Fallschwund bei Vergewaltigungsvorwürfen und polizeiliche Ermittlungstätigkeit
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Table Of Contents
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- A. Problemstellung und Erkenntnisinteresse
- B. Fallschwund bei Vergewaltigungsvorwürfen
- I. Statistik
- 1. Die Rechtspflegestatistik der Staats- und Amtsanwaltschaften
- 2. Prozentanteil von Verurteilungen an den jährlich erfassten Fällen der PKS
- 3. Prozentanteil von Verurteilungen und Freisprüchen an den jährlich erfassten Aburteilungen
- 4. Darstellung des Fallschwunds mithilfe internationaler Statistiken
- II. Rechtstatsachenforschung
- III. Zusammenfassung: Fallschwund bei Vergewaltigungsvorwürfen
- C. Vergewaltigungsmythen
- I. Herkunft
- II. Definition
- III. Inhalt
- 1. „Nothing happend“ – Es ist nichts passiert
- 2. „No Harm was done“ – Niemand ist zu Schaden gekommen
- 3. „She wanted it“ – Sie hat es gewollt
- 4. „She deserved it” – Sie hat es verdient
- 5. „Only crazy men rape“ – nur geistesgestörte Männer vergewaltigen
- 6. „Man cannot control their sexuality“ – Männer können ihre Sexualtrieb nicht kontrollieren
- 7. Zusammenfassende Betrachtung der Inhalte
- IV. Messung der Vergewaltigungsmythenakzeptanz
- 1. Die „Rape Myth Acceptance Scale“ nach Burt
- 2. Die „Illinois Rape Myth Acceptance Scale“ von Payne/Lonsway/Fitzgerald
- 3. Die Vergewaltigungsmythenakzeptanzskala nach Bohner
- 4. Die „The Acceptance of Modern Myths about Sexual Aggression Scale“ nach Gerger/Kley/Bohner/Siebler
- 5. Zusammenfassende Betrachtung der Messinstrumente/Skalen
- V. Funktion von Vergewaltigungsmythen
- 1. Vergewaltigungsmythen bekräftigen den Glauben an die gerechte Welt
- 2. Vergewaltigungsmythen begünstigen die schematische Informationsverarbeitung
- 3. Vergewaltigungsmythen unterstützen und bestätigen Neutralisierungstechniken
- 4. Vergewaltigungsmythen bekräftigen die Vorstellung des idealen Opfers
- VI. Forschungsschwerpunkte der Vergewaltigungsmythenforschung
- 1. Biologische Determinanten
- a) Geschlecht
- b) Alter
- 2. Kontextvariablen
- a) Adversarial sexual beliefs – ablehnende Vorstellungen über sexuelle Beziehungen
- b) Acceptance of interpersonal violence – Billigung zwischenmenschlicher Gewalt
- c) Sex role stereotyping – Akzeptanz stereotypischer Geschlechtsrollenbilder
- d) Attitudes toward women – Die persönliche Haltung gegenüber Frauen
- 3. Ideologien
- a) Social dominance orientation – vorherrschende politische Orientierung
- b) Right-Wing Authoritarianism – rechtsextremistischer Autoritarismus
- 4. Wertesysteme
- a) Homophobie
- b) Sexismus
- 5. Persönliche Erfahrung
- a) Eigene sexuelle Viktimisierungserfahrung
- b) Beruf
- c) Kontakt mit einem Vergewaltigungsopfer
- 6. Zusammenfassende Betrachtung
- VII. Fazit Vergewaltigungsmythen
- 1. Inhaltliche Überarbeitung der Vergewaltigungsmythen
- 2. Ausweitung der quantitativen Datenanalysen
- 3. Einheitliche Konstruktion der Forschungsdesigns
- 4. Ausweitung der Repräsentativität
- D. Theorie und Praxis polizeilichen Handelns
- I. Theorie polizeilichen Handelns – Ausbildung
- 1. Organisation und Zuständigkeiten
- 2. Ausbildungsinhalte
- II. Polizei und Wissenschaft
- 1. Polizei und Polizeiforschung
- 2. Akademisierung der Polizei
- III. Polizeikultur und Polizistenkultur
- 1. Polizeikultur
- a) Eine Begriffserklärung
- b) Funktion – Leitbilder
- 2. Polizistenkultur
- a) Begriffserklärung
- b) Funktion – Handlungsmuster
- 3. Abhängigkeiten und Konkurrenzen
- 4. Kultur und Ermittlungstätigkeit bei Vergewaltigungsvorwürfen
- IV. Vergewaltigung im polizeilichen Kontext
- 1. Polizeiliches Problem mit der Vergewaltigung – Misstrauen gegenüber den möglichen Opfern
- 2. Polizei und die Sicht der Opfer
- 3. Zusammenfassung
- E. Fazit und Ausblick
- I. Fazit
- 1. Erklärungen für den Fallschwund bei Vergewaltigungsvorwürfen
- 2. Vergewaltigungsmythen als Erklärung für den Fallschwund
- 3. Beeinflussen Vergewaltigungsmythen die Polizei?
- 4. Vergewaltigungsmythen bei der Polizei als Erklärung für den Fallschwund?
- II. Ausblick
- 1. Zukünftige Forschungen zum Fallschwund bei Vergewaltigungsvorwürfen
- 2. Zukünftige Forschungen zu Vergewaltigungsmythen und Fallschwund
- 3. Zukünftige Forschungen zu Polizei, Vergewaltigungsmythen und Fallschwund
- Verzeichnis der Literatur
- Reihenübersicht
A. Problemstellung und Erkenntnisinteresse
Im 11. Mai 2011 unterzeichnete die Bundesrepublik Deutschland das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, die sogenannte Istanbul Konvention1. Der Artikel 36 jener Konvention umfasst die sexuelle Gewalt – einschließlich der Vergewaltigung – und besagt, dass die Vertragsparteien jede nicht einvernehmliche sexuelle Handlung durch „die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen“ unter Strafe zu stellen haben2. In der Silvesternacht 2015/2016 kam es insbesondere im Bereich des Kölner Hauptbahnhofs zu zahlreichen sexuellen Übergriffen auf Frauen durch Gruppen junger Männer, die vornehmlich aus dem arabischen und nordafrikanischen Raum stammten3. Die überwiegend weiblichen Opfer berichteten von massiven sexuellen Belästigungen und sexuellen Nötigungen. Dabei umringten große Männergruppen die Opfer. Sowohl diese Vorkommnisse als auch die Unterzeichnung der Istanbul Konvention haben die seit längerer Zeit ruhende Debatte um eine Reform des Sexualstrafrechts belebt. Auch § 177 StGB, der im deutschen Strafgesetzbuch die sexuelle Nötigung und Vergewaltigung regelt, ist Teil dieser Diskussion.
Am 7. Juli 2016 verabschiedete der Bundestag ein neues Sexualstrafrecht. Zukünftig ist es nicht mehr erforderlich, den entgegenstehenden Willen des Opfers durch Gewalt oder Gewaltandrohung zu überwinden. Stattdessen reicht es, dass der entgegenstehende Wille erkennbar ist und sich der Täter über diesen hinwegsetzt4. Alle Tathandlungen, die sexuelle Übergriffe auf Menschen enthalten, werden in dem neu gefassten § 177 StGB geregelt. Der § 179 StGB wird aufgehoben. Fälle, in denen das Opfer von den Handlungen des Täters überrascht wurde und deshalb keinen Widerstand leistete oder aus Furcht vor dem Täter ← 11 | 12 → von einem Widerstand absah, waren bisher nicht von der Vergewaltigungsvorschrift erfasst. Der strafrechtliche Schutz der sexuellen Selbstbestimmung folgt damit dem sogenannten „Nein-heißt-Nein“- Grundsatz5. Unumstritten ist dieser Grundsatz nicht: Kritiker befürchten durch die Gesetzesänderung eine Zunahme von Falschanzeigen und erhebliche Probleme für die justizielle Praxis6.
Das neue Gesetz ist mit hohen Erwartungen verbunden: Neben dem Ziel, alle strafwürdigen Tathandlungen zu erfassen, die das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung verletzen, sollen durch die Schließung von Strafbarkeitslücken Verurteilungen vereinfacht werden. Tatsächlich offenbart die Verfahrenswirklichkeit von Vergewaltigungsvorwürfen eine Diskrepanz zwischen Anzeigen und Verurteilungen. Im Jahr 2014 erfasste die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) beispielsweise 7.345 Vergewaltigungsanzeigen (§ 177 Abs. 2, 3, 4 und § 178 StGB)7. Im selben Jahr registrierte die Rechtspflegestatistik Strafverfolgung des Statistischen Bundesamtes 566 Verurteilungen von Vergewaltigungen (§ 177 Abs. 2, 3, 4 und § 178 StGB)8. Damit beträgt der Prozentanteil von Verurteilungen an den jährlich erfassten Vergewaltigungsanzeigen 7,7%9. Aufgrund der unterschiedlichen Erfassungszeiträume der PKS und der Rechtspflegestatistik Strafverfolgung – ein Verfahren wird selten im selben Jahr abgeschlossen in dem es angezeigt wird – sind Rückschlüsse auf die Verfahrenswirklichkeit allerdings mit Vorsicht vorzunehmen. Dennoch ist die Bezugnahme beider Statistiken eine Möglichkeit der Darstellung der Verfahrenswirklichkeit von Vergewaltigungsvorwürfen. Des Weiteren offenbart wiederum die Rechtspflegestatistik der Staats- und Amtsanwaltschaften, dass viele Vergewaltigungsverfahren bereits vor Eröffnung des Hauptverfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt werden10.
Der Rechtsstaat versucht, die Diskrepanz zwischen angezeigten und in Verurteilung endenden Vergewaltigungsvorwürfen u.a. durch neue Gesetze zu ← 12 | 13 → schließen. Ein Forschungszweig der empirischen Sozialpsychologie erklärt diese Diskrepanz hingegen mit der Bagatellisierung sexualisierter Gewalt durch die Entscheidungsträger/innen aufgrund der Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen11. Vergewaltigungsmythen sind nach Bohner „deskriptive oder präskriptive Überzeugungen über Vergewaltigung (d.h. über Ursachen, Kontext, Folgen, Täter, Opfer und deren Indikation), die dazu dienen, sexuelle Gewalt von Männern gegen Frauen zu leugnen, zu verharmlosen oder zu rechtfertigen“12. Sofern eine Tat nicht den stereotypischen Vorstellungen über eine „echte“ Vergewaltigung entspräche, erhöhe sich die Wahrscheinlichkeit, dem Opfer eine Mitschuld zukommen zu lassen, den Täter zu entlasten und damit die Anwendung von Gewalt zu legitimieren13. Da auch Vertreter/innen der Strafverfolgungsbehörden nicht frei von der Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen seien, könne dies einen Einfluss auf die Urteilsfindung haben14. Die Vergewaltigungsmythenforschung belegt mit Hilfe einer Vielzahl von empirischen Untersuchungen, dass die Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen die Urteilsfindung von Testpersonen beeinflusst15. Doch zählen die Vertreter/innen der Strafverfolgungsbehörden in Deutschland bisher nicht zu den analysierten Personengruppen, die Ergebnisse beziehen sich größtenteils auf (Jura-) Studierende oder Personen aus der allgemeinen Bevölkerung.
Polizeikräfte als Vertreter der Strafverfolgungsbehörden nehmen aufgrund ihrer Ermittlungstätigkeit eine bedeutende Rolle bei der Bearbeitung von Vergewaltigungsvorwürfen ein16. Dabei sind insbesondere Vergewaltigungsvorwürfe oft durch besonders schwierige Beweissituationen geprägt17. Die (empirische) Polizeiforschung kann bisher allerdings nicht aufzeigen, welche Merkmale von den polizeilichen Sachbearbeiter/innen bei der Ermittlungstätigkeit von beweisschwierigen Vorwürfen besondere Aufmerksamkeit erhalten und somit deren Beurteilung beeinflussen. Wichtigkeit erlangt die Beantwortung der Frage aber ← 13 | 14 → dadurch, dass die empirische Polizeiforschung Polizeikräften ein Misstrauen gegenüber den möglichen Vergewaltigungsopfern attestiert18.
Fraglich ist also, inwiefern die Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen bei polizeilichen Sachbearbeiter/innen das praktische und theoretische polizeiliche Handeln beeinflusst und welche Auswirkungen dies auf den Fallschwund bei Vergewaltigungsvorwürfen haben kann. Neben der Vergewaltigungsmythen- und Polizeiforschung haben es auch die Forschungen zum Fallschwund versäumt, mögliche Abhängigkeiten und Wirkungsfelder der einzelnen Einflussgebiete miteinander in Beziehung zu setzen und etwaige Zusammenhänge offenzulegen. Diesem Versäumnis soll mit dieser Arbeit entgegengetreten werden. Sie will die Zusammenhänge zwischen dem Fallschwund bei Vergewaltigungsvorwürfen, der Vergewaltigungsmythenakzeptanz sowie dem theoretischen und praktischen polizeilichen Handeln bei Vergewaltigungsvorwürfen aufzeigen.
Im Zentrum der Arbeit steht die Beantwortung der Frage, wie hoch der Fallschwund bei Vergewaltigungsvorwürfen tatsächlich ist und welche Daten zu dessen Bestätigung Anwendung finden. Inbegriffen ist dabei auch die Frage nach bisherigen Erklärungen für den Fallschwund. Des Weiteren soll herausgearbeitet werden, inwiefern eine Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen den Fallschwund beeinflusst und ob sie darüber hinaus auch einen Einfluss auf das theoretische und praktische polizeiliche Handeln hat (und dadurch auch die Verfahrenswirklichkeit beeinflusst). Zur Überprüfung dieses Zusammenhangs soll zunächst der Frage nachgegangen werden, ob es in der Polizei eine Vergewaltigungsmythenakzeptanz gibt. Dabei ist auch die akademisierte Ausbildung der Polizeianwärter/innen und damit das theoretische Handeln der Sachbearbeiter/innen von Interesse. Die Ergebnisse der Arbeit sollen der zukünftigen (empirischen) Forschung Impulse für eine interdisziplinäre Betrachtung des Tatbestands der Vergewaltigung und seiner Ausgestaltung in der Verfahrenswirklichkeit und Rechtspraxis geben.
1 Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt, 2011. (Abrufbar unter: http://www.coe.int/de/web/conventions/full-list/-/conventions/treaty/210; Aufruf 17.03.2016).
2 Vgl. a.a.O., Artikel 36, S. 15.
3 Vgl. Spiegel Online, Übergriffe in der Silvesternacht. Kölner Polizei ermittelt 73 Verdächtige, 15.02.2016. (Abrufbar unter: http://www.spiegel.de/panorama/justiz/koelner-silvester-uebergriffe-polizei-ermittelt-gegen-73-verdaechtige-a-1077503.html; Aufruf 24.09.2016); Vgl. WDR online Nachrichten, Faktencheck zu Köln, 08.01.2016. (Abrufbar unter: http://www1.wdr.de/nachrichten/vorfaelle-hauptbahnhof-koeln-fakten-100.html; Aufruf 24.09.2016).
4 Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht, BT-Drucksache 18/9097, 2016, S. 2.
5 Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetztes zur Änderung des Sexualstrafrechts, BT-Drucksache 18/7719, 2016, S. 2.
6 Vgl. Sabine Rückert, Das Schlafzimmer als gefährlicher Ort, in: DIE ZEIT 2016; Thomas Richter, NEIN heißt NEIN heißt NEIN, in: DIE ZEIT 2014.
7 Vgl. Polizeiliche Kriminalstatistik 2014, Straftatenschlüssel 1110.
8 Vgl. Statistisches Bundesamt, Rechtspflege, Strafverfolgungsstatistik, Fachserie 10, Reihe 3, 2014, 2.1 (§ 177 Abs. 2, 3, 4 und § 178 StGB).
9 Auch wenn Rückschlüsse, die auf der PKS und der Strafverfolgungsstatistik beruhen, aufgrund der unterschiedlichen Erfassungsräume mit Vorsicht zu ziehen sind, werden daraus dennoch Tendenzen ersichtlich.
10 Vgl. Statistisches Bundesamt, Rechtspflege Staatsanwaltschaften, Fachserie 10, Reihe 2.6; Vgl. Elsner/Steffen, 2005, S. 111 f.
11 Vgl. Burt, 1991, S. 26 ff.; Vgl. Temkin/Krahé, 2008.
12 Bohner, S. 14.
13 Vgl. Krahé, 2012, S. 159 ff.
Details
- Pages
- 172
- Publication Year
- 2018
- ISBN (PDF)
- 9783631768129
- ISBN (ePUB)
- 9783631768136
- ISBN (MOBI)
- 9783631768143
- ISBN (Hardcover)
- 9783631767665
- DOI
- 10.3726/b14684
- Language
- German
- Publication date
- 2018 (December)
- Keywords
- Vergewaltigungsmythenakzeptanz Polizeikultur Rechtspflegestatistik Polizeiliche Kriminalstatistik Strafverfolgung Polizeiliche Professionalisierung
- Published
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien. 2018. 172 S., 4 s/w Abb., 15 s/w Tab.