Täterhandeln im Nationalsozialismus
Ein Unterrichtsmodell zum historischen Lernen über die Shoah
Summary
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Table Of Contents
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Vorwort
- Inhaltsverzeichnis
- Abkürzungsverzeichnis
- 1 Einleitung
- 1.1 Thema, Fragestellungen und Ziel der Arbeit
- 1.2 Forschungskontext
- 1.3 Quellengrundlage
- 1.4 Methodische Überlegungen
- 1.5 Aufbau der Arbeit
- 2 Fachwissenschaftliche Grundlagen zur Täterforschung
- 2.1 Zur Geschichte der Täterforschung
- 2.2 Konzepte zu Tätertypen, -dispositionen und -motiven
- 2.3 Strategien zur Legitimation von Täterschaft
- 2.4 Zur Rolle der Frauen als Täterinnen
- 3 Fachdidaktische Grundlagen zur Auseinandersetzung mit individuellem Täterhandeln
- 3.1 Zur historischen Entwicklung der Erinnerungskultur
- 3.1.1 Adornos „Wendung aufs Subjekt“
- 3.1.2 Jan Assmanns kulturwissenschaftliche Theorie des Erinnerns
- 3.1.3 Die Walser-Bubis-Debatte
- 3.1.4 Zukünftige Erinnerungskultur
- 3.1.5 Konsequenzen für die Konzeption des Unterrichtsmodells
- 3.2 Empirische Studien zur Haltung von Jugendlichen zur Shoah
- 3.2.1 Die Studie Radtkes et al. (2002)
- 3.2.2 Die Studie Georgis (2003)
- 3.2.3 Die Studie Zülsdorf-Kerstings (2007)
- 3.2.4 Die Studie Stubigs (2015)
- 3.2.5 Konsequenzen aus den Forschungsergebnissen für die Konzeption des Unterrichtsmodells
- 3.3 Historisches Denken und Lernen durch die Auseinandersetzung mit Täterschaft im Geschichtsunterricht
- 3.3.1 Kompetenzen historischen Denkens
- 3.3.1.1 Kompetenzdefinitionen
- 3.3.1.2 Kompetenzmodelle
- 3.3.1.2.1 Das Kompetenzmodell Hans-Jürgen Pandels
- 3.3.1.2.2 Das Kompetenzmodell Michael Sauers und des VGD
- 3.3.1.2.3 Das Kompetenz-Strukturmodell der FUER-Gruppe
- 3.3.1.2.4 Das Kompetenzmodell Peter Gautschis
- 3.3.1.2.5 Das Kompetenzmodell der EPA und der Kernlehrplan Geschichte in Nordrhein-Westfalen
- 3.3.1.3 Kompetenzbeiträge des Unterrichtsmodells
- 3.3.1.4 Profilierung: Förderung der Entwicklung historischer Orientierungskompetenz
- 3.3.2 Subjektorientiertes historisches Lernen
- 3.3.2.1 Begriff und Leitidee
- 3.3.2.2 Subjektorientierung in Bezug auf die Sache
- 3.3.2.3 Subjektorientierung in Bezug auf die Lernenden
- 3.3.2.4 Subjektorientierung in Bezug auf die Lehrenden
- 3.3.2.5 Profilierung: Identitätsreflektierende Subjektorientierung und Reflexion von Handlungsdispositionen
- 3.3.3 Menschenrechte
- 3.3.3.1 Menschenrechtsbildung in der Schule
- 3.3.3.2 Profilierung: Menschenrechtserziehung
- 3.3.4 Empathie
- 3.3.4.1 Emotionen und Empathie im Geschichtsunterricht
- 3.3.4.2 Profilierung: Kognitive Empathie
- 3.4 Weitere im Unterrichtsmodell berücksichtigte didaktische Zugriffe
- 3.5 Konzepte aus der Praxis
- 3.5.1 “Facing History and Ourselves”
- 3.5.2 „Konfrontationen“
- 3.5.3 „Gesellschaft des Holocaust“
- 3.5.4 „Gerechte unter den Völkern“
- 4 Tatorte und Täter
- 4.1 Tatorte
- 4.1.1 Die Besetzung der Niederlande
- 4.1.2 Die Organisationsstruktur des BdS im Reichskommissariat in Den Haag
- 4.1.3 Die „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ in Amsterdam
- 4.1.4 Das Durchgangslager Westerbork
- 4.2 Täter
- 4.2.1 Dr. Wilhelm Harster
- 4.2.1.1 Kurzbiografie und individuelle Dispositionen
- 4.2.1.2 Funktion und Aufgaben als BdS in Den Haag
- 4.2.1.3 Die Verurteilungen 1949 und 1967
- 4.2.1.4 Wissen und Schuldverständnis
- 4.2.2 Wilhelm Zoepf
- 4.2.2.1 Kurzbiografie und individuelle Dispositionen
- 4.2.2.2 Funktion und Aufgaben beim BdS in Den Haag
- 4.2.2.3 Die Verurteilung 1967
- 4.2.2.4 Wissen und Schuldverständnis
- 4.2.3 Gertrud Slottke
- 4.2.3.1 Kurzbiografie und individuelle Dispositionen
- 4.2.3.2 Funktion und Aufgaben beim BdS in Den Haag
- 4.2.3.3 Die Verurteilung 1967
- 4.2.3.4 Wissen und Schuldverständnis
- 4.2.4 Ferdinand aus der Fünten
- 4.2.4.1 Kurzbiografie und individuelle Dispositionen
- 4.2.4.2 Funktion und Aufgaben bei der ZJA in Amsterdam
- 4.2.4.3 Die Verurteilungen 1949 bis 1951
- 4.2.4.4 Wissen und Schuldverständnis
- 4.2.4.5 Reaktionen in der Heimat - Unterstützung aus der Gesellschaft
- 4.2.5 Franz Fischer
- 4.2.5.1 Kurzbiografie und individuelle Dispositionen
- 4.2.5.2 Funktion und Aufgaben beim BdS in Den Haag
- 4.2.5.3 Die Verurteilungen 1949 bis 1951
- 4.2.5.4 Wissen und Schuldverständnis
- 4.2.5.5 Reaktionen in der Heimat - Unterstützung aus Politik, Kirche und Gesellschaft
- 4.2.6 Hans Georg Calmeyer
- 4.2.6.1 Kurzbiografie und individuelle Dispositionen
- 4.2.6.2 Funktion und Aufgaben im Reichskommissariat in Den Haag
- 4.2.6.3 Wissen, Selbstverständnis und Fremdeinschätzung
- 4.2.6.4 „Gerechter unter den Völkern“
- 4.3 Exkurs: Familiengedächtnis - Strategien der nachfolgenden Generationen
- 4.3.1 Familiengedächtnis der zweiten Generation: familiäre Loyalität und institutionalisiertes Schweigen über die Vergangenheit
- 4.3.2 Familiengedächtnis der dritten Generation: den Dialog über die Vergangenheit zulassen und sich den Tatsachen stellen
- 5 Konzeption des Unterrichtsmodells
- 5.1 Planung der Unterrichtsreihe
- 5.2 Konzeption der Materialpakete
- 5.3 Konstruktion der historischen Lernaufgaben und Methodenbeschreibung
- 6 Historisches Lernen anhand individuellen NS-Täterhandelns
- 6.1 Förderung der Entwicklung historischer Kompetenzen
- 6.1.1 Förderung der Entwicklung historischer Fragekompetenz
- 6.1.2 Förderung der Entwicklung historischer Methodenkompetenz
- 6.1.3 Förderung der Entwicklung historischer Orientierungskompetenz
- 6.1.3.1 Re-Organisation des eigenen Geschichtsbewusstseins
- 6.1.3.2 Alteritätserfahrungen
- 6.1.3.3 Identitätsreflexion
- 6.1.3.4 Handlungsdispositionen
- 6.1.4 Förderung der Entwicklung historischer Sachkompetenz
- 6.2 Identitätsreflexive Subjektorientierung bezogen auf Entscheidungs- und Handlungsspielräume
- 6.3 Menschenrechtserziehung
- 6.4 Kognitive Empathie
- 7 Feedback
- 7.1 Lehrerpraxisbericht
- 7.2 Schülerfeedback
- 8 Schlussbetrachtung
- 9 Quellen und Literatur
- 9.1 Quellen
- 9.1.1 Archivalische Quellen
- 9.1.2 Quellen in Privatbesitz
- 9.1.3 Gedruckte Quellen
- 9.2 Literatur
- GESCHICHTSDIDAKTIK DISKURSIV – PUBLIC HISTORY UND HISTORISCHES DENKEN
Täterhandeln im Nationalsozialismus
Ein Unterrichtsmodell zum historischen Lernen über die Shoah
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Zugl.: Paderborn, Univ.; Diss., 2016
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Abbildung:
Albertus Magnus vor dem Hauptgebäude der Universität zu Köln
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D 466
ISSN 2365-0222
ISBN 978-3-631-74768-1 (Print)
E-ISBN 978-3-631-74765-0 (E-PDF)
E-ISBN 978-3-631-74766-7 (EPUB)
E-ISBN 978-3-631-74767-4 (MOBI)
DOI 10.3726/b13403
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Diese Publikation wurde begutachtet.
Die Autorin
Eva Lettermann studierte Germanistik und Geschichte an der Universität Paderborn. Ihre langjährigen Unterrichtserfahrungen fließen in ihre Tätigkeit als Fachleiterin für Geschichte in die Lehrerausbildung ein. In Forschung und Unterrichtspraxis liegt ihr Schwerpunkt auf der Holocaust-Erziehung.
Eva Lettermann
Täterhandeln im Nationalsozialismus
Die Autorin setzt sich sowohl fachwissenschaftlich, fachdidaktisch als auch familienbiografisch mit individuellem Täterhandeln im Nationalsozialismus auseinander. Die Motivation hierzu war die kritische Aufarbeitung der Biografie ihres Großonkels, eines NS-Verbrechers in den besetzten Niederlanden. Aufbauend auf den theoretischen Erkenntnissen konzipiert die Autorin ein Unterrichtsmodell zum historischen Lernen über die Shoah für den Geschichtsunterricht in der Sekundarstufe II. Sie reflektiert ihre Unterrichtserfahrungen. Die Studie vereinigt somit als Hybrid historisch-empirische Täterforschung, didaktisch-normative Überlegungen zur Konstruktion eines Unterrichtsmodells und subjektorientiert-reflexive Perspektiven.
Zitierfähigkeit des eBooks
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Vorwort
„Es ist dumm, wie wenig man die Geschichte seines Landes kennt. Ich frage mich, wie viele in der Welt dazu fähig sind, die Geschichte ihres Dorfes, ihres Viertels, ihres Hauses von A bis Z zu erzählen, ohne sich in irgendwelchen schönen, rettenden Illusionen zu verlieren. Und sicher kennen sehr wenige die Geschichte ihrer Familie. Ich kannte sie nicht, unsere eigene, übermenschliche und verrückte Geschichte.“1
Boualem Sansal
Dieses Zitat aus Boualem Sansals Roman „Das Dorf der Deutschen“ passt sowohl zu meinem persönlichen Bezug, meiner Motivation, die Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte zu einem Forschungsvorhaben auszuweiten, als auch zur Konzeption des Unterrichtsmodells.
Nachdem das niederländische Parlament am 27. Januar 1989 der Freilassung Franz Fischers aus humanitären Gründen wegen des hohen Alters nach fast 44 Jahren Haft zugestimmt hatte, begnadigte Königin Beatrix ihn. Noch am selben Tag wurde er in die Bundesrepublik abgeschoben. Mit einem Krankenwagen wurde er bis zur deutsch-niederländischen Grenze und von dort zu seiner Familie in die sauerländische Heimat gebracht. Am Ende eines aufregenden Tages begrüßte er seine Ehefrau nach über 43 Jahren Trennung mit den Worten: „Elly, hier bin ich.“ Der mittlerweile 87-Jährige fiel seiner Ehefrau in die Arme. Die Wiedersehensfreude in meinem Elternhaus war unbeschreiblich.
Wer war mein Großonkel Franz Fischer?
Die Fotografie zeigt Franz Fischer bzw. „Onkel Franz“, wie er von allen in unserer Familie genannt wurde, im Sommer 1980 im Kuppelgefängnis in Breda in den Niederlanden. Ein aufgeschlossener, interessierter, lächelnder, sympathischer und humorvoller Mensch - so habe ich meinen Großonkel in Erinnerung.
Franz Fischer war als Mitarbeiter im „Judenreferat“ des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD (BdS) in den Niederlanden verantwortlich für den Bereich „Transport“ und wurde 1949 schuldig gesprochen, die Deportation von 13.000 Juden aus Den Haag und Umgebung ins Durchgangslager Westerbork veranlasst und den Auftrag zum Abtransport einzelner Juden nach Polen gegeben zu haben. Außerdem wurde ihm angelastet, neben Juden auch Nichtjuden misshandelt zu haben, die verdächtigt wurden, Juden beim Untertauchen geholfen zu haben.
Wie leben Nachkommen von NS-Verbrechern mit dem Erbe ihrer Vorfahren? Der Antwort auf diese Frage komme ich, Großnichte von Franz Fischer, erst jetzt, 28 Jahre nach seiner Freilassung und seinem kurz darauf folgenden Tod im Jahr 1989, näher.
Während meiner Kindheit war Franz Fischer für mich zunächst ein „Kriegsgefangener“, der - seltsamerweise - viel länger als alle anderen Kriegsgefangenen in einem niederländischen Gefängnis inhaftiert war. Die Erinnerungen sind geprägt von kurzen Kaffeebesuchen im Kuppelgefängnis Breda auf dem Weg in den Familienurlaub an der niederländischen Nordseeküste. Während dieser Besuche wurde über die neuesten Entwicklungen in Bigge, seinem und meinem Heimatort, geredet, niemals aber über seine Vergangenheit. Eine kritische Auseinandersetzung innerhalb der Familie fand nicht statt, das Schweigen dominierte. Mit dem zunehmenden Wissen über seine Aufgaben während der deutschen Besatzung der Niederlande erfolgte bei mir als Jugendliche die Einsicht, dass er als „kleines Rädchen im Getriebe“ und vom Schreibtisch aus zum Funktionieren des NS-Systems beigetragen hatte. Die familiäre Loyalität brachte es jedoch mit sich, dass sein Handeln und seine individuelle Verantwortung nach dem Motto „Onkel Franz doch nicht!“ teilweise geleugnet wurden. Darüber hinaus wurden seine Taten im Familiennarrativ vor dem Hintergrund der Zeit gerechtfertigt und auch entschuldigt.
Als Angehörige der dritten Generation stellte ich zur Lebenszeit meines Onkel Franz keine Fragen, da mir die innerhalb der Familie tradierte Version der Geschichte seines Handelns plausibel erschien. Als Erwachsene änderte sich dies jedoch. Die Leugnung, das Nichtwissen und die Naivität gegenüber der eigenen Familiengeschichte konnte und wollte ich nicht länger hinnehmen.
Als geschichtlich Interessierte beschäftigte ich mich in Schule und Studium jahrelang mit der NS-Zeit, insbesondere der Shoah, habe Opfer- und Tätergeschichten gelesen, aber die eigene Familiengeschichte außen vor gelassen. ← 6 | 7 →Während einer Lehrerfortbildung in Israel im Jahr 2003 begegnete ich Alice Lehmann, einer holländischen Holocaust-Überlebenden, die vor Lebensenergie nur so sprühte. Erstmals wurde es für mich greifbar: Wenn es nicht mutige Menschen gegeben hätte, die Alice während des Zweiten Weltkrieges versteckt hätten, hätte auch sie auf einer Deportationsliste gestanden, was mit großer Wahrscheinlichkeit den Tod in einem der Vernichtungslager im Osten bedeutet hätte. Mir wurde schlagartig die ganze Tragweite bewusst, war doch „Onkel Franz“ verantwortlich für die Zusammenstellung dieser Transporte von Den Haag aus gewesen.
Seit 2006 habe ich an dem nordrhein-westfälischen Gymnasium, an dem ich Deutsch und Geschichte unterrichte, eine deutsch-israelische Schulpartnerschaft aufgebaut. Während des ersten Besuchs der israelischen Schüler2 und Lehrer in Deutschland fragte mich eine israelische Kollegin, was denn mein Großvater im Zweiten Weltkrieg gemacht habe. Ich zuckte zusammen, hatte plötzlich einen Kloß im Hals: Sollte ich tatsächlich jetzt, auf dem Weg von der Villa Wannsee, wo die Organisation der „Endlösung“ besprochen wurde, zum „Mahnmal Gleis 17“ am Bahnhof Grunewald, von wo aus die Berliner Juden in die Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert wurden, von „Onkel Franz“ erzählen? Ich fasste allen Mut zusammen und berichtete von meinem Großonkel, dem NS-Verbrecher. Die Reaktion der israelischen Kollegin war erstaunlich: gerührt und zugewandt hörte sie zu und tröstete mich.
Im Jahr 2009 übergab mir mein Vater nach einer Diskussion über unser Familienerbe die in seinem Besitz befindlichen Akten. Diese bilden den familienbiografischen Stachel in meinem historischen Interesse. Hat mir mein Vater damit unbewusst den Auftrag erteilt, die Geschichte seines Onkels zu erforschen? Er selbst wollte wissen und zugleich doch nicht wissen. Die Diskrepanz zwischen den in der Familie kursierenden Erzählungen und dem, was das Internet und die sich nun in meinem Besitz befindlichen Akten belegten, wurde immer größer und schließlich unüberbrückbar. Die Fakten ließen sich nicht mehr verschweigen, das führte auch zu innerfamiliären Auseinandersetzungen.
Während eines Volontariats an der Internationalen Schule für Holocaust-Studien (ISHS) in Yad Vashem im Jahr 2011 ermutigte mich ein niederländischer Kollege, dem ich meine Familiengeschichte erzählt hatte, zur Spurensuche vor Ort und nannte mir niederländische Institutionen und Kontaktpersonen. Nachdem ← 7 | 8 →ich die Akten in jenem Sommer in eine chronologische Reihenfolge gebracht und mich erneut in die Lektüre der Dokumente vertieft hatte, wuchs der Wunsch, weitere Dokumente ausfindig zu machen, mit der Erkenntnis, dass mich trotz der teilweise schmerzhaften Annäherung an die Familiengeschichte diese nun nicht mehr loslassen würde. Ich wollte den Tatsachen und Hintergründen ein Stück näher kommen.
Im August 2011 reiste ich für eine Woche zur historischen Spurensuche und Archivrecherche in die Niederlande. Mein erstes Ziel war Westerbork, das ehemalige Durchgangslager im Norden der Niederlande. Von dort aus wurden 102.000 holländische Juden in die Vernichtungslager im Osten und damit in den Tod geschickt. Ein Tisch als Ausstellungsgegenstand weist auf die „Schreibtischtäter“ im Referat IV B 4 hin:
„Die Deportationen aus Westerbork wurden hauptsächlich von Deutschland aus koordiniert. Datum, Bestimmungsort und Umfang der jeweiligen Transporte wurden von der Adolf Eichmann unterstehenden Abteilung IV B 4 des Reichssicherheitshauptamtes in Berlin festgelegt. Diese Daten wurden an die niederländische Zweigstelle in Den Haag geschickt, von wo aus schließlich ein Telex an den Lagerkommandanten Gemmeker ging.“3
In Den Haag war Franz Fischer für den Bereich „Transport“ zuständig.
In Amsterdam sah ich mir Orte jüdischen Lebens und Leidens an. Die Hollandsche Schouwburg, die im 19. und 20. Jahrhundert als Theater genutzt wurde, funktionierten die deutschen Besatzer ab 1942 zum zentralen Sammel- und Deportationsplatz für Juden um. Im Niederländischen Institut für Kriegs-, Holocaust- und Genozidstudien (NIOD) traf ich Hinke Piersma, die ein Buch über die „Drei von Breda“ geschrieben hat. Ich erzählte ihr „meine“ Geschichte, d.h. das, was ich noch an Erinnerungen an meinen Großonkel habe. Im National Archiv (NA) in Den Haag sichtete ich Kartons mit Ermittlungs- und Prozessakten zu Franz Fischer. Dessen insbesondere auf den niederländischen Internetseiten immer wieder erwähnte sadistische Ader fand sich in zahlreichen der insgesamt 132 Zeugenaussagen vom August 1946 wieder.
Auch wenn Fischer in den Akten, die ich besitze, Auschwitz nicht erwähnte und auf Mauthausen verwies, von wo aus seines Wissens die Juden nach Palästina emigrieren sollten, kam der Name Auschwitz durchaus in Zeugenaussagen und offiziellen Dokumenten an den BdS in Den Haag vor. In einem Fernschreiben Franz Fischers an das „Judenlager Westerbork“ vom 13. Oktober 1943 ← 8 | 9 →heißt es: „Es wird gebeten, ihn [den Juden Adolf Velt, E. L.] mit dem nächsten Transport dem Arbeitseinsatz im Osten zuzuführen.“4 - Was wusste Franz Fischer tatsächlich? Die Formulierung „Arbeitseinsatz im Osten“ wurde doch als Beschönigung bzw. Tarnung für die Vernichtung des europäischen Judentums verwendet. Neben den konkreten Antworten, die mir die Archivalien auf meine Fragen gaben, kehrte ich mit dem Gefühl zurück, dass es gleichzeitig auch immer mehr offene Fragen gab.
Das unausgesprochene Tabu zu brechen und sich mit der NS-Vergangenheit der eigenen Familie in dieser Form zu beschäftigen, sah ich als Herausforderung. Die Befürchtung, alte Wunden aufzubrechen und neue hinzuzufügen, bestand, jedoch wollte ich ein Familiengedächtnis bewahren, das frei von Verdrängen, Verleugnen und Verschweigen ist. Als dritte Generation ist es meines Erachtens möglich, innerhalb der Familie und der nachfolgenden Generation aufrichtig Rede und Antwort zu stehen und detaillierte Informationen über das Ausmaß an Schuld und Verantwortung aufseiten der Vorfahren zu erlangen. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte hat mich in den letzten Jahren in meiner Persönlichkeit gefestigt. Identitätsrelevante Fragen kann ich klarer und differenzierter beantworten.
Darüber hinaus habe ich in meinem Beruf als Lehrerin in den letzten Jahren die Erfahrung gemacht, dass mein Reden über die NS-Täterbiografie in meiner Familie Schüler zum Reden bringt. Sie erzählen zu Hause die Tätergeschichte in der Familie ihrer Lehrerin und diese wirkt wie ein Türöffner, die Elterngeneration beginnt ebenfalls zu erzählen. So wird über den persönlichen Zugang ein im Geschichtsunterricht bislang vernachlässigtes Thema enttabuisiert und greifbar.
Die Darstellung meines persönlichen Bezugs und meiner Motivation expliziert, wie bedeutsam die Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte und der bewusste Umgang damit für die Bildung und Festigung der eigenen Identität sind. Gemäß Sansals Auffassung schätze ich die Bedeutung der Kenntnis der eigenen Geschichte und darüber hinaus die Fähigkeit, sie erzählen und somit teilen zu können, für das eigene Ich außerordentlich hoch ein. Der Selbstreflexion folgt notwendigerweise die Selbstpositionierung in der Gegenwart. Aufgrund der persönlich verspürten Bereicherung durch die aufgearbeitete Familiengeschichte und der Überzeugung, dass die eigene Geschichte für jeden Menschen identitätsrelevant ist, wurde ein Unterrichtsmodell für Schüler der Sekundarstufe II entwickelt. Wozu ist die Auseinandersetzung mit NS-Täterhandeln gut? Das ← 9 | 10 →erkenntnisleitende Interesse besteht u.a. darin, die Schüler durch die historische Analyse individueller Täterschaft im Nationalsozialismus zur Identitätsreflexion und Selbstpositionierung anzustoßen. Sie lernen nicht nur, sich zum Täterhandeln in der Shoah, sondern auch zu ihrer eigenen Geschichte zu positionieren. Somit kann historisches Lernen über die Shoah durch die Auseinandersetzung mit individuellem NS-Täterhandeln einen Beitrag zur Bildung im Sinne der ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung leisten.
Diese Studie ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Oktober 2016 unter dem Titel „Wozu ist die Auseinandersetzung mit individuellem Täterhandeln gut? Ein kompetenz- und subjektorientiertes Unterrichtsmodell zum historischen Lernen über die Shoah“ vom Historischen Institut der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn angenommen wurde. Viele Menschen haben mich in den letzten Jahren bei meinem Projekt begleitet und unterstützt. Mein herzlicher Dank gilt meinen beiden Betreuern Prof. Dr. Johannes Meyer-Hamme und Prof. Dr. Peter E. Fäßler für die stets anregende und kritisch-konstruktive Unterstützung in zahlreichen Gesprächen. Sie waren bereit und offen, sich auf den Hybridcharakter dieser Arbeit mit ihrem fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Anteil einzulassen.
Daniel Rozenga sowie Prof. Dr. Christian Kuchler verdanke ich die Initialzündung, aus einer Familiengeschichte ein Forschungsvorhaben zu machen. Sie haben den Stein ins Rollen gebracht.
Meinem verstorbenen Vater Heinz Lettermann danke ich für sein Vertrauen, den Nachlass Franz Fischers in meine Hände zu geben. Trotz seiner Bedenken wusste er, dass mit diesem Erbe behutsam und professionell umgegangen wird.
Die umfangreichen und zeitintensiven Recherchen in diversen Archiven wären ohne die vielfältige Unterstützung der Archivmitarbeiter nicht möglich gewesen. An dieser Stelle gilt mein besonderer Dank Hinke Piersma. Nachdem ich meine verwandtschaftliche Beziehung zu Franz Fischer bei meiner Ankunft im NIOD offengelegt hatte, wurde sie direkt angerufen und eilte herbei, um mich zu treffen.
Ohne das Engagement der Schüler, mit denen ich das Unterrichtsmodell erprobte, hätte ich dies nicht weiterentwickeln können. Mit ihrer Freude am Entdecken, Forschen und Lernen sowie Eintauchen in die Dokumente bestätigten sie die Realisierbarkeit des Unterrichtsmodells und beflügelten mich.
Dr. Kerstin Meiring und Petra Lettermann danke ich für ihre Energie, gewinnbringenden Rückmeldungen und ihren genauen Blick beim Korrekturlesen, Anja Vothknecht und Irene Schwarz für ihre Übersetzungsarbeiten.
Prof. Dr. Holger Thünemann hat dankenswerter Weise die Studie in die Reihe „Geschichtsdidaktik diskursiv - Public History und Historisches Denken“ ← 10 | 11 →aufgenommen. Dr. Hermann Ühlein vom Peter Lang Verlag danke ich für die konstruktive Zusammenarbeit.
Mein größter Dank gilt meinem Mann Norbert Köckler, der mich in zahllosen Gesprächen mit Sachverstand, Engagement, Geduld und Weitsicht motiviert und begleitet hat.
Paderborn, im November 2017
Eva Lettermann
1 Boualem Sansal (2009): Das Dorf des Deutschen oder das Tagebuch der Brüder Schiller. Gifkendorf, S. 31 f.
2 Im Folgenden sind die weiblichen den männlichen Formen prinzipiell gleichgestellt. Aus Gründen der Vereinfachung und besseren Lesbarkeit wird auf die weibliche Form verzichtet.
3 Deutsche Übersetzung des Informationstextes im Herinneringscentrum Kamp Westerbork.
4 Fernschreiben Fischers an das „Judenlager Westerbork“ betr. Adolf Velt vom 13.10.1943. In: NA, 2.09.09, CABR, inv. nr. 287 I.← 11 | 12 →← 12 | 13 →
Inhaltsverzeichnis
1.1 Thema, Fragestellungen und Ziel der Arbeit
2 Fachwissenschaftliche Grundlagen zur Täterforschung
2.1 Zur Geschichte der Täterforschung
2.2 Konzepte zu Tätertypen, -dispositionen und -motiven
2.3 Strategien zur Legitimation von Täterschaft
2.4 Zur Rolle der Frauen als Täterinnen
3 Fachdidaktische Grundlagen zur Auseinandersetzung mit individuellem Täterhandeln
3.1 Zur historischen Entwicklung der Erinnerungskultur
3.1.1 Adornos „Wendung aufs Subjekt“
3.1.2 Jan Assmanns kulturwissenschaftliche Theorie des Erinnerns
3.1.3 Die Walser-Bubis-Debatte
3.1.4 Zukünftige Erinnerungskultur
3.1.5 Konsequenzen für die Konzeption des Unterrichtsmodells
3.2 Empirische Studien zur Haltung von Jugendlichen zur Shoah
3.2.1 Die Studie Radtkes et al. (2002)
3.2.2 Die Studie Georgis (2003)
3.2.3 Die Studie Zülsdorf-Kerstings (2007)
3.2.4 Die Studie Stubigs (2015)
3.2.5 Konsequenzen aus den Forschungsergebnissen für die Konzeption des Unterrichtsmodells← 13 | 14 →
3.3.1 Kompetenzen historischen Denkens
3.3.1.2.1 Das Kompetenzmodell Hans-Jürgen Pandels
3.3.1.2.2 Das Kompetenzmodell Michael Sauers und des VGD
3.3.1.2.3 Das Kompetenz-Strukturmodell der FUER-Gruppe
3.3.1.2.4 Das Kompetenzmodell Peter Gautschis
3.3.1.2.5 Das Kompetenzmodell der EPA und der Kernlehrplan Geschichte in Nordrhein-Westfalen
3.3.1.3 Kompetenzbeiträge des Unterrichtsmodells
3.3.1.4 Profilierung: Förderung der Entwicklung historischer Orientierungskompetenz
3.3.2 Subjektorientiertes historisches Lernen
3.3.2.2 Subjektorientierung in Bezug auf die Sache
3.3.2.3 Subjektorientierung in Bezug auf die Lernenden
3.3.2.4 Subjektorientierung in Bezug auf die Lehrenden
3.3.3.1 Menschenrechtsbildung in der Schule
3.3.3.2 Profilierung: Menschenrechtserziehung
3.3.4.1 Emotionen und Empathie im Geschichtsunterricht
3.3.4.2 Profilierung: Kognitive Empathie
3.4 Weitere im Unterrichtsmodell berücksichtigte didaktische Zugriffe← 14 | 15 →
3.5.1 “Facing History and Ourselves”
3.5.3 „Gesellschaft des Holocaust“
3.5.4 „Gerechte unter den Völkern“
4.1.1 Die Besetzung der Niederlande
4.1.2 Die Organisationsstruktur des BdS im Reichskommissariat in Den Haag
4.1.3 Die „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ in Amsterdam
4.1.4 Das Durchgangslager Westerbork
4.2.1.1 Kurzbiografie und individuelle Dispositionen
4.2.1.2 Funktion und Aufgaben als BdS in Den Haag
4.2.1.3 Die Verurteilungen 1949 und 1967
4.2.1.4 Wissen und Schuldverständnis
4.2.2.1 Kurzbiografie und individuelle Dispositionen
4.2.2.2 Funktion und Aufgaben beim BdS in Den Haag
4.2.2.4 Wissen und Schuldverständnis
4.2.3.1 Kurzbiografie und individuelle Dispositionen
4.2.3.2 Funktion und Aufgaben beim BdS in Den Haag
4.2.3.4 Wissen und Schuldverständnis
4.2.4 Ferdinand aus der Fünten
4.2.4.1 Kurzbiografie und individuelle Dispositionen
4.2.4.2 Funktion und Aufgaben bei der ZJA in Amsterdam← 15 | 16 →
4.2.4.3 Die Verurteilungen 1949 bis 1951
4.2.4.4 Wissen und Schuldverständnis
4.2.4.5 Reaktionen in der Heimat - Unterstützung aus der Gesellschaft
Details
- Pages
- 502
- Publication Year
- 2018
- ISBN (PDF)
- 9783631747650
- ISBN (ePUB)
- 9783631747667
- ISBN (MOBI)
- 9783631747674
- ISBN (Hardcover)
- 9783631747681
- DOI
- 10.3726/b13403
- Language
- German
- Publication date
- 2018 (May)
- Keywords
- Täterforschung Niederlande Holocaust Kompetenzorientierung Familienbiografie Erinnerungskultur
- Published
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018. 501 S., 1 farb. Abb., 8 s/w Abb.