Russische Postromantik
Baron Brambeus und die Spaltungen romantischer Autorschaft
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autoren-/Herausgeberangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Vorwort
- I. Russische ‚Postromantik‘ als literaturhistorisches Problem
- 1. ‚Bilder vom Ende‘: Russische Postromantik und die Literaturgeschichtsschreibung
- 1.1. Die Mühen der Literaturgeschichtsschreibung: Romantik, Realismus und das Dazwischen
- 1.2. „promežutok“: Die Formalisten und die Wendezeit
- 1.3. Fremd-Bestimmungen: „Ende der Kunstperiode“, „Biedermeier“, Spätperioden und der Abbau der Rhetorik
- 2. ‚Postromantik‘ in der Selbstbeschreibung
- 2.1. Selbst-Bestimmungen: Wendezeitdiagnosen in der Literaturkritik
- 2.2. Belinskijs Programmatik des „nackten Lebens“ und die Verwirrung der romantischen Kategorien
- 3. (Post-)Romantik – eine „Epoche“?
- 3.1. ‚Postromantik‘ und das Problem von „Epoche“ und „Evolution“ im Spiegel der Literaturtheorie
- 3.2. Ansätze alternativer Epochen- und Evolutionsmodelle in der Slavistik
- 3.3. Elemente einer russischen ‚Postromantik‘
- 3.4. Warum ‚Post-Romantik‘?
- 4. Überleitung: Postromantik, Generation und Biographie
- II. Pluralisierte Biographie eines Postromantikers: Senkovskij / Brambeus und seine Masken
- 1. „Mephisto“ als (böser) Geist der Nach-Zeit
- 2. Biographie und sich spaltendes self-fashioning
- 3. Zwischen aufklärerischen und romantischen Modellen: Senkovskijs Jugend
- 3.1. Wissenschaft und Satire: Wilna
- 3.2. Reise durch den ‚Orient‘
- 3.3. Die 20er Jahre: Senkovskij als Orientalist
- 3.4. Orientalische Übertragungen in romantischem Geist, „1825“ und die Suche nach einer Prosasprache
- 3.5. Erste Spaltungen
- 4. Nach der Romantik
- 4.1. Die Ablösung vom polnischen Hintergrund
- 4.2. Der Eintritt in die Publizistik und die Ökonomisierung des Literatur- und Aufklärungsmodells
- 4.3. Ich, Pseudonym, Mystifikation: Senkovskij / Brambeus und die Spaltung des romantischen Diskurses
- 5. Die kurze Blüte der fröhlichen Postromantik
- 5.1. Aufklärung zwischen Offizialität und Karneval: Die Biblioteka dlja čtenija und die Revolutionierung des literarischen Feldes
- 5.2. Die Schwelle nach den ‚Dreißigern‘: Redigieren, Umschreiben, Vergessen
- 5.3. Die Ordnung des Diskurses: Senkovskij als negativer Held der Literaturgeschichte
- III. Metafiktionalität und Devaluierung: Brambeus als literarischer Autor
- 1. Brambeus als literarischer Metafiktionalist: Die literarischen Feuilletons
- 2. Die phantastischen Reisen des Baron Brambeus (1833)
- 3. Framing, Metafiktion und Autobiographie: Ljubov’ i smert’
- IV. Brambeus und die Unterwanderung des Schönen
- 1. Senkovskij als Theoretiker des literarischen degré zéro
- 2. Die ideologische (Post-)Romantik im Kampf gegen Senkovskij: Literatur, Aufklärung und Kommerz
- 2.1. Literatur, Macht und Geld: Die Senkovskij-Kritik von S. P. Ševyrev
- 2.2. Gogol’s Polemik und Puškins scheiternder Vermittlungsversuch
- 3. Postromantik und / als literarische Ökonomie. Puškin und die Kommerzialisierung zwischen Realität und Selbstmythos
- 4. Die Senkovskij-Kritik des jungen Belinskij: Rhetorik der Tiefe und die Utopie des aufgeklärten Marktes
- 4.1. Belinskij, Senkovskij und ihre ‚metafiktionalistische‘ Gegenwartsanalyse
- 5. Äquivalenz im Gegensatz: Die Otečestvennye zapiski als erste Konkurrenz
- Nachwort und Ausblick
- Literaturverzeichnis
- Index
- Reihenübersicht
Die Literaturgeschichte ist die große Morgue, wo jeder
seine Toten aufsucht, die er liebt und womit er verwandt ist.
(Heinrich Heine, Die romantische Schule, 1835)1
Den ersten Anstoß zur dieser Arbeit gab eine befremdliche Leseerfahrung, als ich Texte von O. I. Senkovskij – eigentlich Józef-Julian Sękowski – zu lesen begann, von dem 1989, nach 130 beinahe publikationslosen Jahren, eine Anthologie erschienen war. Diese burlesk-humoristischen Texte waren, gemessen an meinen literaturhistorischen Erwartungen, auffallend ‚unzeitgemäß‘, ja mehr noch, sie sprengten die mir für die Zeit ihrer Entstehung bekannten literaturhistorischen Kategorien. Mit Abstrichen, zu denen eine gewisse Langfädigkeit gehört, waren sie zudem in ihrer heutigen Lesbarkeit von einer bestechenden Aktualität. In ihrem Spiel mit absurden Formen von Sinnverweigerung und Sinnüberschuss zeigten diese Texte eine intellektuelle Raffinesse, die die literarische weit hinter sich ließ, ja auf diese nicht immer Rücksicht zu nehmen schien. Wie absichtlich wurden hier die Grenzen des Literarischen überschritten. Die Texte vermischen Fiktionales, Literaturkritisches, Philosophisches, Wissenschaftliches und Zeitpolemisches, und sie sind in ihrem metafiktionalen wie (auto-)dekonstruktiven Gestus von einer Radikalität, die auch in der sogenannten Postmoderne, die sich über solche Verfahren definierte, selten überboten wurde – umso mehr gehen sie über die oft genannten ‚Großväter‘ postmoderner Prosapoetiken wie Sterne oder Jean Paul hinaus. Vor dem Hintergrund dieser Gesten der Überschreitung und der ständigen Bewegung am Rande der literarischen Selbstzerstörung erstaunte, wie sehr diese Texte gerade mit Literarischem befasst waren.
Senkovskij war mir als Person nur als reaktionärer und eigenmächtiger Redakteur einer einflussreichen Zeitschrift bekannt, und so erwartete ich, es mit einer marginalen Figur nicht nur der Kanonbildung, sondern auch des zeitgenössischen literarischen Lebens zu tun zu haben. Bei der Lektüre von Veniamin Kaverins Monographie über ‚Baron Brambeus‘ zeigte sich jedoch, dass Senkovskij nach dem Erscheinen seiner Phantastischen Reisen, spätestens aber nach der Gründung seiner Biblioteka dlja čtenija, die im Januar 1834 erstmals erschien, ein Zentrum des zeitgenössischen Diskurses bildete – und dies auch in den Augen seiner zahlreichen Gegner. Zunehmend wurde auch deutlich, dass ← 9 | 10 → diese Wirkung keineswegs nur auf seiner Machtposition, sondern ebenso auf seinen literarischen Texten sowie auf seinen literaturkritischen und -theoretischen Positionen beruhte. Das Bild Senkovskijs, das einem aus der Sekundärliteratur und aus literaturhistorischen Überblicken entgegenschlug, war weder mit der Lektüre seiner Texte, noch mit seiner Bedeutung im zeitgenössischen Diskurs in Übereinstimmung zu bringen. Auch die beiden Monographien über ihn, die das einseitige Bild zu korrigieren versuchen, konnten hier nicht wirklich vermitteln. Kaverin beschreibt auf höchst spannende Weise die publizistischen Auseinandersetzungen der Zeit und korrigiert das Senkovskij-Bild, seltsamerweise ohne dessen literarisches Schreiben und den literarischen Kontext zu berücksichtigen, während Louis Pedrotti ausführlich Senkovskijs polnischen Hintergrund beschreibt, damit aber umso rätselhafter werden lässt, wie Senkovskij denn in Petersburg diese Bedeutung erhalten konnte – in einer kurzen historischen Phase, die literarisch ein überaus reiches Erbe hinterlassen hat.
Dass dieser hochintelligente und gebildete Pole mit einem derartigen literarischen und publizistischen Talent in literaturgeschichtlichen Darstellungen fast ausschließlich als ‚Bösewicht‘, sozusagen als literarischer Schädling, Platz fand, ist erstaunlich. Fast erstaunlicher ist aber, dass er letztlich kein Werk von größerer Substanz hinterließ. Das Rätsel wird nicht kleiner, wenn man weiß, dass dies Senkovskij selbst bereits bewusst war und seine eigentliche Lebenstragik bildete. Und es ist auch nicht nur eines einer isolierten Biographie, findet es doch eine auffallende Entsprechung bei anderen Zeitgenossen, nicht zuletzt bei Gogol’, der 1838 behauptete, die Zukunft werde sich für die vergangenen fünf Jahre schämen: Er schloss damit auch fast alles ein, was er selbst bisher geschrieben hatte und somit das, was weitgehend sein ‚Werk‘ ausmacht.
Ausgehend von diesen Inkompatibilitäten in meinen Lektüreerfahrungen, der literarischen wie der literaturhistorischen, aber auch von den widersprüchlichen Selbstbeschreibungen der Zeit und deren Konzeptualisierungen in der Forschungsliteratur erhielt diese Arbeit eine zweifache Ausrichtung. Sie zielt erstens, historisch und theoretisch, auf eine konzeptuelle Revision unseres literaturgeschichtlichen Rüstzeugs in Bezug auf die Zeit nach 1830, zweitens auf eine Relektüre dessen, was den ‚Charakter‘ dieser literarischen Phase ausmachen könnte. Denn diese mochte auffallend heterogen sein, doch verstand sie sich selbst durchaus als geschlossene Zeit, die sich von den 1820er Jahren kategorial abgrenzte.
Diese Absicht implizierte, der immer noch dominierenden Meinung entgegenzuwirken, die ‚Romantik‘ hätte nur darauf gewartet, endlich auf gerader Linie zum ‚Realismus‘ werden zu können. Eher muss die Loslösung von der Romantik ← 10 | 11 → aber, etwas psychologisierend ausgedrückt, als Leidensprozess gesehen werden, der sich lange Zeit mehr unter dem Zwang der Geschichte als unter neuen Programmen abspielte, die, wie wir sehen werden, in dieser Zeit auch kaum existierten. Der frühere romantische Fortschrittsoptimismus ging den Zeitgenossen der dreißiger Jahre ab, worüber ein dafür stellenweise einsetzender utopistischer Gestus hinwegtäuschen könnte. Konsens bildete vielmehr ein in verschiedenen Variationen artikuliertes Gefühl einer ‚Nachzeitigkeit‘. Die gängigen Modellierungen der 1830er Jahre tragen dem aber kaum Rechnung.
Alle Unternehmungen dieser Art lösen sich, wie die sogenannten Chaostheoretiker sagen würden, von ihren Anfangsbedingungen ab. Konstant blieb jedoch der Wunsch, ein ‚Epochenbild‘ zwar nahe an möglichst vielfachen und auch engräumigen Beobachtungen, aber dennoch nicht über die reine Kumulation von Beobachtungen zu rekonstruieren, nicht einen ‚Zeitgeist‘ im herkömmlichen Sinn zu postulieren, aber doch einen ‚Diskurs‘, eine ‚Signatur‘ der Zeit, eine innere Logik, die aufgrund der Heterogenität der Zeit schwer positiv fassbar wird. Es wären weit mehr Paradigmen denkbar, an denen man dies durchführen könnte. Hier sind dies – nach einer Grundlegung forschungsgeschichtlicher und theoretischer Art – die Aspekte von Biographie, Literaturbetrieb, Ideologie, Schreibweisen, Motiviken und anderem. Der vorliegende Band ist der erste, biographisch gebundene Teil dieses Unterfangens. Der zweite widmet sich ganz den Textanalysen verschiedener Autoren und der Thematik von Kunst und Künstler.
Diese Arbeit sieht das verbindende Element dieser Zeit in ihrer – gleichsam unfreiwilligen – Selbstabspaltung von der ‚Romantik‘. Insofern handelt es sich auch um eine Studie über einen aufschlussreichen Moment des Gedächtnisses der russischen Literatur: Zu den zentralen Gesten der Zeit gehört das Zitieren und Variieren des ‚Romantischen‘, das man als Fremdes einführt, obwohl man sich davon noch nicht gelöst hat. Es entsteht so das Bild einer Krise, einer literarischen Phase, die – aus späterer Perspektive betrachtet – literarisch äußerst produktiv war, doch dem Zeitgenossen den Eindruck vermittelte, es werde nichts Neues von Wert produziert. Dass dies auf verschiedensten Ebenen Gesten von Doppelung, Spaltung und Rahmung, von Selbstwiderspruch und Paradox, aber auch von Selbstzitation, Über- und Umschreibung, von ‚negativer‘ Poetik hervorbringt, wird sich als eine der verbindenden Linien erweisen. Diese postromantische Konstellation verbindet die russische Literatur in vielem mit den übrigen europäischen Literaturen nach 1830, mögen die konkreten Ausformungen auch recht verschieden sein. Es sei sogar die Hypothese formuliert, dass die ‚Postromantik‘ in dem noch zu erläuternden Sinn europäisch über größere ← 11 | 12 → Konsistenz verfügt als die ‚Romantik‘ – die erst jetzt, postromantisch, selbst zunehmend als kompakte Größe erscheint.
Die literaturgeschichtliche Modellierung, wie sie hier vorgängig auch theoretisch diskutiert wird, soll ihr Ziel nicht aus den Augen verlieren, die Lektüre zu erhellen. Es geht weniger darum, eine für alle Fragen gültige Formel für Charakter und Entwicklung der Phase zwischen 1830 und 1842 zu finden, geschweige denn darum, die Epochenproblematik zu überwinden. Vielmehr geht es darum, literarisch-kulturelle Phänomene in einem spezifischen Zeithorizont sichtbar zu machen, der sich explizit, implizit oder ex negativo zeigen kann. Die Arbeit erhält in diesen Fragen einen ‚archäologischen‘ Zug, der auch innerhalb der gewählten Paradigmen über ein quantitatives Argument arbeitet: Behauptet wird tatsächlich, dass wir hier – in welcher Form, das muss erst geklärt werden – mit einem Zeitdiskurs konfrontiert sind, dem eine gewisse Unhintergehbarkeit zukam, und dies über textliche Erscheinungen hinaus. Warum er als ‚Postromantik‘ benannt werden soll, wird noch diskutiert werden; letztlich bleibt dies eine pragmatische Entscheidung. Die Ziele der Arbeit erfüllen sich dann, wenn die Analogizität des Ungleichen in dessen Bezug auf eine literarisch-kulturelle, sich auch kleinräumig wandelnde Zeitsituation sichtbar wird, wenn sie in der Konstitution von Texten und Erscheinungen aufgewiesen werden kann und deren Lektüre bereichert. Dass das Erstaunen bei der Erstlektüre Senkovskijs anderen Formen des Verständnisses weicht, muss nicht als Verlust gesehen werden, umso mehr, als die historische Kontextualisierung eine aktuelle Resonanz nicht ausschließt.
Der vorliegende Band wie auch der noch folgende zur Prosa der 1830er Jahre und ihrer Künstlerthematik sind stark redigierte Fassungen der Habilitationsarbeit, die 2003 an der Universität Konstanz eingereicht wurde; diesem Stand entspricht auch weitgehend die verwendete Forschungsliteratur. Es wären viele zu verdanken, die am langen Prozess dieser Arbeit in irgendeiner Form beteiligt waren; ich tue dies hiermit, ohne die Namen zu nennen. Die Arbeit wurde ermöglicht durch die großzügige Förderung durch den Schweizerischen Nationalfonds. Erwähnen möchte ich auch die in verschiedenster Hinsicht anregende Umgebung der Universität Konstanz, in der die letzte Arbeitsphase vonstattengehen durfte, obwohl da bereits andere Themen im Vordergrund standen. Sowohl die Kollegen im damaligen Sonderforschungsbereich „Literatur und Anthropologie“ wie diejenigen in der Slavistik haben mehr beigetragen, als sie selber wissen können. Großem Dank verpflichtet bin ich auch M.A. Sebastian Wirz (Basel) für die große Hilfe bei der Endredaktion dieser Buchfassung und die Erstellung des Index.
1 Heine 1997, 23.
I. Russische ‚Postromantik‘ als literaturhistorisches Problem
Der […] Eindruck ist, dass zeitliche Sequenzen eine eigentümliche Beweiskraft haben für Sachzusammenhänge, die methodologisch noch nicht ausreichend geklärt ist. […] In der historischen Sequenz zeigt sich, und zwar gerade in der Unterschiedlichkeit der Reaktion auf das gleiche Problem, ein Sachzusammenhang […].
(N. Luhmann)1
Die Intention dieser Studie liegt darin, zu einem literaturhistorischen Verständnis der russischen 1830er Jahre zu gelangen. Dies meint weniger die Beschreibung der (vermeintlich) wichtigsten literarischen Erscheinungen, sondern folgt der Frage, wie sehr man diese äußerst disparat wirkende Zeit in ihrer inneren Kohärenz und ihrer Differenz gegenüber den vorhergehenden und nachfolgenden Phasen verstehen könnte. Das bedeutet, dass man – um mit Niklas Luhmann zu sprechen – einer „zeitlichen Sequenz“ eine eigene „Beweiskraft“ zuschreibt und die Differenzen als „Reaktion auf das gleiche Problem“ zu verstehen versucht. Es gilt also, die innere Disparatheit – die, wie wir sehen werden, auch einer Eigenwahrnehmung entspricht – nicht zu verwischen, sondern sie im Gegenteil zum Ausgangspunkt zu machen.
Aus ganz verschiedenen Gründen ist ein solches Unterfangen keineswegs unproblematisch. So muss es sich erst erweisen, wie das Verhältnis von individueller Erscheinung und Zeitdiskurs zu verstehen ist – auch Luhmann spricht hier zurückhaltend von ungeklärten Zusammenhängen. Zuerst einmal aber gibt es schon über den Gegenstand der russischen ‚Romantik‘, auf die man hier abstellen muss, aller vermeintlichen Selbstverständlichkeit zum Trotz erstaunlich wenig Konsens. Es ist nicht allzu lange her, dass der Begriff einer russischen Romantik von vielen ganz abgelehnt wurde. Die prominenteste Infragestellung erfuhr der Begriff vielleicht durch D. S. Mirskij (1926),2 die folgenschwerste durch ← 13 | 14 → die sowjetische Forschung der dreißiger bis in die sechziger Jahre; letztere gab auch später ihre Fixierung auf den Realismus nicht auf.3 Die Skepsis gegenüber der Möglichkeit, von einer russischen Romantik zu sprechen, prägt jedoch auch einige ältere westliche Literaturgeschichten.4 So galt etwa Puškin, je nach Herkunft der Einschätzungen, den einen als prototypischer Klassizist, den anderen als ‚geborener‘ Realist, und in neuen Ansätzen wird er, nun unter einem emphatischen Romantikbegriff, beinahe zum Dekonstruktivisten.5 Gemeinsam ist den restriktiv-ablehnenden, den überzeitlichen6 wie auch den ‚dekonstruktiven‘ Romantikbegriffen, dass sie kaum eine interne Historisierung zulassen: ‚Romantik‘ scheint – wohl mehr noch als der große Gegenbegriff des Realismus – zu suggerieren, es mit einem Idealtypus zu schaffen zu haben.
Die folgende Erörterung diachroner Konzeptionen der Zeit zwischen 1820 und 1845 – und von solchen Konzeptionen wird die Einschätzung der dreißiger Jahre immer abhängen –, wird zeigen, wie sehr gerade dieses Jahrzehnt unterschiedlich, ja widersprüchlich beurteilt wird. Um ihm seinen eigenen Charakter, über den sich die Zeitgenossen im Grundsatz einig waren, zurückzugeben und sich von hergebrachten Lektüremustern zu lösen, gilt es, nicht einfach ein neues Entwicklungsmodell zu behaupten, sondern eine Position zu finden, die möglichst viele andere Betrachtungen in sich zu integrieren vermag, ohne deren spezifische blinde Flecken zu übernehmen. Es wird darum gehen, die prinzipielle ← 14 | 15 → Kritik an Epochenmodellen ebenso zu nutzen wie die Uneinigkeit über diese historische Phase, um dann anhand der Selbsteinschätzungen der Zeit und des historischen ‚Materials‘ – hier zuerst des biographischen, der Veränderungen im Literaturbetrieb und seiner ökonomischen Prämissen, der dadurch entstehenden Krise des Literatur-, ja Kulturbegriffes – eine Signatur der Zeit zu entwerfen, die ihre Spuren in Biographien wie in Werken und theoretischen Auseinandersetzungen hinterließ.
Wenn man eine bestimmte Phase unter einem epochenspezifischen Aspekt betrachtet und die Verbindlichkeit eines zeitgebundenen Diskurses für seine Teilnehmer akzentuiert, sieht man sich auch mit Fragen theoretischen Charakters konfrontiert. Weniger die Russistik, wohl aber die westlichen Philologien haben sich in den letzten Jahrzehnten intensiv (und mit wachsender Skepsis) mit der Frage beschäftigt, inwiefern historische Phasenbestimmungen, sprich Epochenbildungen überhaupt zulässig und sinnvoll sind; wir werden dies v. a. anhand deutschsprachiger Arbeiten skizzieren. Die Diskussion theoretischer Bedenken gegenüber einer epochen- und evolutionsorientierten Literaturgeschichte soll aber keineswegs Selbstzweck sein, sondern auf methodischer Ebene den Blick dafür schärfen, was es bedeutet, einem Jahrzehnt einen wie auch immer bestimmten Charakter der ‚Epoche‘ zuzuschreiben, welchen Status eine solche Vorstellung (nicht) haben kann, wie sie sich zum einzelnen Phänomen – zu Autoren, Texten, Textstrukturen, Motiviken etc. – verhalten soll. So soll nach der Auseinandersetzung mit literaturhistorischen Konzeptualisierungen und der Erörterung von Selbstbildern aus der Zeit versucht werden, die mittlerweile verwirrende theoretische Situation soweit zu klären, dass sich die Anlage dieser Arbeit klarer konturieren lässt. Phasenspezifische Konzeptualisierungen sind bis zu einem gewissen Grad schlicht unumgänglich, doch kommt es sehr wohl darauf an, wie man sie konturiert. In diesem Fall wird sie hilfreich sein, wenn es gilt, mögliche Elemente der hier vorgeschlagenen Zeitspezifik zu skizzieren.
Nicht anders als in früheren Romantikbildern, davon wird noch die Rede sein, ist auch hier ein Blick aus einer bestimmten Gegenwart prägend. Der hier vorgeschlagene, an der Postmoderne gebildete Begriff der ‚Postromantik‘ deutet dies bereits an. Nachdem die Diskussion um die Postmoderne wie um die dekonstruktiven Ansätze etwas abgeklungen sind, verfügen wir über die Distanz, in postmodernen Denk- und Schreibstrukturen einen zyklischen, wenn nicht notwendigen Aspekt zu erkennen – auf Kosten ihrer historischen Einmaligkeit, doch zugunsten einer erweiterten Erkenntnis über ihr strukturell verwandte ‚Epochen‘. Man braucht diese ja deswegen nicht mit der eigenen Gegenwart zu verwechseln. ← 15 | 16 →
Zentrales Leitinteresse der folgenden Vorüberlegungen, sowohl derjenigen zu den Konzeptualisierungen der russischen Romantik wie derjenigen zur Epochenproblematik an sich, ist es, den Blick freizumachen, ihn aber auch zu konturieren. Ohne Anspruch, eine geschlossene Theorie und Methodik zu entwerfen, sollen sie helfen, die einzelnen Elemente der Untersuchung – auch des Folgeteils zu den Erzählweisen und insbesondere der Künstlerthematik – in ihrer inneren Konsistenz zu verstehen. Das Vorgehen ließe sich orientierungsweise als Verbindung eines systemorientierten kultursemiotischen Ansatzes mit einem lektüreorientierten Verfahren der thick description umreißen.
1. ‚Bilder vom Ende‘: Russische Postromantik und die Literaturgeschichtsschreibung
V zaputannom voprose o romantizme…
(Ju. Tynjanov, Archaisty i Puškin)7
1.1. Die Mühen der Literaturgeschichtsschreibung: Romantik, Realismus und das Dazwischen
Lauren G. Leighton, einer der profiliertesten slavistischen Romantikforscher, stellte schon vor über zwei Jahrzehnten fest, es sei an der Zeit, die Frage der späten russischen Romantik grundsätzlich neu zu überdenken.8 Dabei verwies er insbesondere auf die Schwierigkeit der Periodisierung, auf die eine binäre Epochenkonzeption zwischen Romantik und Realismus stößt:
The question of romanticism burned itself out in the 1830s, and the realist movement matured in the late 1840s and 1850s. It is very difficult to sort out the differences between romantic and realist phenomena because every literary development after the mid-1830s is usually labeled realist. (Leighton 1985, 375)
Leighton selbst plädiert im selben Übersichtsartikel für einen Romantikbegriff, der die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts abdeckt (373); in anderem Kontext spricht er jedoch vom Aufkommen des Realismus in den 30er Jahren (Leighton 1983, 63). Die literarischen 1830er Jahre ließen sich demnach ebenso als Lücke zwischen Romantik und Realismus verstehen wie als deren Überschneidung. Eine Abgrenzung der 1830er Jahre vom folgenden Jahrzehnt – und über diese Differenz besteht am meisten Einigkeit – wäre so oder so über das spezifische ← 16 | 17 → Mischungsverhältnis anzugehen. Um dieses aber bestimmen zu können, müsste man auf verlässliche Definitionen von ‚romantischen‘ und ‚realistischen‘ Schreibweisen zurückgreifen können. Gerade darüber gibt es jedoch, wie zu zeigen sein wird, wenig Übereinstimmung, ganz abgesehen davon, dass es sich bei einer solchen Mischung zwischen etwas Vergangenem und etwas Künftigem kaum um eine Epochenbestimmung in dem Sinne handeln könnte, wie man es etwa von ‚Romantik‘ erwartet. Ein solches Verständnis liegt notwendigerweise weit ab vom Selbstverständnis einer Zeit, die sich nicht über ihre Zukunft definieren kann.
Doch Leightons Bemerkung impliziert noch mehr. Mit „question of romanticism“ verweist er auf eine Auseinandersetzung über die Romantik, die in der Entgegensetzung zum Klassizismus der russischen Romantik ihren wichtigsten anfänglichen Impuls gegeben, in den dreißiger Jahren aber tatsächlich ihren Nährboden verloren hatte. Damit stellt sich die Frage nach dem zeitgenössischen Verständnis von ‚Romantik‘ und dessen Rolle für eine heutige Bestimmung. Zu fragen wäre zudem aber auch nach der Metaphorik in der literaturgeschichtlichen Beschreibung und deren Implikationen von Entwicklungsmodellen: „ausbrennen“ und „reifen“ erinnern an ein ‚organisches‘ Entwicklungsmodell, das Leighton selbst direkt im Anschluss (im Kontext von A. A. Grigor’ev) als romantisches versteht (1985, 375). Und letztlich: War der Realismus eine „Bewegung“ (movement), oder definiert sich gar jede Epoche notwendigerweise über eine solche? Was ist mit den Phasen, die solche ‚Bewegungen‘ nicht kennen, die sich nicht über programmatische Strömungen und Selbstpositionierungen definieren? Denn genau dies trifft auf die 1830er Jahre zu.
Details
- Seiten
- 560
- Erscheinungsjahr
- 2017
- ISBN (PDF)
- 9783631727751
- ISBN (ePUB)
- 9783631727768
- ISBN (MOBI)
- 9783631727775
- ISBN (Hardcover)
- 9783631727744
- DOI
- 10.3726/b11412
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2018 (Juli)
- Schlagworte
- Literatur Russland Romantik 1830er Jahre Literaturgeschichtliche Periodisierung Metafiktionalität
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 560 S.
- Produktsicherheit
- Peter Lang Group AG