Natur im Blick
Über Annette von Droste-Hülshoff, Goethe und Zeitgenossen
Zusammenfassung
Mit Beiträgen von Josef H. Reichholf, Winfried Woesler, Jürgen Klein, Jutta Linder, Heike Spies, Franz Schwarzbauer, Margrit Wyder, Gunter Reiß, Hartmut Laufhütte und Thomas Traupmann.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Grußwort (Dirk Bastin, Baubürgermeister der Stadt Ravensburg)
- Einleitung (Franz Schwarzbauer)
- Romantischer als in der Romantik. Die Natursicht in unserer Zeit (Josef H. Reichholf)
- Natur in der Stadt (Fotografien von Eva Hocke)
- Annette von Droste-Hülshoff: „Die Vogelhütte“. Eine Interpretation. (Winfried Woesler)
- Annette von Droste-Hülshoff: „Das Hospiz auf dem Grossen St. Bernhard“ (1828–1838). Negative Natur, Ästhetik der Kälte und die englische Romantik (Jürgen Klein)
- Naturmagie und Glaube. Von Goethe zur Droste (Jutta Linder)
- Mondesaufgang. Das Mond-Motiv in der Lyrik Annette von Droste-Hülshoffs und des späten Goethe (Heike Spies)
- Die Natur als Ort der Trauer. Goethes Gedicht „Dämmrung senkte sich von oben […]“ (Franz Schwarzbauer)
- „Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt“. Goethes Naturverständnis in seinen Studien zur Naturwissenschaft (Margrit Wyder)
- Verweigertes Einverständnis. Nikolaus Lenaus Naturlyrik (Gunter Reiß)
- „Das wissen wir alle, das ward uns kund.“ Präformierte Naturwahrnehmung als zentrales Motiv in Gedichten und Erzähltexten der Droste (Hartmut Laufhütte)
- Störung – Produktion – Präsentation (Thomas Traupmann)
- Anhang
- „… bin verloren ohne Wald“ Laudatio auf Helga M. Novak anlässlich der Verleihung des Meersburger Droste-Preises (2012) (Winfried Woesler)
- Reihenübersicht
Der Besucher, der zum ersten Mal nach Ravensburg kommt, wird diese Stadt zunächst nicht mit Natur in Verbindung bringen. Die 1088 erstmals urkundlich erwähnte mittelalterliche Stadt bezaubert die Besucher durch sehr gut erhaltene Stadttore, Türme sowie große Teile der inneren Stadtmauer.
Nachdem unser Besucher die Stadt durch das 1490 erbaute Obertor betreten hat, beginnt er seinen Stadtspaziergang durch die engen Gassen der Oberstadt. Heute erwartet die Gäste der Oberstadt das Museumsquartier: drei wunderbare Ausstellungen in historischen Patrizierhäusern sowie das Kunstmuseum in einem Museumsneubau, welcher sich ganz unaufdringlich in das gewachsene Stadtbild einfügt und doch vollkommen selbstständig erscheint.
Vielleicht wird unser Besucher auch auf das modernisierte Einkaufszentrum Gänsbühlcenter direkt am Rivoliplatz treffen. Nach dem Erwerb von Textilien oder einer Digitalkamera erreicht er über den Gespinstmarkt den Marienplatz, auf dem die Menschen in der Sonne einen Kaffee oder ein Eis genießen und dabei die Fassaden der Altstadt bewundern. Bevor unser Besucher die Stadt durch das 1350 erbaute Untertor verlässt, hat er sich noch in der ehemaligen Handwerkersiedlung der Unterstadt umgeschaut.
Auf dem ganzen Weg durch die historische Altstadt wird man kaum Grün wahrnehmen. Die damaligen Bürger der Stadt Ravensburg bauten Stadttore, Türme und eine Stadtmauer, um sich vor den Gefahren von außen besser schützen zu können. Im Mittelalter konnten die Menschen Naturphänomene nicht erklären und hatten Angst vor Selbigen. Eine mächtige zweireihige Umfriedung sollte helfen. Jeder Quadratmeter im Inneren dieser Mauern war unglaublich wertvoll. So wertvoll, dass die Höhe der Steuern von der in Anspruch genommenen Grundstücksfläche abhing. Keiner der Bürger wäre damals auf die Idee gekommen, innerhalb der Stadtmauern einen großen Garten anzulegen, jeder Quadratmeter wurde für das Wohnen und Arbeiten gebraucht.
Wann also zog die Natur in die Stadt? Genaugenommen zogen die Menschen in die Natur. Ende des 19. Jahrhunderts waren die Bürger die Enge der Stadt leid. Der Gestank der offenen Kanalisation, die untragbaren hygienischen Verhältnisse, der Lärm und viele andere Begleiterscheinungen der alten Stadt führten zu einer ganz neuen Sehnsucht, dem Haus auf dem Land. Dies war der Beginn der Nord- und Südstadt. Die, die es sich leisten konnten, bauten Villen mit großen Gärten außerhalb der Stadtmauern. Es war die Sehnsucht der aufgeklärten Bürger, die das Bild, ja die Stadt selbst erweiterte. Erst im 20. Jahrhundert wurden die Blockinnenbereiche der Altstadt nach und nach von Bauten befreit, stattdessen zogen grüne Oasen in die Innenhöfe. Freilich sind diese für die meisten Besucher nicht zugänglich. ← 7 | 8 →
Auch heute verändert sich die Stadt. In Zeiten zunehmender Flächenversiegelung sind Politik und Verwaltung aufgefordert, ihre Stadt vornehmlich im Innenbereich weiterzubauen, bevor sie neue Flächen versiegeln dürfen. Das führt auch zu einer neuen Konkurrenz zwischen Grün, Wohnen und Arbeiten. Wir dürfen gespannt sein, wie das Bild der Stadt Ravensburg in Zukunft aussehen wird, wie die Menschen in Zukunft Natur erleben werden. Vielleicht wird das Naturerlebnis der Zukunft, wie so viel anderes auch, in einer virtuellen Realität stattfinden?
Weit weg von solchen Visionen waren die Besucher der Tagung „Natur im Blick“. Die Vorträge dieser Tagung finden Sie in diesem Tagungsband, bei dessen Lektüre ich Ihnen viel Freude wünsche.
Dirk Bastin
Baubürgermeister der Stadt Ravensburg
1.
Es mag ungewöhnlich sein, an dieser Stelle von der Entstehung der Tagung zu berichten statt von den Zielen, die zu erreichen man sich damit gesetzt hat; aber vielleicht wird so die Chuzpe verständlicher, die man braucht, eine Tagung zu diesem Thema zu machen. Denn jeder weiß, dass der Begriff der Natur nicht nur äußerst komplex ist, sondern geradezu schillernd; jeder versteht ihn anders, je nachdem welche Erfahrungen, welches wissenschaftliche Vorverständnis er hat. „Wer schiffbrüchig wochenlang auf dem Meer herumtrieb oder sein Haus durch ein Erdbeben verlor, hat andere Naturerfahrungen als jemand, der als Kind im Garten Igeln ein Zuhause bot“, merkt der Philosoph Michael Hampe an.1 Ob Lorbeer, Thymian oder Wacholder, ob Kiebitz oder Schmetterlinge (um beliebige Namen von Pflanzen und Vögeln aus Annette von Droste-Hülshoffs Gedicht Die Vogelhütte herauszugreifen), von Sonne und Mond bis zu den Insekten und Bakterien – alles ist Teil dessen, was wir ‚natürlich‘ nennen. „Zu glauben, nur weil ein und dasselbe Adjektiv auf verschiedene Gegenstände anwendbar ist, gehöre etwas zu ein und derselben Substanz und füge sich zu ein und demselben Ganzen, wäre ein Trugschluss“, so noch einmal Michael Hampe. Darüber hinaus hat der Begriff der Natur im Laufe der Geschichte erhebliche Bedeutungsänderungen erfahren; und, um das Dilemma sozusagen perfekt zu machen, kommt hinzu, dass wir selber Teil der Natur sind, andererseits über Natur so nur reden können, weil wir sie zum Objekt gemacht haben.2 So gesehen gibt es kaum ein Thema, das vermessener sein könnte.
Ihren Anfang hat diese Tagung bei einer früheren genommen, in Rom, als wir uns vom 14. bis 16. April 2011 trafen, um das Thema Annette von Droste-Hülshoff und Italien zu diskutieren.3 Es war eine anregende und zugleich entspannte Atmosphäre. Bei der Gelegenheit wurde festgestellt, dass das Werk der Annette von Droste-Hülshoff seit Langem nicht mehr, obwohl naheliegend, unter dem Fokus Natur untersucht worden sei. Ein solches Thema böte sich für eine Tagung an, und warum nicht in Ravensburg? Die Stadt, die seit 1996 ← 9 | 10 → an dem Programm Ökologische Stadt- und Gemeindeentwicklung teilnimmt, versucht, diese Vision konsequent umzusetzen. Nicht zuletzt kann ein Ausflug nach Meersburg leicht ins Programm aufgenommen werden, ist doch die „zweite Heimat“ der Dichterin gerade mal 30 Kilometer entfernt. Unter den Organisatoren herrschte zudem Übereinstimmung, nicht durch eine Vielzahl an Referenten wettmachen zu wollen, was systematisch nicht geleistet werden kann. Vielmehr sollte die projektierte Tagung einzelne ‚Tiefenbohrungen‘ versuchen, Untersuchungen zu einzelnen Aspekten des Themas. Über eine andere Grenzüberschreitung kam man, andererseits, früh überein: dass sich die Tagung nicht ausschließlich mit dem Werk der Annette von Droste-Hülshoff beschäftigen sollte, sondern auch mit dem von Zeitgenossen: mit Lenau und Shelley, mit Lord Byron und, vor allem, mit Goethe. Die Tagung, die dann unter dem Titel Natur im Blick vom 12. bis 14. Juni 2014 in Ravensburg stattfand, ist von der Droste-Gesellschaft Münster und der Goethe-Gesellschaft Ravensburg veranstaltet worden. Wiederum in anregender und entspannter Atmosphäre.
2.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewann jener Prozess an Dynamik, der mit der Entfremdung des Menschen von der Natur unzureichend beschrieben ist. Die Städte entwickelten sich nicht nur zu Motoren der Industrialisierung, sondern wurden zu Zentren des modernen Lebens. Gleichzeitig veränderte sich der Blick auf die Natur radikal. „In der geschichtlichen Zeit, in welcher die Natur, ihre Kräfte und Stoffe zum ‚Objekt‘ der Naturwissenschaften und der auf diese gegründeten technischen Nutzung und Ausbeutung werden, übernehmen es Dichtung und Bildkunst, die gleiche Natur – nicht weniger universal – in ihrer Beziehung auf den empfindenden Menschen aufzufassen und ‚ästhetisch‘ zu vergegenwärtigen.“4 So lautet die grundlegende, vielfach zitierte These des Philosophen Joachim Ritter, womit er jenen epochalen Wandel in unserem Verhältnis zur Natur dialektisch zugespitzt hat. Anschauliches Beispiel dafür ist ihm Schillers berühmtes Gedicht Der Spaziergang,5 in dem ein modernes Ich „des Zimmers Gefängnis“ entflieht, die Stadt verlässt und hinausstrebt ins Freie, in die Natur, in die „belebte Flur“. Ritter: „Schiller spricht zugleich aus, daß die notwendige und unaufhebbare Bedingung der mit der Stadt gesetzten Freiheit ← 10 | 11 → des Menschen die Verwandlung der ‚umruhenden‘ Natur des ländlichen Daseins in die genutzte Natur als Objekt menschlicher Herrschaft ist.“ Nicht mehr, wie noch Rousseau, nimmt Schiller den Verlust einer ursprünglichen, ganzheitlichen Natur als „Verfall“ wahr, sondern als „Bedingung der Freiheit“ des Menschen. Einer Freiheit, die jedoch entarten, depravieren kann; wie Schiller es real in den Exzessen der Französischen Revolution erlebte, wie das Ich des Gedichts es in einem Traumbild imaginiert.
„Aus grauer Städte Mauern“ zog es die Menschen also nicht erst um 1900, zur Wandervogelbewegung, hinaus in die Natur, sondern schon hundert Jahre früher, während der Romantik. Je mehr sich die Verhältnisse in den Städten mit der Industrialisierung verschlechterten, desto ‚schöner‘ erschien die Natur draußen, außerhalb der zivilisierten Gegenden. Das ‚gute Leben auf dem Land‘ kontrastierte mit den miserablen Verhältnissen in den Städten. Mit ihren verklärten Blicken übersahen die Städter bereitwillig die Mühseligkeiten des Landlebens; man war zu Gast in der Natur und erging sich in ihr. Die Natur war zur Zeit der Romantik vielfach von Mangel gekennzeichnet; mit ihm ist die besondere Vielfalt von Pflanzen und Tieren ursächlich verbunden, wie Befunde der wissenschaftlichen Ökologie zeigen und wie Josef H. Reichholf, emeritierter Evolutionsbiologie an beiden Münchner Universitäten, in seinem Auftaktreferat überzeugend dargelegt hat:6 „Mangels Kapital und Energie konnte die Landbevölkerung die Naturnutzung nicht weiter intensivieren.“ Die Landschaft blieb kleinteilig und reich strukturiert, weil die Mittel für die Vereinheitlichung, für die Massenproduktion fehlten. Die strukturelle Vielfalt der Landschaft sei damals, in der Romantik, also das Resultat eines doppelten Mangels gewesen.
Verglichen damit könne die Natur in Mitteleuropa heute als die Umkehrung jener Verhältnisse bezeichnet werden. Die Böden sind überdüngt, die erzielten Ernten sind unvorstellbar viel höher als seinerzeit, in der guten alten Zeit. „Mit der Folge, dass die auf Mangel eingestellten Organismen selten wurden oder verschwunden sind, weil sie von einigen wenigen verdrängt werden, die mit der Überfülle bestens zurechtkommen. Infolgedessen hat sich ein anderer Mangel breitgemacht, der Mangel an bunten Blumen auf den Fluren, an Schmetterlingen, die darüber im Sonnenlicht von Blüte zu Blüte gaukeln“. Reichholf: „Die maschinengerechte Umgestaltung der Fluren vernichtete die einstige Schönheit der Landschaften durch Vereinheitlichung.“ Aber nicht nur diese Veränderungen in der realen Natur nahm Reichholf in seinen Blick; unsere Vorstellungen von der Natur hinken, so Reichholf, den tatsächlichen Gegebenheiten hinterher, sie sind nach wie vor geprägt von den Bildern der ‚schönen‘ Natur, die wir in unserer Kindheit wahrgenommen haben. ← 11 | 12 →
3.
Natur im Blick, so lautete der Titel der Tagung. Die Herausgeber haben sich für diese metaphorische Formulierung entschieden, um die Offenheit, die Vieldeutigkeit des Themas zu suggerieren. Wie nämlich die Natur in den Blick geraten kann, wie sie in den Blick genommen wird, ist sehr unterschiedlich. Goethe, beispielsweise, war in seiner Jugend von magischen Naturvorstellungen beeinflusst; erst in Weimar findet er einen realistischen Zugang zur Natur. Im Alter schließlich sieht er sich selbst als Teil einer lebendigen Natur, die er zunehmend symbolisch deutet; nicht zuletzt zeugt Goethes Farbenlehre davon, wie Margrit Wyder, Präsidentin der Goethe-Gesellschaft Schweiz, in einem profunden Beitrag zeigt. Weniger die Entwicklung innerhalb eines Lebens als vielmehr die Differenz zwischen zwei Naturmodellen steht im Mittelpunkt der Beiträge von Jutta Linder und Heike Spies. Was zu den hervorstechendsten Merkmalen Drostescher Gedichte gehört, die Darstellung des Schaurigen nämlich, findet zwar eine Entsprechung in der Lyrik Goethes, namentlich in der des jungen Dichters. Bei genauerer Beschreibung treten die Divergenzen in der Behandlung des Phänomens hervor, die sich ihrerseits auf Unterschiede im Bereich des Religiösen zurückführen lassen, so Jutta Linder, Germanistin an der Universität Messina. Erweist sich bei Droste-Hülshoff das Walten naturmagischer Kräfte als letztlich verankert im göttlichen Willen, so bleibt bei Goethe das Numinose strikt in den Grenzen des Weltimmanenten. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Heike Spies, stellvertretende Leiterin des Goethe-Museums Düsseldorf, da sie das Motiv des Mondes in der Lyrik der Droste-Hülshoff sowie des alten Goethe vergleicht. Der Mond wird zum entfernten Dialogpartner, er ist kosmische Projektionsfläche für Imaginationen. Anders die Interpretation, die Franz Schwarzbauer, Leiter des Kulturamts der Stadt Ravensburg, für das Goethe-Gedicht Dämmrung senkte sich von oben […] vorschlägt. Dabei macht er den außergewöhnlichen Ort, an dem das Gedicht nachweislich entstanden ist, zum Ausgangspunkt seiner neuen Lesart. Eine andere Voraussetzung hierfür erkennt der Autor in der dramatischen Erosion der traditionellen Trauerformen, die wir in unseren Tagen erleben; vor diesem Hintergrund erst gelinge es, einen neuen Zugang zu dem berühmten Naturgedicht zu gewinnen und es als Trauergedicht zu lesen.
Wer das Stichwort Natur hört, denkt beim Werk der Annette von Droste-Hülshoff sogleich an den Zyklus der Haidebilder, der während ihres ersten Aufenthalts in Meersburg, zwischen dem Herbst 1841 und dem Sommer 1842, entstanden ist. Winfried Woesler, Herausgeber der historisch-kritischen Droste-Ausgabe, hat sich daraus das Gedicht Die Vogelhütte vorgenommen, in dem die Entfremdung zwischen Mensch und Natur, zwischen Schlossgesellschaft und Wildnis thematisiert ist. Die Interpretation versucht, die Naturauffassung der Droste, wie sie in dem Gedicht gestaltet ist, darzulegen und dessen ← 12 | 13 → poetische Technik zu analysieren. Jürgen Klein, Anglist an den Universitäten Siegen und Greifswald, interessiert sich in seinem Beitrag, in dem das Epos Das Hospiz auf dem Grossen St. Bernhard im Zentrum steht, für die dichterische Gestaltung der negativen Naturgewalten. Denn Annette von Droste- Hülshoff beschäftigte sich nicht nur mit den hellen und produktiven Seiten, sondern auch mit den Nachtseiten der Natur. Die Betrachtung des Epos führt zu einem Vergleich mit der Ästhetik der Kälte, wie sie in der englischen Romantik Ausdruck gefunden hat. Die Dichtung der Droste wie die Byrons oszilliere zwischen Materialität, negativer Ontologie und skeptischem Menschenbild und belasse der Natur die Schrecken der Erhabenheit.
Als weiterer prominenter Vertreter der Naturlyrik gilt bis heute Nikolaus Lenau. Seine Gedichte zeichnen sich, so heißt es allgemein, durch Musikalität, Trauer, Melancholie und Weltschmerz aus. Als besonders überzeugendes Beispiel werden die 1831 entstandenen Schilflieder genannt; doch ist gerade an ihnen eine Krise abzulesen, deren Wurzeln in den politischen und ökonomischen Entwicklungen der Restaurationszeit liegen. Eine Revision der gängigen Bilder des mit der Natur versöhnten Lyrikers Lenau sei daher dringend geboten, so Gunter Reiß, der Literaturwissenschaft an der Universität Münster gelehrt hat. Zur Revision gängiger Vorstellungen lädt auch der Beitrag von Hartmut Laufhütte ein, der zuletzt als Germanist an der Universität Passau gewirkt hat. Es sei auffällig, dass die Protagonisten in zahlreichen Texten der Annette von Droste-Hülshoff die Naturphänomene nicht so wahrnehmen und erleben, wie sie es als Figuren sollten, sondern eher wie das kollektive Gedächtnis, an dem sie teilhaben; Laufhütte spricht in diesem Zusammenhang, mit Blick auf die Erzählperspektive, von ‚präformierter Naturwahrnehmung‘ als zentralem Motiv in den Gedichten und Erzähltexten der Droste. Diese Erzähltechnik ordne das Werk der Droste eher dem Realismus als dem ‚Biedermeier‘ zu. Einem scheinbar flüchtigen Gegenstand hat sich Thomas Traupmann, Masterstudent der Deutschen Literatur an der Universität Salzburg, zugewandt, dem Nebel, der in Drostes Texten immer wieder als ein Moment der Störung auftritt, das die Wahrnehmung irritiert. Allerdings verbleibt der Nebel nicht in diesem parasitären Status, sondern erfährt in der Folge eine mediale Funktionalisierung. Ein Blick auf die Medienpraxis der Droste-Zeit rundet das Bild ab und legt auffällige Analogien zur damals gängigen Präsentationstechnik offen.
So vielfältig und vielgestaltig die ‚Natur‘ hier erscheint, so unterschiedlich sind die Blicke auf die Natur, so verschieden sind die methodischen Zugänge zu den Texten: von relativ immanenten Interpretationen bis zu anderen, die Umwege suchen über poetologische Äußerungen, und zu solchen, die glauben, aus den Entstehungsbedingungen erst den richtigen Blick erschließen zu können. Diese Vielfalt im Zugriff spiegelt sich im Begriff der Natur, der dabei Anwendung findet; manchmal ist es ein vor-wissenschaftliches Verständnis, manchmal wird ein dezidiert historischer Begriff gebraucht. Entsprechend ← 13 | 14 → vielseitig sind die Ergebnisse; gelegentlich passt der Befund in das bekannte Forschungsnarrativ, gelegentlich ergänzt er dieses, und manchmal werden ungewöhnliche Akzente gesetzt. Kein Wunder, die Vielseitigkeit der Ergebnisse wiederholt die Unterschiedlichkeit der methodischen Ansätze.
4.
Als eine Art Anhang ist dem Tagungsband die Laudatio angefügt, die Winfried Woesler anlässlich der Verleihung des Meersburger Droste-Preises im Mai 2012 auf Helga M. Novak gehalten hat: … bin verloren ohne Wald. Wie kaum eine andere Autorin der Gegenwart hat sie die Natur wieder zum Gegenstand der Literatur, der Lyrik gemacht. In vielen ihrer Texte zeigt sich nachgerade eine Hochschätzung des Waldes, ja, eine Ehrfurcht. Nach dem Verlust ihres kommunistischen Ideals des menschlichen Zusammenlebens, der Utopie vom Sozialismus mit menschlichem Angesicht, zog sich Helga M. Novak für Jahrzehnte in die polnischen Wälder zurück. Für sie „ist dieser Wald ein Ort der Sehnsucht, des Geheimnisses und der Gewalt“. Diese tiefe Sehnsucht wurzelt in ihrer Kindheit. Als sie 1998 interviewt wurde, was ihr noch zu tun bleibe, antwortete Nowak: „Meinen Garten in Ordnung bringen.“7
Dieser Satz knüpft programmatisch an den berühmten Schluss von Voltaires Roman an, da sein Held, der heimgekehrte Weltenbummler Candide sagt, ab jetzt wolle er seinen Garten pflegen – nachdem ihm sein Begleiter Pangloß dargelegt hat, wie in dieser ‚besten aller möglichen Welten‘ doch alles mit allem zusammenhängt, wie noch das willkürlichste Unglück sich als die Ursache des Glücks herausstellt. Candides Garten sei, hat der Romanist Hugo Friedrich betont, „so etwas wie der lebensphilosophische Schrebergarten des Bürgers, dem das Märchen von einer vollkommenen Welt ebenso gleichgültig geworden ist wie das andere von ihrer totalen Untauglichkeit“.8 Man kann daher Candides Wertschätzung des Gartens als Absage an das unablässige Reden verstehen, das sich in allgemeinen Aussagen gefällt, ob über die ‚beste aller möglichen Welten‘ oder, wie heutzutage, über die Natur. In dieser Absage hätte Helga M. Novak vermutlich Voltaires Helden zugestimmt. Und ihre eigene Antwort? Sicherlich, ähnlich, die Hinwendung zum pragmatischen Handeln; noch in einzelnen Gedichten schimmert dies durch. ← 14 | 15 →
Gastmahl
Details
- Seiten
- 272
- Erscheinungsjahr
- 2017
- ISBN (PDF)
- 9783034329569
- ISBN (ePUB)
- 9783034329576
- ISBN (MOBI)
- 9783034329583
- ISBN (Paperback)
- 9783034329590
- DOI
- 10.3726/b11159
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2017 (August)
- Schlagworte
- Annette von Droste-Hülshoff Goethe 18. Jahrhundert Literaturgeschichte
- Erschienen
- Bern, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 262 S., 3 s/w Abb., 14 farb. Abb.