Literaturwissenschaftliche Aufbaujahre
Beiträge zur Gründung und Formation der Literaturwissenschaft am Germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum – ein germanistikgeschichtliches Forschungsprojekt
Summary
Excerpt
Table Of Contents
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhalt
- Einleitung
- I. Personen
- Ingrid Strohschneider-Kohrs
- Hans Joachim Schrimpf
- Klaus Günther Just
- Paul Gerhard Klussmann
- Marianne Kesting – »Kompa« – wie? Ein Fach mit mehreren Namen
- Uwe-K. Ketelsen – sozialgeschichtliche Betrachtungsweise
- Harro Müller-Michaels – Literaturdidaktik
- Gerhard Plumpe – Systemtheorie der Literatur
- II. Institutionen
- IA 5–88 – Basisgruppe Germanistik
- Die Almanach- und Taschenbuchsammlung im Archiv des Bochumer Germanistischen Instituts*
- Zur Entstehung, Programmatik und wissenschaftsgeschichtlichen Stellung der Bochumer Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft. Eine Skizze aus neugermanistischer Sicht*
- BdSL – Bochumer Schriften zur deutschen Literatur
- Neugermanistische Theateraufführungen im Musischen Zentrum
- Die Theatersammlung Kurt Dörnemann
- Die Literarische Gesellschaft Bochum
- III. Aufsätze
- Zur Poetik der deutschen Romantik II: Die Romantische Ironie
- Der Schriftsteller als öffentliche Person. Zur Krise der Wertmaßstäbe
- Das deutsche Opernlibretto
- Wissenschaft und Kunst der Interpretation
- Poesie und bürgerlicher Kulturanspruch. Die Kritik an der rhetorischen Gelegenheitspoesie in der frühbürgerlichen Literaturdiskussion
- Literarische Anthropologie in didaktischer Absicht. Begründung der Denkbilder aus Elementarerfahrungen
- Systemtheorie und Literaturgeschichte. Mit Anmerkungen zum deutschen Realismus im 19. Jahrhundert
- Über die Autorinnen und Autoren
- Namensregister
Carsten Zelle (Hrsg.)
Literaturwissenschaftliche
Aufbaujahre
Beiträge zur Gründung und Formation
der Literaturwissenschaft am Germanistischen
Institut der Ruhr-Universität Bochum –
ein germanistikgeschichtliches Forschungsprojekt
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Gefördert mit Mittel des Germanistischen Instituts der Ruhr-Universität Bochum.
Umschlagabbildung: Bochumer neugermanistisches ›Gründungsquartett‹ (Hans Joachim Schrimpf, Ingrid Strohschneider-Kohrs, Klaus-Günther Just, Paul Gerhard Klussmann; Quelle der Fotos: Universitätsarchiv Bochum, Portraitsammlung).
ISSN 0177-686X
ISBN 978-3-631-68109-1 (Print)
E-ISBN 978-3-631-69666-8 (E-PDF)
E-ISBN 978-3-631-69667-5 (EPUB)
E-ISBN 978-3-631-69668-2 (MOBI)
DOI 10.3726/978-3-631-69666-8
© Peter Lang GmbH
Internationaler Verlag der Wissenschaften
Frankfurt am Main 2016
Alle Rechte vorbehalten.
Peter Lang Edition ist ein Imprint der Peter Lang GmbH.
Peter Lang – Frankfurt am Main · Bern · Bruxelles · New York · Oxford · Warszawa · Wien
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Diese Publikation wurde begutachtet.
Über das Buch
Der Band ist ein Beitrag zur Germanistikgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Er rekonstruiert die Gründung und Formation der Literaturwissenschaft am Germanistischen Institut der 1965 eröffneten Ruhr-Universität Bochum. Vorgestellt werden die ›Gründungsprofessoren‹ Ingrid Strohschneider-Kohrs – erste germanistische Lehrstuhlinhaberin der BRD –, Hans Joachim Schrimpf, Klaus Günther Just und Paul Gerhard Klussmann. Weitere Beiträge gelten der Bochumer Neugermanistik in der Studentenbewegung, ihrem Ausbau bis Mitte der 80er Jahre mit Komparatistik, Literaturdidaktik und Sozialgeschichte sowie prägenden Sammlungen und Institutionen. Verzeichnisse der Schriften, Lehrveranstaltungen und Doktoranden sowie maßstabsetzende Aufsätze der frühen Bochumer Neugermanisten werden dokumentiert.
Zitierfähigkeit des eBooks
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Inhalt
Jaana Jaber und Milena Neugebauer
Simon Dapprich und Denise Schneider
Sonja Gerschkowitsch und Sandra Schneebeck
Marianne Kesting – »Kompa« – wie? Ein Fach mit mehreren Namen
Uwe-K. Ketelsen – sozialgeschichtliche Betrachtungsweise
Harro Müller-Michaels – Literaturdidaktik
Gerhard Plumpe – Systemtheorie der Literatur
IA 5–88 – Basisgruppe Germanistik
Die Almanach- und Taschenbuchsammlung im Archiv des Bochumer Germanistischen Instituts
Zur Entstehung, Programmatik und wissenschaftsgeschichtlichen Stellung der Bochumer Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft. Eine Skizze aus neugermanistischer Sicht←5 | 6→
BdSL – Bochumer Schriften zur deutschen Literatur
Neugermanistische Theateraufführungen im Musischen Zentrum
Die Theatersammlung Kurt Dörnemann
Die Literarische Gesellschaft Bochum
Zur Poetik der deutschen Romantik II: Die Romantische Ironie
Der Schriftsteller als öffentliche Person. Zur Krise der Wertmaßstäbe
Wissenschaft und Kunst der Interpretation
Poesie und bürgerlicher Kulturanspruch. Die Kritik an der rhetorischen Gelegenheitspoesie in der frühbürgerlichen Literaturdiskussion
Literarische Anthropologie in didaktischer Absicht. Begründung der Denkbilder aus Elementarerfahrungen
Systemtheorie und Literaturgeschichte. Mit Anmerkungen zum deutschen Realismus im 19. Jahrhundert
Über die Autorinnen und Autoren
Namensregister←6 | 7→
»Riesige Baumaschinen überziehen Bochum-Querenburg. Endlos schleppen Lastwagen vorfabrizierte Teile heran, Kräne durchwachsen das Baugelände, die halbfertigen Hochbauten stehen hilflos da, nackter Beton, aufsaugfähig für Parolen. Transparente hängen an den bereits fertiggestellten Gebäuden […]«.1
Eines dieser ›bereits fertiggestellten Gebäude‹, die die Szene aus Urs Jaeggis Roman Brandeis imaginiert, war das Gebäude IA. Darin war das Germanistische Institut der Ruhr-Universität seit Eröffnung des Vorlesungsbetriebs in den geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächern am 2. November 1965 bis Ende des WS 1970/71 untergebracht, bevor es zum SS 1971 in einen der in der Zwischenzeit noch ›halbfertigen Hochbauten‹ umzog.2 Das schadstoffverseuchte Gebäude IA ist mittlerweile schon wieder abgerissen worden, die Germanistik ist immer noch im Gebäude GB, das der Sanierung entgegensieht, untergebracht. ›Parolen‹ und ›Transparente‹ der Studentenbewegung, die der Roman aus der Perspektive eines Bochumer Soziologieprofessors für den Zeitraum zwischen dem Attentat auf Rudi Dutschke, dem Einmarsch der Sowjets in Prag und der Landung von Apollo 11 auf dem Mond durcharbeitet, sind längst abgehängt – die Studenten, d. h. die ›Studis‹3 hecheln Kreditpunkten hinterher, die Fachschaften organisieren Partys und die ›Profs‹ schreiben Drittmittelanträge…←7 | 8→
Aufbaujahre – Erstberufungen und Gründung der Bochumer Neugermanistik in Münster
Die Anfänge des Germanistischen Instituts führen an idyllischere Orte zurück, genauer: nach Freiburg im Breisgau, wo Siegfried Grosse (1924–2016) und Werner Besch (*1928) die altgermanistische Abteilung4, und nach Münster, wo Hans Joachim Schrimpf (1927–2003) und Klaus Günther Just (1923–1977) die neugermanistische Abteilung der Germanisten-Bibliothek aufzubauen begannen, bevor der Lehrbetrieb an der zuvor feierlich eröffneten Ruhr-Universität am 2. November 1965 endlich aufgenommen werden konnte, da die ersten beiden Hochbauten erst ab 30. Juni 1965 bezugsfertig waren.5
Abb. 1 Hochherz-Haus, Münster, erste Hälfte der 60er Jahre (s. Anm. 8)
Die beiden Anfang 1964 ernannten Professoren begannen unverzüglich mit dem Instituts-, d. h. angesichts der noch fehlenden Studenten vor allem mit dem Bibliotheksaufbau und mieteten daher an ihrem Heimatort Münster Diensträume an, kümmerten sich um fehlende Telefonanschlüsse und drängten auf die Einstellung einer Bibliothekarin. Ingrid Strohschneider-Kohrs (1922–2014), die als erste von den drei neugermanistischen Lehrstühlen bereits am 13. Januar 1964 ernannt worden war6, mußte dagegen aufgrund anderer örtlicher Umstände zunächst noch an ihrer ehemaligen Einrichtung ausharren – ein Schicksal, das sie wie viele der zur Gründungszeit im wahrsten Sinn des Wortes noch ›unbehausten‹ Bochumer Neuberufungen teilte.7 Da Schrimpf zwischen August 1964 und Mai 1965 zu einem Forschungsaufenthalt an der University of Minnesota, Minneapolis, in den USA weilte, muß die Hauptarbeit (einschließlich der Anmietung weiterer Diensträume im Laufe des Jahres 1964) vor allem auf den Schultern von Just und Manfred Schunicht (1929–2011), der zwischenzeitlich als Studienrat im Hochschuldienst eingestellt worden war, gelegen haben. Die Aktenlage, daß das Germanistische Institut der Ruhr Universität Bochum seine Adresse in Münster, Rothenburg 2, hatte, deckt sich mit persönlichen Erinnerungen. Dort hatte man in dem im Krieg zerstörten, 1959/60 repräsentativ wieder aufgebauten Hochherz-Haus auf der Ecke Prinzipalmarkt/Ludgeristraße/Rothenburg zwei auf einem der Stockwerke gegenüberliegende Arztpraxen (Abb. 1)8 für den Aufbau←9 | 10→ der anfangs von Charlotte von Livonius betreuten Bibliothek angemietet, von wo Just seine »legendären Antiquariatsreisen« unternommen habe. Im Sommer 1965 muß das Münsteraner Provisorium zu Ende gegangen sein – ab September 1965 adressierte die Uni-Verwaltung ihre Post an das IA-Gebäude auf dem Bochumer Campus, wo Gründungsprofessoren im Matsch der Großbaustelle zur ›Gummistiefelgeneration‹ wurden – ein Mythologem, das in den Rückblicken auf die Gründungsgeschichte der RUB stets gerne zitiert wird.
Am 18. Juli 1961 hatte der nordrheinwestfälische Landtag unter dem Ministerpräsidenten Franz Meyers (1908–2002) die Gründung einer neuen Universität beschlossen und als Standort Bochum bestimmt. Als eine der ersten Neugründungen der Bundesrepublik sollte in Bochum eine Hochschule neuen Typs entstehen, der für eine »auf Zusammenarbeit drängende Forschung« die eine »allseitige Verflechtung der wissenschaftlichen Disziplinen« die institutionellen Voraussetzungen schaffen sollte. Den »festgefügte[n] Strukturen« der bestehenden Altuniversitäten wollte man durch die Abschaffung der hergebrachten Fakultätsgliederung zugunsten einer Ordnung in Abteilungen entgegenwirken. »Verflechtung der Disziplinen« und notwendige »Querverbindungen« standen als Prinzip der Neugründung an erster Stelle. Dieser von dem im September 1961 eingesetzten Gründungsausschuß in einer Denkschrift zum Aufbau der Universität herausgestellte Grundsatz sollte in der »einheitlichen räumlichen Gestaltung«, in der die Fachkulturen der Ingenieur-, Natur-, Geistes- und Gesellschaftswissenschaften sowie der Medizin baulich in den »engsten Konnex« gebracht wurden, seinen Ausdruck finden.9 Der Campus war gebaute Interdisziplinarität – seine Randlage im Süden Bochums schnürte ihn freilich zugleich von der Stadt ab.
Die Formel von der »Universität neuen Typs«, in der gemäß den Empfehlungen des Wissenschaftsrats zur »Überwindung des wissenschaftlichen Spezialistentums« die technisch-wissenschaftlichen Disziplinen mit den übrigen Universitätsfächern »sozusagen unter einem Dach« zusammengeführt werden sollten, findet sich in den Protokollen des Gründungsausschusses gleich in seiner ersten Sitzung vom 15. September 1961. Um den »Brückenschlag« zur »Fächerverzahnung« strukturell zu konkretisieren, wurde die AG »Interfakultative Verflechtung« eingerichtet. Ihr gehörte u. a. der Münsteraner Philosoph Joachim Ritter (1903–1974) an, der in den Jahren 1962/63 Rektor seiner Universität war.10 Die AG legte im Dezember 1961 ihren Bericht vor, in dem die angestrebte Interdisziplinarität nicht←10 | 11→ nur auf die Forschung gemünzt ist, sondern auch von einer »Durchdringung der Lehrgebiete« die Rede ist, z. B. durch »Herstellung der Beziehung von Medizin und Geisteswissenschaften«.11 Die Abteilungsstruktur erschien dabei als das geeignete Instrument, »Hemmungen« der alten Fakultätengliederung zu beseitigen.
Tatsächlich haben sich die Abteilungen, die sich im Laufe der 80er Jahre ohnehin zu ›Fakultäten‹ rücktauften, bei der Herstellung der gewünschten Interdisziplinarität, wie der 1972/73 als Rektor der RUB fungierende Bochumer Altgermanist der ersten Stunde, Siegfried Grosse, rückblickend resümierte, »nicht bewährt«. Die Fakultätsgrenzen seien »genauso hermetisch abgeschlossen« geblieben wie an den alten Universitäten.12 Innerhalb der Fakultät für Philologie dominierten die disziplinär vermauerten Institute bzw. Seminare, so daß fachübergreifend angelegte Aktivitäten nicht nur in den Gründerjahren, z. B. im Blick auf die Erkundung von »Möglichkeiten interdisziplinären Arbeitens speziell im Bereich der literaturwissenschaftlichen Studien- und Lehrgebiete«13, sondern auch später in den 90er Jahren, als sektorale ›Querstrukturen‹ die philologisch bestimmten Institutsgrenzen öffnen und überschreiten sollten, versickerten und bald wieder einschliefen.
Auch in der AG Geisteswissenschaften war Ritter neben dem Vorsitzenden des Gründungsausschusses, dem Hamburger Erziehungswissenschaftler Hans Wenke (1903–1971)14, dem Bonner Historiker Max Braubach (1899–1975) und dem Heidelberger Historiker Werner Conze (1910–1986), vertreten. Fragen der Organisation und Ausstattung der Philologie sind im Gründungsausschuß, in dem Philologen freilich nicht vertreten waren, offenbar im Unterschied z. B. zur Philosophie unstrittig gewesen. Ritter etwa problematisierte immer wieder die Planungen zu Philosophie und Wissenschaftsgeschichte und beharrte auf der institutionellen Eigenständigkeit der Philosophie (statt einer Einbindung der←11 | 12→ Rechts- bzw. Sozialphilosophie in die rechts- bzw. gesellschaftswissenschaftlichen Abteilungen). Er spielte auch eine entscheidende Rolle bei der Einbeziehung der Theologie in das Fächerspektrum und bei der Entscheidung für den Aufbau eines zweigleisigen Bibliothekssystems. Mit seinen Vorstellungen zur Verselbständigung einer starken, mit vier Lehrstühlen ausgestatteten Wissenschaftsgeschichte innerhalb der Abteilung für Philosophie, Pädagogik und Psychologie15 konnte er sich dagegen offenbar nicht durchsetzen.
Der Empfehlung des Gründungsausschusses, daß von »den germanistischen Lehrstühlen […] zwei dem Mittelalter und drei der Neuzeit vorbehalten sein [sollten]«16, gingen mehrmonatige Diskussionen über die interne Gliederung und Ausstattung der Abteilungen voraus. In einem 7seitigen maschinenschriftlichen Papier der »Arbeitsgruppe Philosophische Fakultät, Düsseldorf, den 26. Febr. 1962«, wurde dem Gründungsausschuß vorgeschlagen, die Struktur der Fakultät in drei Gruppen aufzugliedern, und zwar (1) Philosophie mit den ihr engverbundenen Fächern Pädagogik und Psychologie, (2) historische Disziplinen und (3) philologische Fächer. Für sie wurden 21 Lehrstühle vorgesehen, davon 4 für Germanistik, wobei es folgende Aufteilung geben sollte: »Die germanistischen Lehrstühle sind zu je 2 auf Mittelalter und Neuzeit aufzuteilen.« In einem offenbar zur Vorlage im Gründungsausschuß angefertigten, 13seitigen, hektographierten Papier der »Arbeitsgruppe Philosophische Fakultät, im März 1962« wurde dieser Vorschlag bestätigt.
Es verdankt sich einer Intervention des Ministerialdirektors Dr. Friedrich Schneider auf der 6. Sitzung des Gründungsausschusses, 6.–8. März 1962, daß die Zahl der germanistischen Lehrstühle zugunsten der Neugermanistik aufgestockt wurde. Schneider (1913–1981), der von 1958 bis 1966 der erste Generalsekretär des Ende 1957 neu gegründeten Wissenschaftsrates war und dem Gründungsausschuß angehörte, hielt, notiert das Protokoll der Sitzung, »4 germanistische Lehrstühle nicht für ausreichend, da für ältere Germanistik mindestens 2 und für neuere mindestens 3 erforderlich seien, insbesondere, wenn auch die neueste deutsche Literaturgeschichte stärker berücksichtigt werden sollte.« Auf der 7. Sitzung, 2. April 1962, kam es zur »Bestätigung des Vorschlags statt 4 5 Lehrstühle für Germanistik vorzusehen«. Dieser Vorschlag fand dann Eingang in die gedruckte Denkschrift.
Der 17köpfige Gründungsausschuß fungierte in der Anfangsphase zugleich als Berufungskommission, die die Verfahren »unkonventionell«, »pragmatisch«,←12 | 13→ »informell« und »unbürokratisch« handhabten und auf die nicht zuletzt der damalige nordrheinwestfälische Kultusminister Paul Mikat (1924–2011) »großen Einfluß« nahm.17 Glaubt man den Erinnerungen der damals Beteiligten, ging es dabei recht gutsherrenartig zu: »Oft bat der Kultusminister nach den Sitzungen [des Gründungsausschusses] die Professoren Wenke, Peters oder Ritter in sein Zimmer, wo er ihnen eröffnete, an welchen Wissenschaftlern er unbedingt interessiert war. Die Mitglieder des Gründungsausschusses mussten dann ihrerseits sehen, wie sie die von Mikat favorisierten Gelehrten auf die Berufungsliste setzen konnten.«18
Die Arbeit der vom Gründungsausschuß eingesetzten Berufungskommissionen für die einzelnen Abteilungen ist aufgrund der Aktenlage im Einzelnen nicht rekonstruierbar. Auf der 6. Sitzung war eine Liste mit Lehrstuhlinhabern, die die bestehenden Arbeitsgruppen des Gründungsausschusse zu Berufungskommissionen im Hinblick auf die ersten Berufungen der Universität Bochum ergänzen sollten, zur Kenntnis gegeben worden. Die genannte Anlage mit der Liste ist jedoch offenbar nicht überliefert. Auf der 7. Sitzung wurden die Vorsitzenden der einzelnen Berufungskommissionen benannt. Die Kommission für Philosophie, Geschichte, Philologie wurde vom Vorsitzenden Wenke selbst übernommen. In der 12. Sitzung am 3. Dez. 1962 nimmt Kultusminister Mikat »außerhalb der Tagesordnung« zu den bisher vorgelegten Berufungslisten Stellung. Danach ist der TOP »Berufungsvorschläge« (ab 13. Sitzung des GA, 4. Febr. 1963) turnusgemäß Gegenstand der Sitzungen, später wird auch der »Bericht über den Stand der Berufungen« zum regelmäßigen TOP.
Die beiden Listen »Neuere deutsche Literaturgeschichte I« und »Neuere deutsche Literaturgeschichte II« wurden auf der 18. Sitzung des GA am 29. Juli 1963 unter TOP 4, »Berufungsvorschläge« behandelt. Referent war der Kölner Jurist Hans Peters (1896–1966), der auf der 16. Sitzung des GA, 6. Mai 1963, unter TOP 5, »Berufungsvorschläge« als Referent für »Literaturgeschichte« bestimmt worden war. Der Ausschuß stimmte der ersten Liste zu. Der zweiten Liste stimmte der Ausschuß »mit der Maßgabe zu, daß der Vorsitzende ermächtigt wird, die Liste anhand der Unterlagen zu vervollständigen, wenn sich ergibt, daß die Form der ›Zweierliste‹ lediglich auf einem technischen Fehler beruht.«←13 | 14→
Die beiden verabschiedeten Berufungsvorschläge entsprechen den beiden Listen, die mit der Unterschrift des GA-Vorsitzenden Wenke am 31. Juli 1963 nach Düsseldorf an das Kultusministerium gingen. Auf der »Vorschlagsliste für die Besetzung eines neugermanistischen Lehrstuhls« waren Fritz Martini auf Platz 1, Ingrid Strohschneider-Kohrs auf Platz 2 und Günther Just auf Platz 3 gesetzt worden.19 Auf der »Vorschlagsliste für die Besetzung eines zweiten neugermanistischen Lehrstuhls« standen Hans Joachim Schrimpf auf Platz 1 und wiederum Ingrid Strohschneider-Kohrs auf Platz 2.20 Um einen 3. Platz war die zweite Liste nicht vervollständigt worden.
Das baden-württembergische Kultusministerium machte jedoch Ende August seine »Bedenken gegen die Berufung« von Martini (1909–1991)21, der 1943 an die TH Stuttgart berufen worden war, geltend, weil der inzwischen zum Inhaber des dortigen Lehrstuhls für Literaturwissenschaft und Ästhetik Arrivierte im Rahmen von Bleibeverhandlungen im Herbst zuvor hinsichtlich Gehalt und Ausstattung erheblich bessergestellt worden war. Im Ergebnis wurden Schrimpf, Strohschneider-Kohrs und – nachdem der Minister die Weisung gegeben hatte, von der ersten Liste »auch Nr. 3 zu berufen«22 – Just nach Bochum geholt. Der Grund, daß drei Professuren auf der Grundlage von nur zwei Listen besetzt wurden, wird in dem Bestreben zu suchen sein, daß der Minister auf schnelle Entscheidungen bei der Berufungen drängte, um den Lehrbetrieb in den ›Bücherwissenschaften‹, die man am schnellsten glaubte aufbauen zu können, spätestens 1965 eröffnen zu können.23 Daher mahnte Mikat im November 1963 bei den←14 | 15→ Mitgliedern des GA nochmals an, bei der Berufung nur solche Persönlichkeiten vorzuschlagen, für deren Zusagen eine reale Möglichkeit bestehe. Zwei Monate später, am 6. Jan. 1964, wiederholte er, nachdem er die Schwierigkeiten, Ordinarien für die geisteswissenschaftlichen Fächer in Bochum gewinnen zu können, an einem Einzelfall demonstriert hatte, daß nur solche Personen in Betracht gezogen werden dürften, die die grundsätzliche Bejahung der Bochumer Konzeption erwarten ließen. Ordinarien aus NRW drohte er an, daß sie bei Ablehnung Bochumer Rufe bei Bleibeverhandlungen an ihren nordrheinwestfälischen Heimatuniversitäten nicht mit einer Verbesserung ihrer Besoldung rechnen könnten.
Der Zeitdruck, unter dem das Ministerium stand, wird auch die Skepsis im Hinblick auf die Gewinnbarkeit von Schrimpf, der 1962 a.o. Professor in Münster geworden war, zerstreut haben, zumal in der 19. Gründungsausschußsitzung der erste Professor, der einen Ruf nach Bochum angenommen hatte und dadurch im Mai 1963 automatisch Mitglied des Ausschusses geworden war, der aus Münster stammende Anglist Ulrich Suerbaum (*1926), nachdrücklich darauf hingewiesen hatte, »daß der für einen neugermanistischen Lehrstuhl an erster Stelle benannte Professor Schrimpf, Münster, sich an den Plänen zum Aufbau der Universität Bochum sehr interessiert zeige, und folglich voraussichtlich zu gewinnen sein werde.«24 Diese Botschaft wurde verstanden. Der protokollführende Ministerialbeamte, Eberhard Firnhaber (*1927), späterer ›Gründungskanzler‹ der Universität Bielefeld, vermerkt noch am gleichen Tag auf dem Berufungsvorgang, auf dem die am 9. August notierte Frage an den Minister, ob der Ruf »an Nr. 1 ergehen« solle, noch offen geblieben war, das Signal aus dem Gründungsausschuß: »Die Berufung Prof. Schrimpf’s, der an Bochum sehr interessiert ist, wird dringend empfohlen. Die hiesigen Bedenken werden zurückgestellt, zumal es sich in Münster um einen außerordentlichen Lehrstuhl handelt. Fh.«25
Mit Hans Joachim Schrimpf, Klaus Günther Just und Paul Gerhard Klussmann, der 1971 als vierter Neugermanist nach Bochum berufen werden sollte, kamen Münsteraner Bewerber zum Zuge.26 Schrimpf und Klussmann waren Schüler von Benno von Wiese und bildeten seit den frühen 50er Jahren ein enges, freundschaftlich, aber auch akademisch verbundenes Netzwerk, das sich im Umfeld der Oberseminare von Ritter und von Wiese gebildet hatte. Just wiederum, der←15 | 16→ in Würzburg über George promoviert worden war, will Klussmann nach Münster geholt haben.27 Auch Ingrid Strohschneider-Kohrs ist mit diesem Kontext zumindest in Kontakt gekommen. Nach der mutigen Aufkündigung ihrer Hamburger Assistentenstelle bei Hans Pyritz (1905–1958)28 hatte sie in Münster 1951 die Prüfung zum Ersten Staatsexamen für das Lehramt an höheren Schulen in den Fächern Deutsch, Philosophische Propädeutik und Erdkunde nachgeholt und im Winter 1960/61 vertrat sie in Bonn Benno von Wiese, der in diesem Semester von der DFG für die Arbeit am » ›Novellenbuch‹ « freigestellt worden war.29
In seinen Erinnerungen erwähnt von Wiese Strohschneider-Kohrs nur kurz, gibt dagegen ausführliche Einblicke in das Münsteraner intellektuelle Netzwerk und charakterisiert seine damaligen Schüler in durchaus kopfnotenartiger Weise. Er wertet Schrimpfs intellektuelle Position dessen Selbstverständnis entsprechend als »radikalen (nicht konservativen) Liberalismus oder auch als dialektische und kritische Aufklärung«, Klussmann sei »human in der Ausstrahlung« gewesen: »Geborene Pädagogen sind sie beide; über organisatorisches Geschick verfügte besonders Klussmann.«30
Zwischen Ritters Oberseminar, dem legendären ›Collegium Philosophicum‹, und von Wieses Oberseminar bestanden »ständige Querverbindungen […]. Viele Schüler von Ritter waren auch die meinen und umgekehrt.«31 Von den »auffällig«←16 | 17→ vielen Bochumer Professoren, die der Gründungsausschuß aus Münster berief, stammten nicht wenige aus diesem Kreis – von den vier, die Hans Stallmann in seinem Werk über die Aufbaujahre der Ruhr-Universität in diesem Zusammenhang genannt hat – Suerbaum, Vierhaus, Lübbe und Imdahl – allein drei.32 Doch reicht es nicht, als Hintergrund hierfür ausschließlich den » ›Mondkälberkreis‹ « namhaft zu machen33, in dem die Münsteraner Assistenten ihre Ordinarien parodierten, die sich in den fünfziger, sechziger Jahren »ohne Frauen einmal im Monat bei Vollmond [trafen], um ohne Unfälle durch die Bombentrichterlandschaft Münsters zu dem geplanten Vortrag zu gelangen«.34 Vielmehr rekrutierte man in Bochum mit den Mitgliedern aus der Gruppe der ›Mondkälber‹, die – allerdings »mit ihren Frauen« – zeitlich streng parallel zu den Sitzungen ihrer Ordinarien tagten, Vertreter eines hochschulpolitischen Kurses, den Ritter 1961 mit der Formel vorgegeben hatte, daß die Geisteswissenschaften das Organ seien, das die für die moderne Gesellschaft konstitutive Abstraktheit und Geschichtslosigkeit »kompensiert«.35
Neugermanistischerseits bedurfte es zu einer solchen Funktionsausfüllung eben keiner »Werkimmanenz«, in der die Bochumer Germanistenfachschaft Ende der 60er Jahre den Hauptfeind einer linken Politisierung der Wissenschaft glaubte ausgemacht zu haben36, und auch keinen morphologischen, auf gattungstypologische ›Bauformen‹ konzentrierten Ansatz, der in der neugermanistischen Fachgeschichtsschreibung als Beitrag zur »Modernisierung der Literaturforschung« in←17 | 18→ den 50er Jahren genannt worden ist.37 Vielmehr war es gerade das Interesse am »Zusammenhang von Ästhetik und Geschichte«, die von Wieses Kooperation mit Ritter zugrunde lag und die Einsicht in die »Geschichtlichkeit der literarischen Werke«, die er seinen Schülern als Grundüberzeugung mit auf den Weg gab.38 Selbst Vertreter einer von Wiese-kritischen Germanistikgeschichtsschreibung, die im Anschluß an den Deutschen Germanistentag 1966 seine mit wenigen Ausnahmen generationstypische Verknüpfung der eigenen »Karriere mit dem Nationalsozialismus« in den Vordergrund stellen, konzedieren, das von Wiese in den fünfziger und sechziger Jahren nicht nur auflagenstarke Interpretationssammlungen hervorgebracht, sondern die »Öffnung des Fachs« betrieben und »neue, literatursoziologisch orientierte Arbeiten« betreut habe.39 Der von Wiese-Schüler Karl Otto Conrady, der mit seinem Beitrag »Deutsche Literaturwissenschaft und Drittes Reich«40 auf dem Münchener Germanistentag 1966 entscheidend an der Aufdeckung der Kollaboration der Germanistik mit den Nazis beigetragen hat, erinnert sich an seinen Lehrer bei aller Distanznahme daran, daß er ihn in dessen »Münsterschen Zeit als beeindruckenden liberalen Professor« erlebt habe.41
Die spezifisch literaturgeschichtliche, im Blick auf Strohschneider-Kohrs auch stark literaturphilosophisch orientierte Ausrichtung der Gründungsgeneration der Bochumer Neugermanistik, die der Sozialgeschichtsschreibung der Literatur und einer Erweiterung des Literaturbegriffs den Boden bereitete, stand in Konkurrenz und Gegensatz zu der werkbezogenen Richtung einer immanent bleibende poetologische Ansätze des russischen Formalismus aufgreifenden Literaturwissenschaft, die 1967 mit der Gründung der Zeitschrift Poetica an der Abt. f. Philologie eingeschlagen wurde.42 Mit Strohschneider-Kohrs gehörte bis 1975 eine←18 | 19→ Vertreterin der Neugermanistik zwar zum fächerübergreifenden, vierköpfigen Herausgebergremium, jedoch haben die neugermanistischen Fachvertreter in der Zeitschrift signifikanter Weise so gut wie keine Präsenz entfaltet. In einem stark auf die »strukturalen Eigenschaften« poetischer Sprache fixierten Rückblick auf die Literaturwissenschaft an der Bochumer Fakultät für Philologie anlässlich des 25-jährigen Bestehens der RUB wird die Gründergeneration der Bochumer Neugermanistik daher konsequenterweise übergangen.43 Sichtbar wird die Konfliktlinie in dem oben bereits erwähnten Papier zum literaturwissenschaftlichen Studienreformanlauf von 1971, in dem die offenkundigen Verständnisschwierigkeiten innerhalb des literaturwissenschaftlichen Sektors der einzelnen Philologien u. a. auf Mißverständnisse hinsichtlich der Relation der Literaturwissenschaft zur Literaturgeschichte zurückgeführt werden. Der damals »gegenwärtige[n] Disput […] zwischen ›historischer‹ (›historisch idiographischer‹) und ›systematischer Betrachtungsweise‹ « erscheint in dem von Strohschneider-Kohrs gezeichneten Bericht als Neuauflage des früheren »Spannungsfeld[s] von Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft, von Historik und Poetik«, das nun in der Frage nach dem »Zusammenhang oder Gegensatz von Diachronie und Synchronie literarischer Systeme« wiederkehre.44
Wie auch immer: Vor der »Methodendiskussion«45 infolge der Neuausrichtung der Neugermanistik, die mit den Daten des Münchener Germanistentags 1966, dem←19 | 20→ Zürcher Literaturstreit und der Studentenbewegung verbunden wird46, vertraten die neuberufenen Neugermanisten ein literaturgeschichtlich bzw. literaturphilosophisch geprägtes Fachverständnis. Schrimpf hat den neugermanistischen Kanon für Karl Philipp Moritz47 und die literarische Anthropologie des 18. Jahrhunderts geöffnet, Just den Literaturbegriff um seinerzeit als ›trivial‹ geächtete Gegenstände und neugermanistische Grenzbereiche erweitert, Strohschneider-Kohrs hat literaturphilosophische Maßstäbe im Fach geltend gemacht und die Prinzipien der Literaturwissenschaft reflektiert, lange bevor dies als Folge der ›Methodendiskussion‹ üblich wurde48, und Klussmann hat nicht nur den Weg gewiesen, Almanach- und Journalliteratur als mediales Phänomen des frühen 19. Jahrhunderts zu erforschen, sondern durch seine Haltung intellektuellen Geltenlassens hat er den wissenschaftlichen und institutionellen Gestaltungsraum einer literaturtheoretisch ganz anders ausgerichteten Nachfolgegeneration eröffnet.49←20 | 21→
Details
- Pages
- 471
- Publication Year
- 2016
- ISBN (PDF)
- 9783631696668
- ISBN (ePUB)
- 9783631696675
- ISBN (MOBI)
- 9783631696682
- ISBN (Hardcover)
- 9783631681091
- DOI
- 10.3726/978-3-631-69666-8
- Language
- German
- Publication date
- 2016 (October)
- Keywords
- Wissenschaftsgeschichte Germanistik Gründungsprofessoren Bochumer Neugermanistik Komparatistik Neudidaktik Sozialgeschichte
- Published
- Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2016. 471 S., 15 s/w Abb., 20 farb. Abb.