Die zivilrechtliche Haftung von Ratingagenturen nach Art. 35a Rating-VO (EU) Nr. 462/2013
Summary
Gegenstand dieses Buches ist die Untersuchung des Art. 35a Rating-VO (EU) Nr. 462/2013 mit dem Ziel, Rechtsanwendern einen praxistauglichen Leitfaden an die Hand zu geben. Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolgen der Vorschrift werden unionsautonom ausgelegt sowie bestehende Bezüge zum Internationalen Privatrecht und Internationalen Verfahrensrechts aufgezeigt. Abschließend weist der Autor auf bestehende Schwächen der Haftungsvorschrift hin und unterbreitet konkrete Nachbesserungsvorschläge.
Excerpt
Table Of Contents
- Cover
- Titel
- Copyright
- Herausgeberangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Vorwort
- Inhaltsverzeichnis
- Abkürzungsverzeichnis
- Einleitung
- A. Einführung in die Problematik
- B. Gang der Untersuchung
- Teil 1: Bestandsaufnahme
- A. Rating
- I. Ratingarten
- 1. Emittentenrating
- 2. Emissionsrating
- II. Ratingergebnis
- III. Rechtliche Qualifikation
- 1. Werturteil oder Tatsachenbehauptung
- 2. Privates oder öffentliches Gut
- IV. Alternativen zum Rating
- B. Ratingverfahren
- I. Beauftragtes Rating
- II. Besonderheiten beim nicht beauftragten Rating
- III. Wiederholungsphase
- C. Ratingagenturen
- I. Aufgaben und Bedeutung
- 1. Ratingagentur als (Informations-)Intermediär
- 2. Senkung von Transaktionskosten
- 3. Zertifizierungsfunktion
- 4. Corporate Governance
- 5. Regulierung des Finanzmarkts – Steigerung der Kapitalmarkteffizienz
- 6. Rechtliche Bedeutung von Ratings und Ratingagenturen in Deutschland
- II. Marktstruktur
- D. Ratingagenturen in Krisenzeiten
- I. Einzelfälle
- II. Allgemeine Ursachen für fehlerhafte Ratings
- III. Ratingbasierte Regulierung
- E. Wirtschaftliche Zusammenhänge zwischen Rating und Anleihe
- I. Grundlagen
- II. Preisbildung
- III. Schäden
- 1. Emittenten
- 2. Anleger
- Teil 2: Zivilrechtliche Haftung von Ratingagenturen nach Art. 35a der Rating-VO
- A. Grundlagen
- I. Entstehungsgeschichte
- II. Rechtsgrundlage
- III. Grundstruktur
- 1. Äußerer Aufbau
- 2. Rechtsgüterschutz vs. Verhaltenspflichtverletzung
- a. Anknüpfungspunkt in der Haftungsvorschrift
- b. Faktischer, individueller Rechtsgüterschutz
- IV. Auslegungsmethode
- 1. Art. 35a Abs. 4 Satz 1 Rating-VO
- a. „Begriffe wie“
- b. „nationales Recht“
- 2. Art. 35a Abs. 4 Satz 2 Rating-VO
- 3. Verbleibende Abgrenzungsschwierigkeiten
- V. Qualifikation und Funktionen der europäischen Haftungsvorschrift
- 1. Qualifikation
- 2. Funktionen
- VI. Verhältnis zu nationalen Haftungsvorschriften
- VII. Verhältnis zur öffentlich-rechtlichen Beaufsichtigung durch die ESMA
- B. Haftungsvoraussetzungen
- I. Anspruchsverpflichteter – Ratingagentur
- 1. Satzungsmäßiger Sitz
- 2. Einzelfälle
- II. Rating
- 1. Private Ratings – Art. 2 Abs. 2 lit. a) Rating-VO
- 2. Übernommene Ratings – Art. 4 Abs. 3 Rating-VO
- 3. Verwendung von Ratings i.S.d. Art. 5 Rating-VO
- a. Voraussetzungen
- b. Einbeziehung in die Haftung des Art. 35a Rating-VO
- 4. Länderratings
- 5. Zwischenergebnis
- III. Anspruchsberechtigte – Emittent und Anleger
- 1. Emittent
- a. Allgemeine Voraussetzungen
- aa. Juristische Personen des öffentlichen Rechts sowie Privatrechts
- bb. Erweiterung des Emittentenbegriffs i.S.d. Art. 35a Rating-VO
- b. Besondere Voraussetzungen des Abs. 1 Unterabs. 3
- aa. Bewertungsobjekt: Emittent oder eines seiner Finanzinstrumente
- bb. Keine Falschinformation oder Irreführung durch den Emittenten
- (1) Irreführend oder falsch informiert
- (2) „Direkt oder aufgrund öffentlich zugänglicher Informationen“
- (3) Zuwiderhandlung oder Fehlbewertung
- 2. Anleger
- a. Allgemeine Voraussetzungen
- aa. Abgrenzung des Anlegerbegriffs durch die Rating-VO
- bb. Grundkonstellationen
- (1) Kauf
- (2) Halten
- (3) Veräußern
- b. Besondere Voraussetzungen des Abs. 1 Unterabs. 2
- aa. Transaktionskausalität
- bb. Vertrauensmaßstab
- (1) Institutionelle Anleger – Abs. 1 Unterabs. 2 Var. 1
- (a) Voraussetzungen des Art. 5a Abs. 1 Rating-VO
- (b) „in vertretbarer Weise verlassen“
- (2) Sonstige Anleger – Abs. 1 Unterabs. 2 Var. 2
- IV. Pflichtverletzung – Zuwiderhandlung gegen Anhang III der Rating-VO
- 1. Systematik
- 2. Auslegung
- 3. Tatbestandliche Begrenzung: Kausalzusammenhang zwischen Pflichtverletzung und Ratingergebnis
- a. Vorgaben durch die Rating-VO selbst
- b. Ergänzendes nationales Sachrecht nach Art. 35a Abs. 4 Rating-VO
- 4. Einzelne Zuwiderhandlungskategorien
- a. Zuwiderhandlungen im Kontext der Vermeidung von Interessenkonflikten nach Art. 6 Rating-VO
- b. Zuwiderhandlungen im Kontext von am Ratingverfahren beteiligten Personen
- c. Zuwiderhandlungen im Kontext von Dokumentations- und Aufbewahrungspflichten
- d. Zuwiderhandlungen im Kontext von angewandten Ratingmethoden und Modellen
- e. Zuwiderhandlungen im Kontext von Veröffentlichungspflichten
- f. Zuwiderhandlungen im Kontext der Bewertung strukturierter Finanzinstrumente
- g. Zuwiderhandlungen im Kontext der Übernahme von Ratings
- V. Verschulden
- 1. Vorsatz
- 2. Grobe Fahrlässigkeit
- VI. Schaden
- 1. Bemessungsgrundlage
- 2. Beschränkungen durch Kausalitätserfordernisse
- a. Kausalzusammenhang zwischen Zuwiderhandlung und Schaden
- b. Kausalzusammenhang zwischen Ratingergebnis und Schaden
- 3. Ersatzfähigkeit einzelner Schäden
- a. Anleger
- aa. Transaktionsschaden
- (1) Inhalt
- (2) Ersatzfähigkeit
- bb. Kursdifferenzschaden
- (1) Inhalt
- (2) Ersatzfähigkeit
- (a) Hinweise für den Schutzzweck: Unterbindung einer unangemessenen Preisbildung
- (b) Ausschluss nach Art. 35a Abs. 1 Unterabs. 2 Rating-VO
- (c) Abgrenzung zum ersatzfähigen Schaden des Emittenten
- (d) Änderungen der Erwägungsgründe im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens
- (e) Zwischenergebnis
- b. Emittenten
- C. Art und Umfang des Schadensersatzes
- I. Grundsätze
- 1. Art des Schadensersatzes
- 2. Umfang des Schadensersatzes
- II. Anleger
- 1. Transaktionsschaden
- a. Kauf
- b. Halten
- c. Verkauf
- 2. Kursdifferenzschaden
- 3. Mitverschulden
- III. Emittent
- 1. Korrektur des Ratings
- 2. Finanzierungskosten
- 3. Weitere Schadensposten
- 4. Mitverschulden
- IV. Haftungsbeschränkung nach Art. 35a Abs. 3 der Rating-VO
- 1. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Beschränkung
- a. Verhältnis zwischen lit. a) und lit. b)
- b. Maßgebliche Kollisionsnormen
- c. Zulässigkeit nach deutschem Sachrecht
- 2. Wirkung
- D. Verjährung
- E. Darlegungs- und Beweisregeln
- I. Spezialregelungen der Rating-VO
- 1. Art. 35a Abs. 2 Rating-VO
- a. Regelungsinhalt
- aa. Isolierte Betrachtung von Abs. 2 Unterabs. 1
- bb. Einbeziehung von Abs. 2 Unterabs. 2
- b. Schlussfolgerungen
- aa. Mindestschutz im Prozess
- bb. Zulässigkeit weiterer prozessualer Erleichterungen
- cc. Eingeschränkte Wirkung für drittstaatliche Gerichte
- dd. Substantiierungserleichterung vor deutschen Gerichten
- 2. Art. 35a Abs. 1 Unterabs. 2 Rating-VO
- a. Dokumentation des Anlagevorgangs
- b. Zulässigkeit des Anscheinsbeweises der „Anlagestimmung“
- c. Prozessuale Möglichkeiten
- 3. Art. 35a Abs. 1 Unterabs. 3 Rating-VO
- a. Regelungsinhalt
- b. Darlegungserleichterung
- aa. Zulässigkeit der Darlegungserleichterung
- bb. Anwendung durch die lex fori oder die lex causae
- II. Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich der übrigen Tatbestandsmerkmale
- 1. Verschulden
- a. Zulässigkeit der Beweiserleichterung
- b. Lex fori oder lex causae
- 2. Schaden
- III. Zusammenfassung
- Teil 3: Kollisions- und zuständigkeitsrechtliche Bezüge der europäischen Haftungsvorschrift
- A. Qualifikation als deliktsrechtliche Haftungsvorschrift i.S.d. IPR und IZVR
- B. Art. 35a Rating-VO im Zusammenspiel mit dem IPR
- I. Erforderlichkeit einer kollisionsrechtlichen Vorprüfung
- 1. Verhältnis zwischen der Rating-VO und der Rom II-VO
- 2. Festlegung des räumlich persönlichen Anwendungsbereichs durch die Rating-VO selbst
- II. Bestimmung des subsidiären Haftungsstatuts
- 1. Begrenzung des „jeweils geltenden nationalen Rechts“ auf mitgliedstaatliches Recht?
- 2. Kein Ausschluss nach Art. 1 Abs. 2 lit. g) Rom II-VO
- 3. Bestimmung des subsidiären Haftungsstatuts nach Art. 4 Rom II-VO
- a. Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO
- b. Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO
- aa. Anleger
- (1) Verletzungserfolg: freie Willensentscheidung oder Vermögen
- (2) Ort der Vermögensschädigung
- (a) Anknüpfungspunkte
- (aa) Sitz des bewerteten Unternehmens
- (bb) Lageort des konkret betroffenen Vermögensbestandteils: Giro- oder Anlagekonto des Anlegers
- (cc) Vermögenszentrale, Wohnsitz und gewöhnlicher Aufenthalt
- (dd) Vermögensverfügung
- (ee) Marktort
- (b) Stellungnahme
- (aa) Maßstab
- (bb) Abwägung
- (c) Zwischenergebnis
- bb. Emittenten
- (1) Verletzungserfolg
- (2) Maßgeblicher Ort
- c. Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO
- aa. Art. 4 Abs. 3 Satz 2 Rom II-VO – bei bestehendem Rechtsverhältnis
- bb. Art. 4 Abs. 3 Satz 1 Rom II-VO – offensichtlich engere Verbindung
- (1) Anleger
- (a) Sitz des Bewertungsobjekts
- (b) Sitz der Ratingagentur
- (c) Kontoführungsort
- (d) Marktort
- (2) Emittenten
- 4. Zusammenfassung
- C. Bestimmung der Internationalen Gerichtszuständigkeit
- I. Anwendbarkeit der Brüssel Ia-VO
- 1. Räumlicher und sachlicher Anwendungsbereich eröffnet
- 2. Sachverhalt mit Auslandsbezug
- II. Zuständigkeit nach der Brüssel Ia-VO
- 1. In Betracht kommende Zuständigkeitstatbestände
- 2. Zuständigkeit nach Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO
- a. Beklagtenwohnsitz in einem Mitgliedstaat der EU
- b. Eintritt des schädigenden Ereignisses – Handlungs- oder Erfolgsort?
- aa. Handlungsort
- bb. Erfolgsort
- (1) Anleger
- (a) Konkret betroffener Vermögensbestandteil – Kontoführungsort
- (b) Ort der Vermögensverfügung
- (2) Emittent
- 3. Ergebnis
- Teil 4: Zusammenfassung der Ergebnisse
- Teil 5: Bewertung und Entwicklungsvorschläge
- Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
a.A. andere(r) Ansicht
ABl. EG Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften
ABl. EU Amtsblatt der Europäischen Union
Abs. Absatz
AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union
a.F. alte Fassung
AG Die Aktiengesellschaft
AG Frankfurt Amtsgericht Frankfurt
AGB Allgemeine Geschäftsbedingungen
AIFM Verwalter alternativer Investmentfonds
allg. allgemein
Am. J. Comp. L. American Journal of Comparative Law
Art. Artikel
ASIC The Australian Securities & Investments Commission
Aufl. Auflage
BaFin Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht
BB Betriebs-Berater
BGB Bürgerliches Gesetzbuch
BGH Bundesgerichtshof
BGHZ Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen
BKR Zeitschrift für Bank- und Kapitalmarktrecht
BörsG Börsengesetz
BR-Drs. Bundesrat Drucksache
bspw. beispielsweise
DB Der Betrieb
d.h. das heißt
EBA European Banking Authority
EbAV Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung
ECFR European company and financial law review
Ed. Edition
EG Europäische Gemeinschaft
EIOPA European Insurance and Occupational Pensions Authority
ESMA European Securities and Markets Authority
EU Europäische Union
EuGH Europäischer Gerichtshof
EuR Europarecht
EuZW Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht
EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
FS Festschrift
gem. gemäß
ggf. gegebenenfalls
GPR Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht
GS Gedächtnisschrift
Halbs. Halbsatz
Hdb. Handbuch
Int. WirR Internationales Wirtschaftsrecht
Int. ZVR Internationales Zivilverfahrensrecht
IPR Internationales Privatrecht
IPRax Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts
i.S.d. im Sinne des
i.V.m. in Verbindung mit
IZVR Internationales Zivilverfahrensrecht
JA Juristische Arbeitsblätter
JuS Juristische Schulung
JZ Juristenzeitung
LG Landgericht
lit. Buchstabe
ManKonV Marktmanipulations-Konkretisierungsverordnung
MDR Monatsschrift für Deutsches Recht
m.w.N. mit weiteren Nachweisen
NJW Neue Juristische Wochenschrift
NCPC Nouveau Code de Procédure Civile
Nr. Nummer
NZG Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht
OGAW Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren
OLG Oberlandesgericht
OTC Over the counter
PHdb Praxishandbuch
RabelsZ Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht
Riv. dir. int. priv. proc. Rivista di diritto internazionale privato e processuale
RIW Recht der Internationalen Wirtschaft
Rn. Randnummer
RRa Reise-Recht aktuell
Rspr. Rechtsprechung
S. Seite
S.Bus.Rev. Schmalenbach Business Review
SEC U.S. Securities Exchange Commission
sog. sogenannt
Teils. Teilsatz
Tex. Int’l L. J. Texas International Law Journal
u.a. unter anderem
Unterabs. Unterabsatz
Urt. v. Urteil vom
usw. und so weiter
u.U. unter Umständen
v.a. vor allem
vgl. vergleiche
Vorb. v. Vorbemerkung von
VuR Verbraucher und Recht
VW Versicherungswirtschaft
Wash. U. L. Q. Washington University Law Quaterly
WM Wertpapier-Mitteilungen
WpHG Wertpapierhandelsgesetz
WpPG Wertpapierprospektgesetz
ZBB Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirtschaft
ZEuP Zeitschrift für Europäisches Privatrecht
ZGR Zeitschrift für Gesellschafts- und Unternehmensrecht
ZHR Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht
ZIP Zeitschrift für Wirtschaftsrecht und Insolvenzpraxis
ZPO Zivilprozessordnung
ZPR Zivilprozessrecht
ZRP Zeitschrift für Rechtspolitik
ZVglRWiss Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft einschließlich des Rechts der Entwicklungsländer und der ethnologischen Rechtsforschung
Einleitung
A. Einführung in die Problematik
Ratings und Ratingagenturen sind aus der heutigen Zeit nicht mehr wegzudenken. Insbesondere die drei großen amerikanischen Ratingagenturen Standard & Poors Ratings Services, Moody’s Investors Service und Fitch Ratings, die sich mehr als 90 % des Ratingmarkts teilen,1 verfügen über einen weltweiten Bekanntheitsgrad und haben die Rolle als „global player“ eingenommen.
Ratingagenturen sammeln und filtern Informationen, zerlegen diese und setzen sie mit einer eigenen Gewichtung zu einem Gesamtbild in Form eines Urteils zusammen, das unter der Bezeichnung „Rating“ immer wieder für Aufsehen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft sorgt. Dabei ist die Redensart „Wissen ist Macht“2 keinesfalls eine banale Phrase für Ratingagenturen, sondern entspricht dem Fundament ihres Geschäftszweigs: die Bonitätsbeurteilung von Personen und einzelner Finanzinstrumente.
Obgleich ihnen überwiegend gute Arbeit bescheinigt wird,3 werden immer wieder Fälle bekannt, in denen ihr Versagen offen zutage tritt. Vor allem in der amerikanischen Subprime-Krise, die zu einer globalen Finanzkrise führte, und während der europäischen Staatsschuldenkrise standen Ratingagenturen im Fokus öffentlicher Kritik.4 So würden Ratingagenturen nicht schnell genug auf aktuelle Ereignisse reagieren und ihre Bewertungen zu gemächlich anpassen.5
Der europäische Gesetzgeber reagierte auf die Finanzkrise mit der Erstellung eines Regelungskatalogs für Ratingagenturen, der in Gestalt der Verordnung ←21 | 22→(EG) 1060/2009 über Ratingagenturen6 erstmalig verbindlich für Ratingagenturen galt. Dieser beinhaltete für die in der Europäischen Gemeinschaft registrierten Ratingagenturen besondere Verhaltens- und Organisationspflichten, die ein frühzeitiges Erkennen einer verschlechterten Marktlage und eine rechtzeitige Anpassung von Ratings ermöglichen sollten.7 Etwa vier Jahre später rief der europäische Gesetzgeber mit der Verordnung (EU) Nr. 462/20138 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 über Ratingagenturen eine zivilrechtliche Haftungsvorschrift in Gestalt des Art. 35a Rating-VO ins Leben:
(1) Hat eine Ratingagentur vorsätzlich oder grob fahrlässig eine der in Anhang III aufgeführten Zuwiderhandlungen begangen und hat sich diese auf ein Rating ausgewirkt, so kann ein Anleger oder Emittent von dieser Ratingagentur für den ihm aufgrund dieser Zuwiderhandlungen entstandenen Schaden Ersatz verlangen.
Ein Anleger kann nach diesem Artikel Schadenersatz verlangen, wenn er nachweist, dass er sich bei seiner Entscheidung, in ein Finanzinstrument, auf das sich dieses Rating bezieht, zu investieren, dieses Instrument weiter zu halten oder zu veräußern, in vertretbarer Weise im Einklang mit Artikel 5a Absatz 1 oder in sonstiger Weise mit gebührender Sorgfalt auf dieses Rating verlassen hat.
Ein Emittent kann nach diesem Artikel Schadenersatz verlangen, wenn er nachweist, dass das Rating sich auf ihn oder seine Finanzinstrumente bezieht und die Zuwiderhandlung nicht darauf zurückzuführen ist, dass der Emittent die Ratingagentur direkt oder aufgrund öffentlich zugänglicher Informationen irreführend oder falsch informiert hat.
(2) Es liegt in der Verantwortung des Anlegers oder Emittenten, genaue und detaillierte Informationen vorzulegen, aus denen hervorgeht, dass die ←22 | 23→Ratingagentur gegen diese Verordnung verstoßen hat und dass sich diese Zuwiderhandlung auf das abgegebene Rating ausgewirkt hat.
Was als genaue und detaillierte Informationen gilt, entscheidet das zuständige nationale Gericht, wobei es berücksichtigt, dass der Anleger oder Emittent möglicherweise keinen Zugang zu Informationen hat, die allein in der Sphäre der Ratingagentur stehen.
(3) Die zivilrechtliche Haftung von Ratingagenturen nach Absatz 1 kann im Voraus nur beschränkt werden, wenn die Beschränkung:
a) angemessen und verhältnismäßig ist, und
b) nach dem jeweils geltenden nationalen Recht im Einklang mit Absatz 4 zulässig ist.
Soweit die Beschränkung der zivilrechtlichen Haftung nicht die in Unterabsatz 1 genannten Voraussetzungen erfüllt, hat sie keine rechtliche Wirkung.
(4) Begriffe wie „Schaden“, „Vorsatz“, „grobe Fahrlässigkeit“, „in vertretbarer Weise verlassen“, „gebührende Sorgfalt“, „Auswirkung“, „angemessen“ und „verhältnismäßig“, die in diesem Artikel genannt aber nicht definiert werden, werden im Einklang mit dem jeweils geltenden nationalen Recht gemäß den einschlägigen Bestimmungen des internationalen Privatrechts ausgelegt und angewandt. Fragen der zivilrechtlichen Haftung einer Ratingagentur, die nicht von dieser Verordnung geregelt werden, unterliegen dem jeweils geltenden nationalen Recht gemäß den einschlägigen Bestimmungen des internationalen Privatrechts. Welches Gericht für die Entscheidung über einen von einem Anleger oder einem Emittenten vorgebrachten zivilrechtlichen Haftungsanspruch zuständig ist, wird anhand der einschlägigen Bestimmungen des internationalen Privatrechts bestimmt.
(5) Dieser Artikel schließt weitere zivilrechtliche Haftungsansprüche im Einklang mit dem nationalen Recht nicht aus.
(6) Der in diesem Artikel vorgesehene Schadenersatzanspruch hindert die ESMA nicht daran, ihre Befugnisse nach Artikel 36a voll auszuschöpfen.
Diese europäische Haftungsvorschrift ist Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung, die von drei Fragen geleitet wird:
• Was regelt Art. 35a Rating-VO?
• Wie ist die aktuelle Regelung zu bewerten?
• Wie ist im Einzelnen Art. 35a Rating-VO ggf. nachzubessern?
Der Untersuchungsschwerpunkt wird dabei auf der ersten Frage liegen, weil zunächst die einzelnen Haftungsvoraussetzungen analysiert und die Rechtsfolge ←23 | 24→bestimmt werden müssen. Da die erfolgreiche Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen Ratingagenturen regelmäßig daran scheitert, dass Anleger und Emittenten die sie begünstigenden Umstände nicht beweisen können,9 werden den Darlegungs- und Beweisregeln der Haftungsvorschrift besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Dem Umstand geschuldet, dass die europäische Haftungsvorschrift keine in sich abgeschlossene Regelung darstellt, sondern zu ihrer vollständigen Funktionstauglichkeit inhaltlich um nationales Sachrecht ergänzt werden muss,10 gilt es zu ermitteln, nach welchen Kriterien sich das jeweilige nationale Recht bestimmt. Ebenso ist zu klären, vor welchem Gericht Klage auf Leistung von Schadensersatz zu erheben ist.
Im Rahmen der Erörterung der oben aufgeworfenen Leitfragen werden eine Reihe dogmatischer Grundprobleme zu behandeln sein. Beispielsweise fordert das Ineinandergreifen von unionsrechtlichen Vorgaben und nationalem Recht den Rechtsanwender heraus und stellt Anleger, Emittenten sowie Ratingagenturen zugleich vor nicht unerhebliche Rechtsunsicherheiten. Denn bei nicht weniger als achtundzwanzig möglichen subsidiären Haftungsregimen, wenn man alleine auf das Recht der europäischen Mitgliedstaaten abstellt, kann die Einschätzung der Erfolgsaussichten einer Klage auf Schadensersatz alles andere als eindeutig ausfallen. Auch wird man sich im Rahmen der Bestimmung des subsidiär anwendbaren nationalen Rechts mit der Frage beschäftigen müssen, in welchem Verhältnis die Rating-VO (EU) Nr. 462/2013 und die Rom II-Verordnung11 zueinander stehen. Konkret gilt es beispielsweise zu klären, ob der Anwendung der Rating-VO eine kollisionsrechtliche Vorprüfung vorzuschalten ist.
Es wird nicht Gegenstand dieser Arbeit sein, alle mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen daraufhin zu untersuchen, welche für die Belange der europäischen Haftungsvorschrift am freundlichsten für Anleger oder Ratingagenturen ausgestaltet ist. Vielmehr soll geklärt werden, was Art. 35a Rating-VO in seiner Gestalt als Regelungstorso für Mitgliedstaaten im Allgemeinen und speziell für den einzelnen Rechtsanwender bindend regelt, unabhängig davon, welches sekundäre ←24 | 25→Haftungsstatut ergänzend Anwendung findet. Diese Untersuchung ist nicht nur für Angehörige einer bestimmten mitgliedstaatlichen Rechtsordnung nützlich, sondern verspricht mitgliedstaatenübergreifende Erkenntnisse. Das betrifft insbesondere die Problematik, nach welchen Kriterien das sekundäre, mitgliedstaatliche Haftungsstatut auszuwählen und wie die internationale Gerichtszuständigkeit zu bestimmen sind. So droht etwa bei Klageerhebung vor einem international unzuständigen Gericht die Abweisung der Klage.12 Bei anderen Fragen, wie etwa bei der Bestimmung des Schadensersatzes, ist trotz eines Verweises auf nationales Recht weitgehend unklar, was im Einzelnen durch die Verordnung selbst geregelt ist und für welche Aspekte nationales Recht maßgeblich sein soll. Praktisch relevant wird die Trennung von einzelnen Haftungsbedingungen, die entweder dem Unionsrecht oder dem jeweils geltenden nationalen Recht zugeordnet sind, etwa beim Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH. Denn dieser kann nach Art. 267 Abs. 1 AEUV nur über den Bestand und Inhalt von primärem und sekundärem Unionsrecht entscheiden, während etwa für die unionsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts mitgliedstaatliche Gerichte zuständig sind.13 Anspruch der Arbeit ist es hier, rechtsdogmatische Lösungen bereitzustellen, die ökonomische und rechtspolitische Erwägungen hinreichend berücksichtigen, um ihre Praxistauglichkeit zu gewährleisten.
Darüber hinaus soll für Anleger und Emittenten, für die als subsidiäres Haftungsstatut deutsches Recht maßgeblich ist, der Regelungsinhalt der Haftungsvorschrift im weiteren Sinne untersucht werden. Mit anderen Worten gilt es aufzuzeigen, welche Voraussetzungen erfüllt und welche Hürden durch Anleger und Emittenten genommen werden müssen, wenn deutsches Sachrecht zur Auslegung einzelner Rechtsbegriffe oder zur Ergänzung der europäischen Haftungsvorschrift zur Anwendung kommt. Vor dem Hintergrund, dass in der Vergangenheit Schadensersatzklagen gegen Ratingagenturen nach deutschem Recht kaum Erfolg hatten,14 soll bewertet werden, ob Art. 35a Rating-VO eine adäquate Anspruchsgrundlage für beide Interessengruppen darstellt.
Details
- Pages
- 300
- Publication Year
- 2019
- ISBN (PDF)
- 9783631774519
- ISBN (ePUB)
- 9783631774526
- ISBN (MOBI)
- 9783631774533
- ISBN (Softcover)
- 9783631774502
- DOI
- 10.3726/b15071
- Language
- German
- Publication date
- 2019 (April)
- Keywords
- Europäische Rechtsverordnung deliktische Haftung Europarecht Rating Anleger Emittent Internationales Privatrecht Rechtsvergleichung Schaden Kapitalmarktrecht Credit rating Regulierung Ratingmarkt
- Published
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 300 S.