz zu anderen Fachdisziplinen erst ab den 1990er Jahren wahrnahm. Ingo Bautz liefert in seiner Dissertation eine einfache Begründung für dieses Desinteresse: Städte und Gemeinden, die grenzüberschreitende Verständigungspolitik betrieben, erschienen dem an internationalen Fragen interessierten Geschichtswissenschaftler zu unbedeutend. Der Regionalhistoriker beschäftigte sich hingegen kaum mit europäischen Themen.35 Des Weiteren beachtete die historische Forschung generell die nach 1945 ←17 | 18→entstandenen deutsch-französischen Beziehungen, zu denen die Partnerschaften gehören, erst seit den 1990er Jahren verstärkt. Zum einen mussten diese Kontakte zunächst eine gewisse Dichte und Beständigkeit erreichen, um als Forschungsgegenstand interessant zu sein.36 Zum anderen erlaubt die 30-jährige Archivsperre nur eine sukzessive Aufarbeitung der Bestände.37 Publikationen in den Politik-, Rechts- und Sozialwissenschaften gingen daher der Geschichtswissenschaft voraus. Die Ergebnisse dieser Disziplinen sind im Folgenden mit Ausnahme einiger fachimmanenter Zusammenhänge chronologisch aufgeführt.

Als erste widmeten sich Politikwissenschaftler der Thematik und analysierten den Einfluss der Partnerschaften auf das deutsch-französische Verhältnis und den Aufbau eines Europas ‚von unten‘; einen Einfluss, den man ihnen aufgrund der direkten Bürgerbeteiligung zusprach und zuspricht. Dabei verfolgten sie lange Zeit den durch Carl J. Friedrich38 geprägten wirkungsanalytischen Ansatz.39 Sein Schüler Rolf-Richard Grauhan ging 1968 erstmalig der Frage nach, ob Partnerschaften einen grass-roots support für die europäische Integration bieten können.40 Grauhans Erkenntnisse basierten auf einer Befragung von Vertretern westdeutscher und französischer Städte und Gemeinden mittels Fragebogen sowie auf Zeitzeugeninterviews. Grauhan bejahte seine Ausgangsfrage mit Einschränkungen, wobei der Beitrag zur europäischen Integration gerade dann indirekt erfolge, wenn er nicht ←18 | 19→explizit eingefordert werde.41 Durch die Berücksichtigung von Widerständen, Problemen und gescheiterten Projekten korrigierte Grauhan die bis dato vornehmlich positive Darstellung der Kommunalkontakte.42 Der Schwerpunkt der Studie lag auf der Bundesrepublik Deutschland (BRD)43 und Frankreich. Grauhan nahm aber auch ostdeutsch-französische Partnerschaften in den Blick, wobei mit der zum Zeitpunkt der Untersuchung 1968 noch ausstehenden diplomatischen Anerkennung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) durch Frankreich einerseits und der Hallstein-Doktrin44 andererseits insbesondere deren ideologisch-politische Dimension eine Rolle spielte.45

Das Anlegen von Datensammlungen mittels der meist schriftlichen, teilweise auch mündlichen Befragung von Zuständigen in den Rathäusern oder Partnerschaftskomitees ist unter Politikwissenschaftlern,46 aber auch in praxisbezogenen Studien, die dem Historiker als Quelle vorliegen,47 weit verbreitet. Seit der 1968 ←19 | 20→veröffentlichten Studie von Grauhan erschienen bis in die jüngste Zeit in regelmäßigen Abständen empirische Untersuchungen, wobei die von Thomas Grunert 1981 veröffentlichte und von der IBU finanzierte Betrachtung der Langzeitwirkungen von Städtepartnerschaften die bislang umfassendste Studie bleibt.48 Die fundierten politikwissenschaftlichen Untersuchungen, aber auch die praxisorientierten Veröffentlichungen ohne wissenschaftstheoretische Verankerung bieten – je nach Studie mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung und Präzision – Einblicke in die Themenfelder ‚Initiatoren und Gründungsmotive‘, ‚Sprachkenntnisse‘, ‚Entfernung und Strukturähnlichkeit‘, ‚Länderwahl‘, ‚Finanzierung‘, ‚Aktivitätsprofile‘ und ‚Organisation der praktischen Austauscharbeit‘. Die Untersuchungen lieferten wichtige Erkenntnisse zu den genannten Aspekten, wobei die Vorgabe von Antworten oder zu eng gestellte Fragen die statistischen Datenerhebungen beeinträchtigten.49

Nahezu zeitgleich zu dem 1981 veröffentlichten Werk von Grunert stieg in den Rechtswissenschaften das Interesse am Forschungsgegenstand. Auslöser für eine völker- und verfassungsrechtliche Betrachtung der Thematik waren Partnerschaften, die im Gegensatz zu den außenpolitisch konformen, westeuropäischen Kontakten politisch umstritten waren. Problematisch waren während des Kalten Kriegs ab Mitte der 1970er Jahre vor allem deutsch-polnische50 und ab 1986 deutsch-deutsche bzw. innerdeutsche Partnerschaften.51 Polnische Städte und Gemeinden insistierten auf einen vertraglich festgehaltenen Hinweis, gemeinsam auf kommunaler Ebene im Sinne des Warschauer Vertrags von 1970 handeln zu wollen. Da Bonn diesen als Gewaltverzicht und nicht wie Warschau als Anerkennung der Oder-Neiße-Linie auslegte, handelte es sich hierbei um einen außenpolitisch heiklen Verweis.52 Partnerschaften zwischen der BRD und der DDR waren keine Verbindungen zwischen zwei Nationen, sondern zwischen ein und demselben, allerdings getrennt lebenden Volk. Diese historische Sondersituation war der Auslöser eines regelrechten Booms neuer Veröffentlichungen.53

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Ebenso weckten Partnerschaften mit Nicaragua, die Städte und Gemeinden ab 1984 eingingen, nachdem die Bundesregierung die finanzielle Zusammenarbeit mit dem zentralamerikanischen Land aufgekündigt hatte, die Aufmerksamkeit von Juristen. Gleiches gilt für die Einrichtung ‚atomwaffenfreier Zonen‘ in Gemeinden,54 für die kommunale Entwicklungshilfe55 und die sich zunehmend intensivierende Kooperation in Grenzregionen.56 In Frankreich stieg zeitgleich das Interesse an kommunalen Auslandsbeziehungen. Auslöser hierfür waren keine ungeklärten Rechtsfragen, sondern die Dezentralisierungsgesetze von 1982, die einen Bedarf an einer Neudefinition der politischen und administrativen Struktur des französischen Staatsaufbaus ergaben.57

Nachdem Städte und Gemeinden bereits seit Ende der 1940er Jahre Auslandsbeziehungen unterhielten und man den Begriff „kommunale Außenpolitik“58 ganz selbstverständlich nutzte, stellten Rechtswissenschaftler nun die Frage,59 ob ihnen dieses Recht überhaupt zustand oder ob es verfassungsrechtlich begrenzt sei.60 ←21 | 22→Trotz der kontroversen Diskussionen gilt heute grundsätzlich als Konsens, dass deutsche Städte und Gemeinden aufgrund der im Artikel 28, Absatz 2 des GG verankerten kommunalen Selbstverwaltungsgarantie Auslandsbeziehungen unterhalten dürfen, sofern sich diese auf ihren kommunalen Wirkungskreis beschränken. Für die französischen Partner ergibt sich dieses Recht aus Artikel 72, Absatz 2 der Verfassung, das seine Grenzen in den auf nationaler Ebene definierten politischen Richtlinien findet.61 Die entscheidende Frage, nämlich wann der kommunale Wirkungskreis überschritten ist bzw. wann Kontakte gegen die Politik der Nation verstoßen, scheint hingegen nicht juristisch, sondern nur politisch beantwortbar zu sein.62 Diese rechtswissenschaftliche Auseinandersetzung hatte für die außenpolitisch nicht umstrittenen westdeutsch-französischen Partnerschaften allerdings nur bedingt Relevanz63 und wurde aufgrund eines ‚Gewohnheitsrechts‘64 ohnehin kaum wahrgenommen.

Mit den zunehmenden Publikationen in den Politik- und Rechtswissenschaften war ab Mitte der 1980er Jahre auch das Interesse der Sozialwissenschaften am Forschungsgegenstand geweckt. Nachdem die Thematik in der französischen – im Gegensatz zur britischen65 – Forschungslandschaft bis dato keine Beachtung gefunden hatte, widmete sich dieser im Jahr 1984 das Institut national de l’éducation populaire. Hier stand die pädagogische Begleitung von kommunalen Jugendbegegnungen in der Kritik: Ein Abbau von Vorurteilen sei aufgrund der ←22 | 23→Ausklammerung des Alltagslebens und brisanter Themen – sowohl politisch aktueller als auch solcher mit Vergangenheitsbezug – nur begrenzt möglich.66 Auch auf deutscher Seite bemängelte Roland Lutz, dass Partnerschaften in erster Linie der politischen Selbstdarstellung dienen würden. Generell sah er in den Begegnungen aufgrund von ihrer Gestaltung und Inszenierung viele Parallelen zum Tourismus und sprach ihnen nur eine oberflächliche Wirkung auf das Verständnis anderer Kulturen zu.67 In diese Kritik aus sozialwissenschaftlicher Sicht reiht sich auch der kontinuierlich wiederkehrende Vorwurf der Beschränkung auf einen reinen ‚Kommunaltourismus‘ ein,68 wobei Tätigkeitsberichte und Festzeitschriften meist ein durchaus weiter gefasstes Spektrum an Austauschen verzeichnen.69 Wenngleich die genannten Kritikpunkte im Einzelnen durchaus ihre Berechtigung haben, ist die Bewertung von Partnerschaften in der Regel positiv, da sie dank ihrer praktischen Austauscharbeit als bi- und multilaterales Annäherungs- und Kooperationsinstrument in europäischen Diskursen fest verankert sind. Zu der tatsächlichen Partnerschaftsarbeit lieferte Bettina Fieber in ihrer 1994 veröffentlichten, kulturwissenschaftlichen Dissertation am Beispiel der Partnerschaften des Landkreises Mainz-Bingen die bis heute umfassendste Untersuchung.70 Ihre Ergebnisse aus der ←23 | 24→lokalen Mikroperspektive bieten einen wichtigen Einblick in die praktische Ausgestaltung einer Partnerschaft.

Im gleichen Jahr erschien die politikwissenschaftliche Dissertation von Beate Wagner, die die wirkungsanalytische Fragestellung ihrer Fachkollegen methodisch kritisierte. Die bloße Nennung von durchweg ambitionierten Zielen in Umfragen – wie Versöhnung, Friedenssicherung, Freundschaft, europäische Integration, Abbau von Vorurteilen, Vermittlung von Sprachkenntnissen – ziehe nicht automatisch auch die Umsetzung dieser Ziele in den Städten und Gemeinden nach sich.71 Wagner wies darauf hin, dass der positive Einfluss von Städtepartnerschaften „nie befriedigt nachgewiesen, aber in der Öffentlichkeit weitgehend unbestritten“72 sei. Sie untersuchte in Abgrenzung zum wirkungsanalytischen und auf der Grundlage des strukturanalytischen Ansatzes, inwieweit deutsche Städte und Gemeinden eigenständige transnationale Beziehungen unterhalten können.73 Eigenständigkeit bedeutete für Wagner das Agieren der lokalen Gebietskörperschaften unabhängig von den zwischenstaatlichen Beziehungen und außenpolitischen Richtlinien, sodass sie bei diplomatischen Zerwürfnissen einen potentiellen Stabilisierungsfaktor darstellen können. Anhand von drei Gruppen (Ost-West-, Nord-Süd- und deutsch-deutsche Kommunalbeziehungen) kam sie zu dem Ergebnis, dass sich die Autonomie der Partnerschaften zwar nicht in allen Fällen voll entfalten konnte, sie für deutsche Städte und Gemeinden jedoch zumindest tendenziell gegeben sei.74

Mit dem Ende des Kalten Kriegs und der Zunahme von Entwicklungspartnerschaften bildeten deutsch-französische Kontakte nicht den Schwerpunkt von Wagners Dissertation. In der Politikwissenschaft fanden die idealistisch geprägten Bewegungen der Nachkriegszeit ohnehin zunehmend weniger Beachtung. Die ‚realistische‘ Schule, die sich im Zuge der Öffnung der Archive Anfang der 1980er von der ‚idealistischen‘ abgrenzte, beleuchtete bei der Untersuchung des europäischen ←24 | 25→Integrationsprozesses verstärkt nationalstaatliche Interessen.75 Inzwischen ist unbestritten, dass sicherheits- und machtpolitische Handlungsmotive aufgrund der weltpolitischen Lage sowie ökonomische Absichten nach 1945 einen bedeutenden Einfluss auf das geeinte Europa hatten.76 Bis zum heutigen Tag ist für Deutschland und Frankreich „zur Verfolgung ihrer nationalen Kerninteressen in der Außen- und Europapolitik“77 eine Abstimmung mit dem Partner unverzichtbar. Die neuen Erkenntnisse trugen zum Verständnis des zusammenwachsenden Europas bei. Im Gegensatz dazu sprach man Europaverbänden oder westeuropäischen Städtepartnerschaften nahezu jeglichen Einfluss ab.78 Das sinkende Forschungsinteresse am Untersuchungsgegenstand ab Anfang der 1980er Jahre ist allerdings auch auf das Auftreten neuer Forschungsfragen zurückzuführen.79 Mit dem wachsenden Bedürfnis nach einer regionalen und kommunalen Interessensvertretung auf europäischer Ebene waren Partnerschaften nur noch ein kleiner Bestandteil der grenzüberschreitenden Kommunalbeziehungen,80 sodass politikwissenschaftliche Publikationen ihnen auch nur noch einen entsprechenden Platz einräumten.81

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Entgegen dieser Entwicklung stieg nun das historiografische Interesse am Forschungsgegenstand, wobei die Geografin Cécile Chombard-Gaudin 1992 dazu aufrief, die Geschichte der Städtepartnerschaften zu untersuchen. Sie unterstrich den politischen Einfluss der Partnerschaften, die geeignet seien, trotz des staatlichen Monopols in der Außenpolitik internationale Politik zu gestalten.82 Parallel zu dieser Aufforderung, Forschungslücken zu schließen, ist ein seit Beginn der 1990er Jahre steigendes Interesse am Thema ‚Zivilgesellschaft‘ in Politik und Wissenschaft festzustellen, aus dem die Geschichtswissenschaft ein neues Forschungsfeld erschloss, das kontinuierlich an Bedeutung gewann, aber auch Kritik hervorrief.83 Die Zivilgesellschaft organisiert sich „nicht in traditionellen Familienstrukturen und auch nicht im Rahmen von privatwirtschaftlichen Unternehmen oder staatlichen Behörden, sondern primär in einem gesellschaftlichen Bereich jenseits von Markt, Staat und Privatsphäre.“84 Für die vorliegende Arbeit ergibt sich die Definition des Begriffs ‚Zivilgesellschaft‘ aus einer Kombination ihrer strukturellen Organisationsform (Vereine, Verbände, Stiftungen, Organisationen, Freundschaftskreise, Netzwerke, informelle Zirkel, Nichtregierungsorganisationen) und ihrer Funktion (das Kennenlernen des anderen im Sinne des ‚erweiterten Kulturbegriffes‘).85

Dieser neue Forschungsansatz ist eng mit dem Wirken des Politikwissenschaftlers Hans Manfred Bock verbunden, der eine Aufarbeitung der deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen forderte und geschichtswissenschaftliche Studien maßgeblich prägte.86 Eine Reihe von Studien stellte ab den 1990er Jahren den politischen Faktor als einzige Einflussvariable auf die bilaterale Kooperation beider Länder infrage.87 Insbesondere die ←26 | 27→„Meistererzählung“88 der durch die Unterzeichnung des Elysée-Vertrags von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle 1963 initiierten Aussöhnung beider Völker war umstritten. Obgleich beide Staatsmänner die deutsch-französischen Beziehungen nachhaltig beeinflussten, vernachlässigte diese Sichtweise den Einfluss kultureller und sozialer Faktoren sowie anderer politischer und gesellschaftlicher Akteure.89 Die neuen Erkenntnisse trugen zum Verständnis der deutsch-französischen Annäherung und Zusammenarbeit bei, sollten allerdings keine neuen Mythen eines angeblich bereits 1945 in der breiten Bevölkerung verankerten Annäherungswunsches heraufbeschwören.90

Für die deutsch-französischen Städtepartnerschaften beleuchtete Bock Kontinuitätslinien und Unterschiede der Zwischen- und Nachkriegszeit.91 Er kam zu dem Ergebnis, dass die Verträge von Locarno 1925 den Beginn verschiedener Annäherungsbemühungen, für die Heinrich Mann den Begriff „Locarno intellectuel“92 prägte, und eines kommunal verankerten Engagements der Deutsch-Französischen Gesellschaften (DFG) und der Ligues d’études germaniques bedingten. Das Prinzip einer festen „Zuordnung zwischen einzelnen […] Städten“93 fand jedoch keine Verwendung. Da der Verständigungsgedanke außerdem auf das Bildungsbürgertum zugeschnitten war, blieb er innerhalb der Bevölkerung wenig verbreitet.94 Die Annäherung über die Gemeinde nach 1945 bot hingegen einen breitenwirksameren Ansatz und sollte nach dem „Scheitern des Locarno von oben aus dem Jahre 1925 […] ein Locarno von unten schaffen“.95 Bocks Beitrag erschien ←27 | 28→1994 im Sammelband einer Tagung,96 auf der mit dem Ende des Ost-West-Konflikts deutsch-polnische, deutsch-sowjetische97 und deutsch-deutsche98 Partnerschaften im Zentrum standen. Auch die mit Blick auf die Versöhnung heiklen deutsch-israelischen Kontakte fanden Beachtung.99 Ein Beitrag fasste die Tagungsdiskussionen zusammen und stellt eine wertvolle Quelle für die damalige Wahrnehmung von Städtepartnerschaften dar: Demnach waren Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre Versöhnungsgedanken im deutsch-französischen Verhältnis kaum noch präsent und dafür ein Trend zur Multilateralisierung der Kommunalkontakte spürbar. Man stellte auch eine Stagnation deutsch-französischer Partnerschaften seit den 1970er Jahren fest.100 Auf diese Hypothesen, die in dieser Eindeutigkeit nicht zutreffend sind, geht die Arbeit im weiteren Verlauf ein.

Anfang des 21. Jahrhunderts folgten schließlich Ingo Bautz101 und Antoine Vion102 dem Aufruf von Chombard-Gaudin aus dem Jahr 1992 und widmeten sich in ihren Dissertationen den grenzüberschreitend tätigen Kommunalverbänden.103 ←28 | 29→Der Politikwissenschaftler Vion untersuchte auf der Basis von Quellenmaterial, inwiefern ideologische Konflikte zu Beginn des Kalten Kriegs auch über die Etablierung von Städtepartnerschaften ausgetragen wurden. Für Frankreich zeigte er an den Spannungen zwischen dem RGE und der FMVJ, dass deren Motivation in den 1950er Jahren hauptsächlich innenpolitischer Art war.104 Die beiden Kommunalverbände sowie Städte und Gemeinden versuchten als neue Akteure der internationalen Bühne, Partnerschaften gezielt zu nutzen, um nationale Politik zu gestalten und sich neue Rechte anzueignen.105

Stand bei Vion Frankreich im Fokus, so widmete sich der Historiker Bautz der deutschen Seite. Aufgrund der quellenfundierten Forschungsergebnisse zum Einfluss der IBU, des RGE und der FMVJ auf die Partnerschaften stellt Bautz’ Dissertation aus historiografischer Sicht zweifellos die bislang wichtigste Arbeit dar. Bautz bezeichnete das Verhältnis zwischen den Nationalstaaten und den Kommunalbeziehungen je nach Kontext als „unabhängig“, „koordiniert“, „reglementiert“ und „instrumentalisiert“.106 Demnach entwickelten sich in Westeuropa die Partnerschaften unmittelbar nach 1945 nahezu ‚unabhängig‘ von den Regierungen. Die Nationalstaaten unterstützten die Kommunalverbindungen im Laufe der Zeit ideell und schließlich finanziell, da sie ihren außenpolitischen Richtlinien entsprachen. Bautz sprach in diesem Zusammenhang von ‚koordinierten‘ Kontakten, die die außenpolitische Monopolstellung der Regierungen nur selten infrage stellten.107 Während hier das internationale Handeln der Städte und Gemeinden nur wenigen Beschränkungen unterlag, machten die Regierungen bezüglich einer kommunalen Interessensvertretung auf europäischer Ebene kaum Zugeständnisse. Aufgrund zahlreicher Konflikte zwischen der IBU, dem RGE und der FMVJ traten die drei Verbände darüber hinaus zu entscheidenden Zeitpunkten nicht geschlossen auf, sodass ihr Einfluss auf den Ausbau der EG ‚reglementiert‘ blieb.108 Im Kontext des Ost-West-Konflikts gingen Initiativen in Osteuropa ab Ende der 1950er Jahre meist von der staatlichen Ebene aus. Sie dienten außenpolitischen Zielen, sodass Bautz von ‚instrumentalisierten‘ Kontakten ausging. Allerdings versuchte auch die BRD ab diesem Zeitpunkt, über Partnerschaften die eigene Position deutschlandpolitisch zu stärken. Aufgrund der bundesdeutschen, kommunalen Selbstverwaltung waren die Einflussmöglichkeiten Bonns jedoch begrenzter als die Ostberlins.109

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Eine Analyse zu den ostdeutsch-französischen Städtepartnerschaften bietet ebenfalls die 2004 veröffentlichte Habilitationsschrift von Ulrich Pfeil, der den Untersuchungsgegenstand zeitlich auf den Zeitraum der ausstehenden staatsrechtlichen Anerkennung der DDR durch Frankreich begrenzte.110 Vor dem Hintergrund, dass beide Staaten bis 1973 keine offiziellen diplomatischen Beziehungen unterhielten, wies Pfeil nach, dass Städtepartnerschaften neben weiteren gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und sozialen Verbindungen eines der Instrumente waren, mit denen die DDR unabhängig von der offiziellen Diplomatie als internationaler Akteur auftreten konnte.111 Dabei zeichnete er die deutsch-deutsche Legitimationskonkurrenz innerhalb des Dreiecksverhältnisses zwischen der BRD, der DDR und Frankreich und die sich daraus ergebenden Leitlinien der jeweiligen Außenbeziehungen nach.112 Auch seine Untersuchung zur Dreieckskonstellation zwischen dem französischen Vierzon sowie dem westdeutschen Rendsburg und dem ostdeutschen Bitterfeld zu Zeiten des Kalten Kriegs bietet einen Einblick in die Thematik,113 zu der auch ein Aufsatz von Hans Christian Herrmann, der die ostdeutsch-französischen Städtepartnerschaften als „bedeutende Basen der Anerkennungsbewegung“114 der DDR verstand, vorliegt.

Besondere Aufmerksamkeit erfuhren die Städtepartnerschaften in den Arbeiten von Corine Defrance. Einem ersten im Jahr 1996 veröffentlichten Artikel folgten ab 2008 weitere Studien.115 Defrance räumte den Partnerschaften zusammen mit anderen privaten Akteuren und lokalen Organisationen eine Vorreiterrolle in der ←30 | 31→Annäherung Deutschlands und Frankreichs ein. Das Jahr 1958 bezeichnete sie als „point d’inflexion“,116 da der signifikante Zuwachs neuer Partnerschaften ab diesem Zeitpunkt auf die Verbreitung des Phänomens vor der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags hindeutet, obgleich dieser, wie auch die Subventionen des DFJW, die Bewegung unbestreitbar belebte.117 Defrance sah in diesem Zusammentreffen von „États, communes, personnalités et sociétés civiles“118 den Auslöser einer besonderen Dynamik. Außerdem befasste sie sich mit den Besonderheiten des Elsasses in der deutsch-französischen Kooperation auf regionaler und kommunaler Ebene119 und veröffentlichte mit der Verfasserin einen Artikel zum Versöhnungsaspekt innerhalb von Partnerschaften.120 Da Defrance auch den konfliktbeladenen Partnerschaftswettbewerb zwischen der BRD und der DDR berücksichtigte, bieten ihre Artikel einen umfassenden Einblick in die generelle Forschungsthematik.

Defrance gab außerdem mit Michael Kißener und Pia Nordblom im Anschluss an ein Mainzer Kolloquium im September 2007 den Sammelband ‚Wege der Verständigung zwischen Deutschen und Franzosen nach 1945: zivilgesellschaftliche Annäherungen‘ heraus.121 Den Städtepartnerschaften waren fünf von 20 Artikeln gewidmet, die Barbara Dümmer, Ulrich Pfeil, Florence Pacchiano, Jürgen Dierkes und Hélène Simoneau verfassten. Sie beleuchteten die Bedeutung der transnationalen Kommunalverbände, die Kontakte mit der DDR sowie die Verschwisterungen größerer und kleinerer Städte.122 Christian Sebeke widmete sich der Regionalpartnerschaft Rheinland-Pfalz/Burgund,123 die vor ihm bereits Anne Teissmann ←31 | 32→untersucht hatte.124 Aus der Forschungskooperation von Defrance und Kißener, in der auch die vorliegende Dissertation zu verorten ist, entstand ein Folgeprojekt, das die Zusammenarbeit Deutschlands und Frankreichs mit Polen in den Blick nahm. Daraus ging 2014 der Sammelband ‚Deutschland – Frankreich – Polen seit 1945. Transfer und Kooperation‘ hervor, der einen vergleichenden Artikel der Verfasserin zu den deutsch-französischen und deutsch-polnischen Städtepartnerschaften enthält.125

Das steigende historische Interesse zeigt sich an einem weiteren, 2010 erschienenen Sammelband, der aus einem Kolloquium zum Thema ‚Vivre et construire l’Europe à l’échelle territoriale de 1945 à nos jours‘ hervorging.126 Er enthält Artikel über Initiativen, die über die lokale Ebene einen Beitrag zu einer europäischen Bewusstseinsbildung leisten wollen.127 Dabei standen einzelne Partnerschaften, kommunale Bewegungen wie die Opération Villages Roumains und die Zusammenarbeit in europäischen Grenzregionen im Fokus.128 Während die Forschungsergebnisse für die hier vorliegende Thematik nur am Rande relevant waren, lieferte der Artikel von Amélie Richir über die Entwicklung der Bezirkspartnerschaft Schwaben/Mayenne, der sich auch die vorliegende Arbeit widmet, wichtige Erkenntnisse.129

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Bei den Beiträgen in den Sammelbänden handelte es sich um quellengestützte Untersuchungen, die auf kommunalem Archivmaterial basierten. Sie lieferten dank der sukzessiven Aufarbeitung verschiedenster Archivbestände wichtige Informationen für eine Gesamtbetrachtung des Phänomens.130 In ihrem jüngst erschienenen Werk untersuchte Lucie Filipová gleich fünf Fallstudien, griff jedoch fast nur auf Quellenmaterial der deutschen Seite zurück.131 Sie berücksichtigte Partnerschaften mit der BRD und der DDR bzw. nach 1990 mit einem neuen Bundesland und thematisierte Zielgruppen und Inhalte, Akteure und Institutionen sowie Probleme und Neuausrichtungen. Betrachteten andere Untersuchungen die Kommunalbewegung meist nur bis zum Elysée-Vertrag (1963) bzw. bis zur Anerkennung der DDR (1973), kommt Filipová der Verdienst zu, als erste Historikerin einen Zeitraum von 50 Jahren untersucht zu haben. Sie teilte ihn in fünf Zeitabschnitte ein (1950-1962, 1963-1973, 1974-1981, 1982-1989, 1990-2000). Die vorliegende Dissertation betrachtet einen längeren Zeitraum und greift auf eine sechsphasige Einteilung zurück (1950-1957, 1958-1962, 1963-1975, 1976-1984, 1985-1994, 1995-2014).132 Diese Gliederung ist dem Forschungsgegenstand angemessener, indem sie ←33 | 34→ausschließlich auf dem statistischen Verlauf der Partnerschaftsabschlüsse pro Jahr und nicht, wie es bei Filipová hauptsächlich der Fall ist, auf politischen Ereignissen – die nicht zwangsläufig einen Zusammenhang mit dem Abschluss von Städtepartnerschaften aufweisen – basiert.133

Filipová widmete sich insbesondere dem Einfluss der staatlich-diplomatischen Beziehungen auf die Kommunalbewegung und vernachlässigte dabei das Wirken regionaler, kommunaler und zivilgesellschaftlicher Akteure.134 Sie beleuchtete für ihre fünf Zeitabschnitte Parallelen und Unterschiede zwischen der Entwicklung der staatlichen Beziehungen und der neu abgeschlossenen Städtepartnerschaften auf Grundlage statistischer Daten.135 Ihre Schlussfolgerungen blieben deskriptiv,136 wobei die Frage nach einem Kausalzusammenhang zwischen der intergouvernementalen und kommunalen Ebene für Guido Müller auch zu Recht „zu den schwierigsten Fragen einer deutsch-französischen Gesellschaftsgeschichte überhaupt“137 gehört.

Zu dieser ‚schwierigen‘ Frage erschienen rund um das 50-jährige Jubiläum des Elysée-Vertrags viele neue Publikationen. Die Politikwissenschaftler Ulrich Krotz und Joachim Schild entwickelten das Konzept des Embedded Bilateralism, das die „tiefe institutionelle Einbettung der deutsch-französischen bilateralen Staatsbeziehung“138 beschrieb. Institutionen ermöglichen, häufig mit einem Budget und Personal ausgestattet, die Entwicklung einer Strategie zur Verwirklichung gemeinsamer Interessen. Auf europäischer Ebene waren und sind beide Länder in den Integrations- und Institutionalisierungsprozess der Europäischen Gemeinschaft (EG) bzw. Union (EU) eingebunden. Auf bilateraler Ebene existieren unter anderem die zu Beginn der Einleitung genannten Institutionen, aber auch eingespielte Handlungsnormen.139 In diesem Zusammenhang bezeichnete Krotz Städtepartnerschaften als Parapublic Underpinnings. Parapublic Underpinnings gehören ihm zufolge weder zum öffentlich-staatlichen noch zum privat-gesellschaftlichen Bereich und ‚untermauern‘ – auch dank staatlicher Fördergelder – mit ihrem halbstaatlichen ←34 | 35→Charakter die bilateralen Beziehungen der beiden Länder.140 Des Weiteren sei auf das Model of Reconciliation der Politikwissenschaftlerin Lily Gardner Feldman mit den Erfolgsfaktoren History, Leadership, Institutions und International context verwiesen.141 Clémentine Chaigneau und Stefan Seidendorf erweiterten dieses Modell um die Faktoren Aussöhnungsdiskurs und transnationale Zivilgesellschaft142 und Frank Baasner wandte es auf die deutsch-französischen Partnerschaften mit dem Ergebnis an, dass die Einflussfaktoren, die das Kapitel 1.3. ausführlich darlegt, die Kommunalbewegung maßgeblich prägten.143

Auch die Sozialwissenschaften widmeten sich in den vergangenen Jahren erneut dem Untersuchungsgegenstand und interessierten sich für das Phänomen der ‚Transnationalisierung‘, d. h. der kulturellen Seite der Globalisierung.144 Annina Lottermann übertrug 2010 anhand von einzelnen Veranstaltungen ←35 | 36→deutsch-polnischer und deutsch-türkischer Partnerschaften das überwiegend im anglophonen Kontext entwickelte sozial- und kulturanthropologische Transnationalisierungsparadigma auf den europäischen Kontext. Sie kam zu dem Schluss, dass es nur bedingt zutreffe, da in Europa einzelne Merkmale des Paradigmas eine kontextspezifisch unterschiedliche Ausprägung aufweisen. Städtepartnerschaften seien eine geförderte und institutionalisierte Praxis, die zwar Grenzüberschreitungen erlaube, aber kaum die Intention der Herausbildung einer transnationalen Identität verfolge.145 In jüngster Zeit analysierte der Soziologe Andreas Langenohl die Bildung von Lokalität durch den Auf- und Ausbau translokaler Beziehungen.146 Mit Blick auf die Praktiken der Lokalisierung politischer Kultur unterschied er vier Strategien: politics of mass drama, deconstruction, governance und encounter. Laut Langenohl sinkt vor dem Hintergrund der Förderrichtlinien der EU die Relevanz des mass drama147 und die Bedeutung des reinen Begegnungsaspekts (encounter).148 In der politics of governance, die darin besteht, über (trans-)lokale Praktiken (kommunal-)politische Ziele zu artikulieren,149 sieht er hingegen die wichtigste, durch die EU-Subventionen in Gang gesetzte Innovation im Bereich der Städtepartnerschaften.150

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass zu den deutsch-französischen Städtepartnerschaften inzwischen einige Studien erschienen sind, aber eine Asymmetrie zwischen deutschen und französischen Publikationen vorliegt. Auffallend ist die – prozentual zu den Abschlussraten der Partnerschaften zu verstehende – Vielzahl von Untersuchungen zu den Partnerschaften mit der DDR, die nicht weniger erforscht zu sein scheinen als die mit der BRD, obwohl diese zahlenmäßig wesentlich bedeutender sind. Das liegt vermutlich daran, dass die Instrumentalisierung der Verbindungen ostdeutscher Städte und Gemeinden nicht nur interessanter, sondern auch das Quellenmaterial aufgrund der zentralisierten Strukturen der DDR einfacher zu erschließen ist. Studien zu der weltweiten Partnerschaftsbewegung oder anderen bilateralen Konstellationen innerhalb Europas sind kaum vorhanden.151 Zwar wird ein geplanter Sammelband der Tagung ‚Städtepartnerschaften ←36 | 37→in Europa – Konzepte und Praxis von Annäherung im 20. Jahrhundert‘, die im Oktober 2015 in Mainz stattfand, neue Erkenntnisse zu griechisch-türkischen, algerisch-französischen, deutsch-polnischen, französisch-sowjetischen und deutsch-britischen Kommunalkontakten liefern.152 Dennoch bietet das Themenfeld nach wie vor sowohl unter statistischen Gesichtspunkten153 als auch in geschichtswissenschaftlicher Hinsicht154 weitere Forschungsmöglichkeiten.

Den Ausgangspunkt für die vorliegende Dissertation, die sich aus der 2010 veröffentlichten Staatsexamensarbeit der Verfasserin entwickelte,155 stellten Aussagen dar, nach denen seit Mitte der 1970er Jahre ein kontinuierlicher Rückgang neu abgeschlossener deutsch-französischer Städtepartnerschaften vorliege. Diese Annahme ist auf Grunert zurückzuführen, der in seiner Arbeit aus dem Jahr 1981 einen Rückgang für die Jahre 1975 bis 1979 feststellte.156 Andere Autoren übertrugen diese Feststellung, die für den genannten Zeitraum zutrifft, fälschlicherweise auf eine längere Periode.157 Diese angebliche Entwicklung wurde parallel zum Zuwachs ost-westeuropäischer Partnerschaften ab 1989 mit dem bereits erreichten Grad der Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich begründet.158 ←37 | 38→Die Statistik widerspricht hingegen dieser Annahme und verzeichnet ab Mitte der 1980er Jahre einen erneuten Anstieg,159 der zwar nicht in seiner Dauer, aber in seiner Intensität bedeutender war als der Zuwachs in den Jahren 1963 bis 1975.160

1.2 Fragestellungen und Aufbau der Arbeit

Der Zeitraum von 1985 bis 1994 ist aufgrund des Zuwachses deutsch-französischer Städtepartnerschaften, den ein eigens angelegtes Register statistisch erschloss, der zentrale Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Einerseits liegt der Fokus der Dissertation auf den Institutionen, Vereinen und Einzelpersonen, die an diesem Anstieg als Partnerschaftsinitiatoren und -vermittler beteiligt waren, sowie auf dem Grad der Vernetzung dieser Akteure untereinander. Andererseits stehen die Beweggründe, aus denen sie handelten, und die Hindernisse, die sie zu überwinden hatten, im Mittelpunkt des Interesses. Ziel der Arbeit ist es in erster Linie, zu klären, welche Faktoren für das numerische Ausmaß der deutsch-französischen Städtepartnerschaftsbewegung im Allgemeinen und insbesondere zwischen 1985 und 1994 ausschlaggebend waren, sodass sie laut Wagner zu einem „Massenphänomen“161 werden konnten. Auf der einen Seite soll ermittelt werden, ob die kommunalen Verbindungen ‚von oben‘ oder ‚von unten‘ angeregt wurden und wie diese beiden ‚Kategorien‘ überhaupt zu definieren sind. Die Dissertation geht der Frage nach, welche Akteure sich für eine Zusammenarbeit mit dem Nachbarland interessierten, wie im Rahmen von Verschwisterungen Institutionen, Vereine und Einzelpersonen miteinander in Verbindung standen und ob bei den Partnerschaftsgründungen politische, halbstaatliche162 oder zivilgesellschaftliche Strukturen entscheidend waren. Auf der anderen Seite beleuchtet sie die Zielsetzungen, die während des Untersuchungszeitraums die Handlungsmotive der Akteure prägten, und den Einfluss des ereignisgeschichtlichen Kontexts im Zuge des europäischen Integrationsschubs ab Mitte der 1980er Jahre und der Entspannung im Ost-West-Konflikt. Die Hypothese, dass zu diesem Zeitpunkt andere Ziele das ursprüngliche Aussöhnungsmotiv ersetzten und 40 bis 50 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs Ressentiments keine Rolle mehr spielten, gilt es zu überprüfen. Des Weiteren muss geklärt werden, ob und welche Personen Städtepartnerschaften ablehnten und ob es Alternativen zu einer deutsch-französischen Verbindung bzw. gescheiterte Projekte gab.

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Erkenntnisinteresse und Ziel der vorliegenden Arbeit ist es also, mittels der genannten Untersuchungsfragen für den wenig erforschten Zeitraum von 1985 bis 1994 ein genaues Bild des Erfolgs deutsch-französischer Partnerschaften anhand einer exemplarischen Auswahl von 40 Fallstudien zu zeichnen: Wer, aus welchen Gründen und in welchem Kontext war am zweiten Städtepartnerschaftsboom maßgeblich beteiligt? Darüber hinaus soll anhand von drei weiteren Fragestellungen, die auf der Basis von schriftlichen und mündlichen Quellen beantwortet werden können, ein Ausblick in die Praxis gegeben werden: Erstens gilt es, Bilanz zu ziehen und festzuhalten, ob die untersuchten Städtepartnerschaften als ein auf die Ewigkeit angelegtes Erfolgskonzept noch existieren oder ob sie inzwischen aufgelöst wurden. Zweitens bedarf es einer Analyse des Gewichts der finanziellen Förderung durch die EU und der Frage, ob diese in der Wahrnehmung der Partnerschaftsverantwortlichen zu einem bürgernahen Europa und einem europäischen Zusammengehörigkeitsgefühl beiträgt. Drittens soll der häufig geäußerte Vorwurf, dass Partnerschaften Themen mit Konfliktpotential grundsätzlich ausklammern, kritisch hinterfragt und der Frage nachgegangen werden, ob Städtepartnerschaften unter anderem zu einer deutsch-französischen Vergangenheitsaufarbeitung beitragen können.

Die vorliegende Dissertation gliedert sich größtenteils nach thematischen Gesichtspunkten. Das zweite Kapitel beinhaltet als Hinführung zum Thema eine statistische Erhebung neu abgeschlossener Partnerschaften von 1950 bis 2014, auf deren Grundlage die Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands auf die Jahre 1985 bis 1994 resultierte. Zur Kontextualisierung folgt eine Darstellung der Entwicklung der deutsch-französischen Partnerschaftsbewegung bis Mitte der 1980er Jahre, die auf der Grundlage der einschlägigen Forschungsliteratur und für die Zeit ab 1975 auch vermehrt auf Ergebnissen aus eigenen Recherchen basiert. Da die Städtepartnerschaftsgründung im Mittelpunkt der Dissertation steht, wird anschließend ihr typischer, geradezu standardisierter Verlauf mit seinen symbolischen und rituellen Aspekten nachgezeichnet.

Das dritte Kapitel wendet sich den am Abschluss der Städtepartnerschaften beteiligten Institutionen, Vereinen und Einzelpersonen zu. Die Fokussierung der Untersuchung aus der lokalen Mikroperspektive auf Akteure beleuchtet zunächst deren Verankerung im dezentralen Verwaltungsaufbau beider Länder, der die Verwendung der häufig genutzten Kategorien ‚von oben‘ und ‚von unten‘ bei der Analyse von Einflüssen auf die deutsch-französischen Beziehungen infrage stellt. Der Blick richtet sich dann auf acht verschiedene Kategorien von Akteurstypen, denen die Initiatoren und Vermittler zugeordnet werden, die sich um die deutsch-französische Partnerschaftsbewegung verdient gemacht haben. Es gilt dabei, das Zusammenspiel politischer, halbstaatlicher und zivilgesellschaftlicher Strukturen und Verflechtungen zwischen den acht verschiedenen Akteurstypen zu analysieren. Aufgrund der Komplexität der Thematik fassen zehn Schlussfolgerungen die wichtigsten Erkenntnisse des Kapitels als Zwischenergebnis zusammen. Während das dritte Kapitel die 40 Fallstudien detailliert analysiert, beleuchtet das vierte Kapitel sie in einem weiteren Kontext.

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Im vierten Kapitel liegt der Fokus auf den Beweggründen der Initiatoren und Vermittler sowie auf den Hindernissen und dem Widerstand, die bisweilen zu überwinden waren. Eine trennscharfe Abgrenzung zwischen den Akteuren und ihren Handlungsmotiven war nicht immer realisierbar und sinnvoll, sodass sich zwischen dem dritten und vierten Kapitel Querverweise ergeben. Nach der Kontextualisierung des Zuwachses deutsch-französischer Städtepartnerschaften von 1985 bis 1994 folgt das Kapitel einer inneren Gliederung nach den Punkten ‚Europa‘, ‚Deutschland und Frankreich‘ und ‚Kommunale Ebene‘. Das Kapitel betrachtet in Bezug zur Ereignisgeschichte damalige Tendenzen in der Partnerschaftspolitik sowie die Einrichtung des Städtepartnerschaftsfonds. Es nimmt den Einfluss der Regierungsebene auf die kommunale Zusammenarbeit, die Dynamik des bereits bestehenden deutsch-französischen Netzwerks und die Allgegenwart der gemeinsamen Vergangenheit in Form des Aussöhnungsmotivs und -diskurses sowie von Ressentiments in den Blick. Dabei stellt sich auch die Frage, ob eine deutsch-französische Verbindung vereinzelt eine Notlösung darstellte, da alternative Möglichkeiten bei der Partnerschaftsgründung nicht zur Verfügung standen. Das Kapitel richtet anschließend die Perspektive auf die kommunale Ebene und beleuchtet die Aspekte Selbstdarstellung, projektbezogene Kooperationen, praktische Bedenken und materielle Hindernisse.

Das fünfte Kapitel widmet sich der Funktion von Partnerschaften. Es fragt anhand ausgewählter Beispiele, was sie in der Praxis leisten können, wann sie an ihre Grenzen stoßen und ob sie eher ein Auslaufmodell oder ein zukunftsträchtiges Erfolgskonzept darstellen. Vor dem Hintergrund des fortwährend formulierten Anspruchs, einen breitenwirksamen Beitrag zur deutsch-französischen Aussöhnung und zu einem bürgernahen Europa zu leisten, stehen der Stellenwert von Erinnerung und die Vergangenheitsaufarbeitung, eine Analyse des Verhältnisses der in den Partnerschaften involvierten Ehrenamtlichen zur EU sowie die Frage, inwiefern Austausche tatsächlich den größtmöglichen Teil der Bevölkerung einbeziehen, im Fokus.

Die Kapitel ordnen an geeigneten Stellen die Untersuchungsergebnisse den sechs Faktoren des von Gardner Feldman entwickelten und von Chaigneau und Seidendort erweiterten Model of Reconciliation zu, das das Kapitel 1.3. genauer darstellt.

1.3 Methodisches Vorgehen, Forschungskorpus und theoretischer Rahmen

Die vorliegende Arbeit orientiert sich in theoretischer und methodischer Hinsicht in erster Linie an der historischen Methode. Die leitenden Fragestellungen determinierten die Zusammenstellung der Quellen, um im Anschluss auf der Grundlage der Quellenkritik und -interpretation belegbare Aussagen treffen zu können. Die Verfasserin wertete die Archivalien vornehmlich nach systematisch-analytischen Gesichtspunkten aus, um wiederkehrende Handlungsabläufe und Diskurse bei der ←40 | 41→Städtepartnerschaftsgründung und in der Praxis herauszuarbeiten. Dennoch setzt das Verständnis der Entwicklungen während des Untersuchungszeitraums voraus, dass die Arbeit auch die Ereignisgeschichte berücksichtigt. Für eine Einordnung des Zeitraums in den Gesamtkontext und zur Untersuchung von Kontinuitätslinien und -brüchen stehen die Jahre 1985 und 1994 allerdings nicht für einen starren zeitlichen Rahmen.

Ausgehend von dieser Basis verwendet die Untersuchung weitere Methoden. Am Anfang bestimmt die Dissertation das quantitative Ausmaß mittels einer statistischen Erhebung. Darauf aufbauend veranschaulicht die Methode der deskriptiven Statistik den Zuwachs deutsch-französischer Partnerschaften im Laufe der Zeit sowie ihre geografische Verteilung in Deutschland und Frankreich. Vorwiegend die Datenbanken des Rates der Gemeinden und Regionen Europas – Deutsche Sektion (RGRE-DS) und der Association française du Conseil des Communes et Régions d’Europe (AFCCRE) lieferten die notwendigen Daten. Listen der Regional- und Bezirkspartnerschaften ergänzten die Angaben. Da die verschiedenen Verzeichnisse sich stark voneinander unterscheiden, erstellte die Verfasserin in zeitaufwendiger Recherche ein eigenes Partnerschaftsregister.163

Neben dieser quantitativen Analyse konzentriert sich die Dissertation im Rahmen einer qualitativen Recherche auf eine Auswahl von 40 deutsch-französischen Partnerschaften,164 d. h. sie untersucht über 6,5 % der insgesamt 609 Verbindungen, die zwischen 1985 und 1994 entstanden sind, wobei die exemplarisch gewonnenen Erkenntnisse Rückschlüsse auf den allgemeinen Zuwachs ermöglichen. Die ←41 | 42→Recherche setzte bewusst auf der kommunalen Ebene an, um aus der lokalen Mikroperspektive die Impulse in den Städten und Gemeinden, die vor Ort für die Gründung einer Partnerschaft ausschlaggebend waren, eruieren zu können. Aufgrund der Zeitnähe des Themas wäre eine Recherche auf nationaler Ebene wegen der begrenzten Zugänglichkeit der Archivalien ohnehin beeinträchtigt gewesen. Die Untersuchung war anfangs breiter angelegt, sodass vereinzelt der Rückgriff auf Quellenmaterial aus Städten und Gemeinden, die nicht zum Korpus der 40 ausgewählten Partnerschaften gehören, möglich ist.165 Außerdem nahm die Arbeit sieben bei der Partnersuche behilfliche Einrichtungen in den Blick: die AFCCRE und die sechs, in Deutschland und Frankreich zuständigen Büros der Partnerschaften Burgund/Rheinland-Pfalz, Unterfranken/Calvados und Schwaben/Mayenne. Deren Untersuchung erlaubte es, Rückschlüsse auf die Wechselbeziehungen zwischen den sieben Vermittlungsstellen und den partnersuchenden Städten und Gemeinden sowie den Einfluss institutioneller Strukturen zwischen kommunaler, staatlicher und europäischer Ebene zu ziehen.

An den 40 Fallstudien sind aufgrund einer bestimmten Vermittlungspraktik 40 deutsche sowie 52 französische Städte und Gemeinden beteiligt.166 Für eine bessere Veranschaulichung werden die 92 Ortsnamen im weiteren Verlauf der Arbeit unterstrichen, um sie im Vergleich von anderen Städtepartnerschaften abzugrenzen. Die Auswahl determinierten chronologische, strukturelle und geografische Gesichtspunkte. Um den Zuwachs von 1985 bis 1994 untersuchen zu können, war das wichtigste chronologische Kriterium, dass alle Städtepartnerschaften in diesem Zeitraum entstanden.167 Strukturelle Gesichtspunkte waren ausschlaggebend für die Untersuchung von Partnerschaften, die im Gegensatz zu anderen in eine übergeordnete Kooperationsstruktur integriert waren. Exemplarisch erfasst die Arbeit Fallstudien, die dank der Regionalpartnerschaft Rheinland-Pfalz/Burgund und den Bezirkspartnerschaften Unterfranken/Calvados und Schwaben/Mayenne besondere politisch-institutionelle Unterstützung erhielten.

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In geografischer Hinsicht liegen die 92 Städte und Gemeinden größtenteils in den deutschen Bundesländern und den französischen Regionen, in denen es zwischen 1985 und 1994 eine starke Zunahme neuer Abschlüsse gab.168 Drittens fanden Untersuchungen in allen Grenzregionen statt, die aufgrund ihrer Lage sowohl aus historischer als auch aus heutiger Sicht eine besondere Beziehung zum Nachbarland haben. Darüber hinaus zieht die Analyse auf deutscher Seite Sachsen-Anhalt als ostdeutsches Vergleichsland heran.169 Auf französischer Seite gehörten ferner die Gemeinden Ambert (Auvergne) und Valréas (Provence-Alpes-Côte d’Azur) zum Forschungskorpus.170 Bis auf die Partnerschaft Sachsenheim/Valréas wählte die Arbeit die Verbindungen nach der Anwendung des Analyserasters mit seinen chronologischen, geografischen und strukturellen Kriterien vor dem Hintergrund der Erreichbarkeit der Archive und ihrer Diversität mit Blick auf ihre Größe171 und der Entfernung172 zum Partner aus.173

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Eine historiografische Untersuchung, die den genannten Fragenkomplexen anhand von 40 ausgewählten Städtepartnerschaften nachgeht, betritt Neuland. In Abgrenzung zu politikwissenschaftlichen Studien und zur methodischen Untersuchung dieser Themenfelder per Fragebogen, die möglicherweise jemand ausfüllt, der nicht mit der Kontaktanbahnung vertraut ist, verspricht sie dank der genutzten Archivalien eine größere Nähe zum Forschungsgegenstand. Gerade in kleinen Gemeinden bergen vorgegebene Antwortkategorien die Gefahr, dass sie die komplexen Verflechtungen der kommunalen Ebene, Wechselwirkungen zu übergeordneten Instanzen sowie wiederkehrende Motivationen, Diskurse, Muster und Strukturen nicht angemessen erfassen. So ist es beispielsweise nicht ungewöhnlich, dass ein engagierter Lehrer, der für die Durchführung eines Schüleraustausches eine Partnerschaft initiiert, gleichzeitig im Gemeinderat sitzt. Da der Forschungsgegenstand der nach Hans Rothfels definierten „Epoche der Mitlebenden“174 angehört, bestand neben der Auswertung von Archivmaterial die Möglichkeit – und in diesem Fall auch die Notwendigkeit – die aus dem anglophonen Raum stammende Methode der Oral History zu verwenden.175 Gerade die Kontaktanbahnung von Städtepartnerschaften über private Netzwerke erfordert keine Protokollierung und verläuft meistens über informelle Absprachen im direkten Gespräch oder per Telefon. Die ersten schriftlichen Dokumente über den Vorgang legte man daher häufig erst an, wenn die Entscheidung, eine Verbindung einzugehen, bereits gefallen war. ←44 | 45→Außerdem vermitteln Zeitzeugeninterviews bedeutsame „Primärerfahrungen, die später aus Quellen nur schwer oder gar nicht mehr zu erschließen sind“.176 Sie stellten darüber hinaus eine unverzichtbare Quelle für das Verständnis aktueller Probleme dar.

Vor dem Gespräch verschickte die Verfasserin einen Fragenkatalog. So konnten sich die Ansprechpartner aus den 40 Partnerschaften auf das semi-strukturierte Interview vorbereiten und in einigen seltenen Fällen schriftlich auf die Fragen antworten.177 Der Fragenkatalog diente während des Interviews als Leitfaden zur groben Orientierung, ließ aber auch Platz für weitere Fragen, die sich aus dem Archivmaterial oder beim Gespräch ergeben hatten. Auch die Verantwortlichen der Büros der Regional- und Bezirkspartnerschaften standen größtenteils für Interviews zur Verfügung. Die Gesprächsführerin verzichtete bewusst auf Tonaufzeichnungen, um eine ungezwungene Atmosphäre aufzubauen. Die Gespräche, in deren Verlauf sich häufig neue Quellen aus Privatarchiven erschlossen, dauerten von 20 Minuten bis zu zwei Stunden. Ergaben sich bei der Auswertung des Quellenmaterials nach dem Besuch weitere Fragen, äußerten die Gesprächsteilnehmer sich dazu telefonisch oder per E-Mail. Gesprächsprotokolle lagen den Interviewpartnern im Anschluss an das Gespräch zur Korrektur und Freigabe für die Publikation vor.

Neben der quantitativen und qualitativen Untersuchung greift die Arbeit auf politik-, sozial- und kulturwissenschaftliche Analysemodelle und Konzepte zurück. Seit Beginn der Partnerschaftsbewegung sollten die kommunalen Beziehungen einen Beitrag zur Herausbildung eines europäischen Gemeinsinns und zur Sensibilisierung für die Bedeutung der deutsch-französischen Annäherung leisten. Vor diesem Hintergrund untersucht die Dissertation die Ausgestaltung emotional aufgeladener Gründungszeremonien und Gedenkveranstaltungen sowie europäisch geprägte Diskurse. Dazu sind die Ausführungen von Philippe Braud relevant. Der Soziologe Braud spricht im Rahmen einer Analyse symbolischer Elemente in der Politik den drei Kategorien ‚Sprache‘, ‚Objekte‘ und ‚Praktiken‘ eine entscheidende Bedeutung bei der Herausbildung von Identitäten zu.178 Überlegungen von ←45 | 46→Pierre Nora,179 Etienne François und Hagen Schulze180 sowie Jacques Morizot und Horst Möller181 zu identitätsstiftenden Erinnerungsorten verwendet die vorliegende Studie ebenfalls.182 Auch sind das von Maurice Halbwachs definierte kollektive Gedächtnis,183 dessen Erweiterung um das kommunikative und kulturelle Gedächtnis durch Aleida und Jan Assmann184 und das von Eric Hobsbawm und Terence Ranger entwickelte Konzept der Invented Traditions zu nennen.185

Des Weiteren kombinieren – und relativieren gegebenenfalls – auf Archivalien und Zeitzeugeninterviews basierende Erkenntnisse die im Abschnitt zum ←46 | 47→Forschungsstand knapp umrissenen Überlegungen des Politikwissenschaftlers Krotz zu den Parapublic Underpinnings.186 Auch das bereits angesprochene Model of Reconciliation von Gardner Feldman, das auf Analysen der Außenpolitik Deutschlands zu Frankreich, Israel, Polen und der Tschechischen Republik basiert, fließt in die Arbeit ein. Eine der bedeutendsten Orientierungsrichtlinien der deutschen Außenpolitik seit 1945 ist laut Gardner Feldman aus moralischen Motiven, aber mit Blick auf den notwendigen „return to the family of nations“187 auch aus pragmatischen Interessen die Aussöhnung mit ehemals verfeindeten Staaten. Bedingen die vier Faktoren History, Leadership, Institutions und International Context die Kooperation zweier Länder, ist laut Gardner Feldman eine bilaterale Annäherung möglich.

Der Faktor History nähme in dreifacher Hinsicht eine zentrale Rolle ein. Erstens stehe die Vergangenheit als Beweggrund am Anfang eines jeden Aussöhnungsprozesses (Past as Stimulus). Zweitens sei die Anerkennung des durch das eigene Volk begangenen Unrechts (Acknowledgement of Grievances) und ein Dialog zwischen beiden Ländern, der nicht unbedingt die Schuldfrage, aber zumindest Verantwortlichkeiten thematisiert, von Bedeutung. Drittens seien im weiteren Verlauf die Aufarbeitung der gemeinsamen Vergangenheit, die Akzeptanz der Interpretation historischer Ereignisse anderer Völker und die Etablierung einer Erinnerungskultur wichtig (Past as Present).188 Wenngleich Gardner Feldman den Fokus der genannten Beispiele für den Faktor Leadership auf die persönlichen Beziehungen der Staats- und Regierungschefs legte, sprach sie auch Personen wie Alfred Grosser oder Joseph Rovan eine Vorbildfunktion zu.189 Der International Context determiniere aufgrund globaler und europäischer Einflüsse die Kooperation beider Länder, die häufig nur gemeinsam ihre Interessen verwirklichen konnten.190

Institutions sind laut Gardner Feldman „bilateral governmental institutions between states and institutionalized transnational networks between societies“.191 Sie teilte Institutionen und Netzwerke in staatliche192 und nicht-staatliche ein, wobei Letztere Verbindungen zur Regierungsebene – unter anderem über Subventionen – unterhalten können, aber nicht müssen.193 Eine Analyse der von Gardner Feldman ←47 | 48→angesprochenen Notwendigkeit einer „institutionalized transformation“194 muss auch Akteure berücksichtigen, da Institutionen sich in einem Austauschprozess mit staatlichen Behörden, anderen Institutionen oder individuell agierenden oder kollektiv organisierten Bürgern befinden.195 So sammelte sie unter dem Begriff Institutions eine ganze Brandbreite von Strukturen, die in ihrer Funktion und Nähe bzw. Distanz zur Regierungsebene bedeutende Unterschiede aufweisen.196

Gardner Feldman berücksichtigte unter dem Faktor Institutions durchaus Organisationen, in denen – wie in den Deutsch-Französischen Gesellschaften – vornehmlich die Zivilgesellschaft organisiert ist. Sie standen jedoch nicht im Mittelpunkt ihres Erkenntnisinteresses, sodass Chaigneau und Seidendorf das Model of Reconciliation um die Einflussvariable transnationale Zivilgesellschaft erweiterten.197 Zugleich betonten sie den institutionalisierten Charakter der Zivilgesellschaft: Die ersten Annäherungsinitiativen nach 1945 basierten nicht auf Forderungen der breiten Öffentlichkeit, sondern einige Vorreiter engagierten sich für die deutsch-französische Verständigungsidee, die sie über Kontakte zu Politikern und Beziehungen zu öffentlichen Organisationen in der Gesellschaft institutionalisierten.198 Karl Kaiser und Markus Mildenberger sprachen in diesem Zusammenhang von gesellschaftlichen Mittlerorganisationen, die „Institutionen der zwischen Gesellschaften angewachsenen transnationalen Beziehungen sowie der Demokratisierung der Außenpolitik [sind]: einerseits als deren Produkt, andererseits als ←48 | 49→Kräfte, die diese Prozesse weiter vorwärts treiben“.199 Zwischen den Faktoren Institutions und transnationale Zivilgesellschaft können je nach Untersuchungsgegenstand die Grenzen fließend sein. Institutions sind im Rahmen der vorliegenden Studie Organisationsformen, die Personal anstellen, die Gründung von Städtepartnerschaften anregen und – auch finanziell – unterstützen. Unter dem Begriff transnationale Zivilgesellschaft versteht die Arbeit ehrenamtlich aufgebaute Strukturen, die über kein festes Budget und Personal verfügen.

Details

Pages
444
Publication Year
2019
ISBN (PDF)
9783631790694
ISBN (ePUB)
9783631790700
ISBN (MOBI)
9783631790717
ISBN (Hardcover)
9783631766279
DOI
10.3726/b15650
Language
German
Publication date
2019 (May)
Keywords
deutsch-französische Beziehungen Europäischer Aussöhnungsprozess Grenzüberschreitende Kooperation Zivilgesellschaft Europäischer Integrationsprozess Vergangenheitsaufarbeitung
Published
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 442 S., 5 farb. Abb., 6 Tab., 20 s/w Graf.

Biographical notes

Tanja Herrmann (Author)

Tanja Herrmann ist Absolventin eines deutsch-französisch-kanadischen Studiengangs der Fächer Geschichte, Französisch, Politik und Erziehungswissenschaften. Ihre Doktorarbeit hat sie im Cotutelle-Verfahren an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne verteidigt.

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Title: Der zweite deutsch-französische Städtepartnerschaftsboom (1985-1994)