«Da habe ich alles, was Serbisch war, verteufelt.»
Wie gesellschaftliche Diskurse die natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeiten von ethnischen Serbinnen und Serben in der Deutschschweiz beeinflussen
Zusammenfassung
Anhand von fünf biographischen Einzelfallanalysen geht die Autorin der Frage nach, wie Menschen mit serbischem Migrationshintergrund mit den vorherrschenden gesellschaftlichen Diskursen über ethnische Serbinnen und Serben in ihrer Lebensgeschichte umgehen und welche Auswirkungen diese auf ihr Zugehörigkeitsgefühl zum Herkunfts- und zum Aufnahmeland haben. Hierbei stellen nicht nur der Zusammenhang von Diskurs und Biographie einen wichtigen Aspekt dar, sondern auch die transnationalen Bezüge der Befragten.
Neben den fünf Einzelfallanalysen, die auf narrativen Interviews beruhen, bildet die Aufarbeitung des sich wandelnden Diskurses über ImmigrantInnen aus dem (post)jugoslawischen Raum seit den 1960er Jahren das Kernstück dieser Arbeit. Zudem wird auf weiterführende Fragestellungen und auf die damit einhergehenden integrationspolitischen Implikationen hingewiesen.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhalt
- Danksagungen
- 1. Einleitung
- Teil I: Historische Hintergründe und Diskursgeschichte
- 2. Ethnische Serbinnen und Serben?
- 2.1. „Re-becoming Serbs“
- 3. Historischer Blick auf die serbische Immigration in die Schweiz
- 3.1. Die serbische Einwanderung in die Schweiz bis 1918
- 3.1.1. Die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Schweiz und Serbien
- 3.1.2. Elitenzuwanderung: Wissenschaftlicher Austausch
- 3.2. Die Einwanderung aus dem Königreich der Slowenen, Kroaten und Serben
- 3.3. Der Zweite Weltkrieg
- 3.3.1. Kriegsflüchtlinge und -gefangene
- 3.3.2. Abwanderung von Regimegegnern und Minderheiten
- 3.4. Gast- und Saisonarbeiter
- 3.5. AsylbewerberInnen während der postjugoslawischen Kriege
- 3.6. Situation heute
- 4. Theoretischer Input: Kategorisierungen – Stereotypisierungen – Repräsentationen
- 4.1. Soziale Kategorisierungen und Stereotypisierungen
- 4.2. Macht und Wissen
- 4.2.1. Maria Todorovas „Balkanismus“
- 4.3. Symbolische Geographie: „Jugoslawisches“ und „balkanisches“ Erbe
- 4.3.1. Wahrnehmungen des Balkans
- 4.3.2. Das westliche Bild Jugoslawiens
- 4.3.3. Krieg und Zerfall – Symbolische Rückkehr zum Balkan
- 5. Vom „fleissigen Gastarbeiter“ zum „aggressiven Jugo“
- 5.1. Das politische Klima gegenüber AusländerInnen in der Schweiz: 1960–1990
- 5.1.1. Überfremdungsängste
- 5.1.2. Ethnisierung von gesellschaftlichen Problemen
- 5.1.3. Feindbild „Asylant“
- 5.2. Asyl- und Migrationspolitik während der postjugoslawischen Kriege
- 5.2.1. Haltung der Schweizer Bevölkerung gegenüber den Kriegsflüchtlingen
- 5.3. Zur Wahrnehmung der postjugoslawischen Kriege
- 5.3.1. Kriegsberichterstattung während des Kroatiens- und Bosnienkrieges (1991/1992–1995) und des Kosovokonflikts (1999)
- 5.4. „Jugo-Problem“
- 5.4.1. „Balkanraser“ im Wahlkampf
- 5.5. Wahrnehmung als Problemgruppe und Migrationsverlierer
- 5.5.1. Überproportional hohe Zahl von IV-Bezügern, Sozialhilfebezügern und Arbeitslosen
- 5.5.2. Hohe Kriminalitätsrate
- 5.5.3. Bildungsdefizite
- 5.6. Ausblick: Ablösung durch neue „Feindbilder“?
- 5.7. Rekapitulation
- Teil II: Theorie und Methode
- 6. Theoretische Begriffe und Konzepte
- 6.1. Diskurs und Subjekt
- 6.2. Zugehörigkeit und Migration
- 6.2.1. Zwischen Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft?
- 6.2.2. Ethnisierung und Ethnizität
- 6.3. Natio-ethno-kulturelle (Mehrfach-)Zugehörigkeiten nach Paul Mecheril
- 6.3.1. Dimensionen natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit
- 7. Methodische Vorgehensweise
- 7.1. Feldzugang
- 7.2. Sample
- 7.3. Erhebungsmethode
- 7.3.1. Theoriegeschichtlicher Hintergrund: Biographieforschung in der Soziologie
- 7.3.2. Das narrative Interview
- 7.4. Auswertungsmethode
- 7.4.1. Rekonstruktion narrativer Identität
- 7.4.2. Vorgehen bei der Analyse der Transkriptionen
- 7.4.3. Aufbau der Fallanalysen
- Teil III: Empirische Studien
- 8. Fallanalysen
- 8.1. Dragica N.: „Aufgewachsen in einer Periode, wo es diese Animosität gegen Jugos nicht gegeben hat“
- 8.1.1. Kurzbiographie
- 8.1.2. Kontaktaufnahme und Interviewsituation
- 8.1.3. Sequenzanalyse der Stegreiferzählung
- 8.1.4. Feinanalysen
- 8.1.5. Positionierungen
- 8.2. Snežana B.: „Nur wir sind schuld und die anderen gar nicht“
- 8.2.1. Kurzbiographie
- 8.2.2. Kontaktaufnahme und Interviewsituation
- 8.2.3. Sequenzanalyse der Stegreiferzählung
- 8.2.4. Feinanalyse
- 8.2.5. Positionierungen
- 8.3. Dunja T.: „Wir sind immer eine Ausnahme“
- 8.3.1. Kurzbiographie
- 8.3.2. Kontaktaufnahme und Interviewsituation
- 8.3.3. Sequenzanalyse der Stegreiferzählung
- 8.3.4. Feinanalyse
- 8.3.5. Positionierungen
- 8.4. Branko R.: „Eine gespässige Mischung aus einem Serben, Appenzeller und Basler“
- 8.4.1. Kurzbiographie
- 8.4.2. Kontaktaufnahme und Interviewsituation
- 8.4.3. Sequenzanalyse der Stegreiferzählung
- 8.4.4. Feinanalysen
- 8.4.5. Positionierungen
- 8.5. Ana D.: „Aber es ist einfach anders, wenn man halt unter sich ist“
- 8.5.1. Kurzbiographie
- 8.5.2. Kontaktaufnahme und Interviewsituation
- 8.5.3. Sequenzanalyse der Stegreiferzählung
- 8.5.4. Feinanalysen
- 8.5.5. Positionierungen
- 9. Diskussion der fallübergreifenden Themenfelder
- 9.1. Der Zerfall Jugoslawiens und die postjugoslawischen Kriege als Bruch in der nationalen und ethnischen Identität
- 9.2. Selbstpositionierung als „doppelte/r AusländerIn“
- 9.2.1. „Ortlosigkeit“: Hier Serbin, dort Schweizerin
- 9.2.2. „Teilausschluss“: Thematisierung von Ungleichheitserfahrungen in der Schweiz
- 9.3. Bewältigungsstrategien und Erklärungsmuster
- 9.3.1. Abgrenzung von „den Anderen“
- 9.3.2. Mit positivem Beispiel gegen Vorurteile angehen
- 9.3.3. Appell, jede Person als Mensch zu beurteilen
- 10. Conclusio
- Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen
- Literaturverzeichnis
- Series Index
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Bei dieser Publikation handelt es sich um eine überarbeitete Version meiner Dissertation, die am 24. Juni 2014 von der Philosophisch- Historischen Fakultät der Universität Basel auf Antrag von Prof. Dr. Ueli Mäder und Prof. Dr. Walter Leimgruber angenommen wurde.
Als Erstes möchte ich mich bei meinem Referenten Prof. Dr. Ueli Mäder herzlich für die Unterstützung und Begleitung meiner Arbeit bedanken. Meinem Korreferenten Prof. Dr. Walter Leimgruber danke ich für seine Ratschläge und Anregungen. Einen weiteren Dank richte ich an Prof. em. Dr. Heiko Haumann für sein stetes Interesse an meiner Arbeit und seine hilfreichen Kommentare.
Mein Freundeskreis und mein Arbeitsumfeld haben mich während der Verfassung meiner Dissertation tatkräftig unterstützt. Ihnen allen sei hiermit herzlich gedankt. Gesondert möchte ich mich bei Stephanie Lori, Michael Binggeli und Lea Mani für ihre emotionale und fachliche Unterstützung bedanken.
Ein grosser Dank gilt meiner Familie für ihren Beistand und ihre Geduld. Besonders bedanken möchte ich mich bei meiner Mutter Doris, meinem Vater Nenad und meiner Tante Dana. Meiner Mutter, die mich erst darauf brachte, eine Dissertation zu diesem Thema zu schreiben, widme ich diese Arbeit.
Darüber hinaus bedanke ich mich bei den Mitgliedern des Basler Arbeitskreises für Südosteuropa (BASO) für die wertvollen Anregungen, die sie mir beim Doktoratskolloquium vom 1. März 2013 gegeben haben. Ein weiterer Dank geht an die Freiwillige Akademische Gesellschaft (FAG) der Universität Basel, die die Fertigstellung dieser Arbeit unterstützte.
Last but not least danke ich meinen Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern, ohne deren Bereitschaft über ihre Lebenssituation zu erzählen, diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre.
Basel, den 22.12.2014
Kathrin Pavić
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„Ich hatte Angst davor, als Serbin erkannt zu werden. Gleichzeitig wollte ich aber wie alle anderen in der Welt zeigen, dass auch ich meine Wurzeln habe.“
Aus dem Interview mit Zaza Stefanović Camenzind (Mikić/Sommer 2003: 30)
Zu Beginn dieses Jahrtausends wurde in den Medien, in der Politik wie auch an den Stammtischen viel über Menschen aus dem postjugoslawischen Raum diskutiert. Das öffentliche Image der Zuwanderer aus dieser Region erreichte in dieser Periode einen Tiefpunkt. Sie galten gemeinhin als aggressiv, kriminell, gewalttätig und als Gefahr für die Schweizer Werte und Kultur. Die Schweizer Konsumenten- und Beratungszeitschrift „Beobachter“ veröffentlichte im Jahr 2000 einen Artikel mit dem Titel „Ex-Jugoslawen: das neue Feindbild“ (vgl. Beobachter 2000: 17–29). Das „NZZ Folio“ widmete dem Thema „Jugo“ im März 2005 eine ganze Ausgabe (vgl. NZZ Folio 2005).
Im Jahr 2003 wurde mit Robert Ismajlović zwar erstmalig ein Schweizer mit kroatischem Migrationshintergrund zum neuen Mister Schweiz gewählt. Dass Ismajlović aber nur wenige Tage nach der Wahl im „Blick“ verkündete „Nicht alle Jugos sind kriminell“ (Blick 2003a: 1), scheint symptomatisch für diese Zeit zu sein.1
Im Vorfeld der Abstimmung über ein erleichtertes Einbürgerungsverfahren für Ausländerinnen und Ausländer der zweiten und dritten Generation im September 2004 erreichte die mediale Berichterstattung über Personen aus dem Balkanraum eine neue Dimension. Im Speziellen über das Phänomen der sogenannten „Balkanraser“ wurde vielfach diskutiert. Dieses Thema wurde insbesondere von Vertretern der Schweizerischen Volkspartei (SVP) und der Schweizer Demokraten (SD) politisiert und für den Wahlkampf instrumentalisiert. ← 13 | 14 →
Etwa zur selben Zeit begann ich mich als Tochter eines serbischstämmigen Vaters und einer Schweizer Mutter näher mit der Aussenwahrnehmung der Menschen aus den postjugoslawischen Staaten in der Schweiz zu beschäftigen. Dieses Interesse stand im Zusammenhang mit einer persönlichen Erfahrung, die ich während meiner Studienzeit bei einem Bewerbungsgesprächs für einen Ferienjob in einem Fastfood- Lokal machte. Der Filialleiter stand mir wegen meines Nachnamens sehr kritisch gegenüber und konfrontierte mich mit Vorurteilen. Er erklärt mir, dass er mich wegen meines Familiennamens eigentlich gar nicht zu einem Bewerbungsgespräch einladen wollte. Er möchte nämlich keine Leute aus „dem ehemaligen Ostblock“ einstellen, da er befürchte, deren Kollegen würden sich im Restaurant breitmachen und es verwüsten. Er habe schon viele negative Erfahrungen mit „solchen Leuten“ gemacht.
Dieses Erlebnis hat einen nachhaltigen Eindruck bei mir hinterlassen und bewirkt, dass ich mich konkreter mit Vorurteilen gegenüber Personen aus dem postjugoslawischen Raum auseinandersetzen wollte.
Letztlich habe ich entschieden, mich in dieser Arbeit nicht auf ImmigrantInnen aus dem postjugoslawischen Raum als Gesamtheit zu konzentrieren, sondern lediglich auf ethnische Serbinnen und Serben. Ich spreche von ethnischen Serbinnen und Serben, weil bei der Auswahl meiner Interviewpartner und -partnerinnen nicht die Staatsangehörigkeit entscheidend war, sondern, ob sich jemand als Angehörige/r der serbischen Ethnie versteht. Damit möchte ich der Tatsache Rechnung tragen, dass die Staaten im südöstlichen Europa grösstenteils multiethnische Gebilde sind (vgl. Kaser 2001: 228) und die Staatsangehörigkeit einer Person daher nicht zwingend mit ihrer ethnischen Zugehörigkeit deckungsgleich ist (vgl. Kap. 2.1.).
Die Entscheidung für ethnische Serbinnen und Serben als Untersuchungsgruppe beruht auf mehreren Faktoren. Erstens erschien es mir falsch, die Menschen aus dem postjugoslawischen Raum nach wie vor als eine Gruppe zu behandeln. Eine solche Betrachtungsweise ignoriert nicht nur die heutige nationalstaatliche Situation, sie relativiert auch die kulturellen, ethnischen und religiösen Unterschiede zwischen den einzelnen Volksgruppen, die in Jugoslawien vereint waren. Die medialen und politischen Debatten hinkten den realen Entwicklungen allerdings lange hinterher. So wurden bis vor kurzem kaum Unterscheidungen zwischen den Zuwanderern aus den Nachfolgestaaten ← 14 | 15 → Jugoslawiens getroffen. Lediglich in Berichten über die postjugoslawischen Kriege der 1990er Jahren wurde deutlich zwischen den einzelnen Kriegsparteien unterschieden, weswegen Diskurse über die Rolle Serbiens (inklusive der serbischen Minderheiten in Bosnien und Kroatien) eine wichtige Rolle in dieser Arbeit einnehmen werden. Damals war das Image Serbiens in der Weltöffentlichkeit auf dem Tiefstand, was sich auch auf die Aussenwahrnehmungen der Serbinnen und Serben in der Diaspora auswirkte.
Zweitens standen (und stehen) Personen serbischer und kosovo- albanischer Herkunft von allen Immigrantengruppen aus dem postjugoslawischen Raum am häufigsten im Fokus der Öffentlichkeit. Sie gehör(t)en zu den unbeliebtesten Immigrantengruppen in der Schweiz, wie Umfragen (vgl. Raymann 2003; gfs.bern 2010: 18) sowie politische und mediale Diskurse belegen. Allerdings muss beachtet werden, dass gerade in den Medien oft nicht deutlich zwischen ImmigrantInnen serbischer und (kosovo-)albanischer Herkunft unterschieden wurde. Besonders vor der Unabhängigkeit des Kosovo im Februar 2008 wurden KosovarInnen aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit in Berichten oft als SerbInnen bezeichnet, was zu Verwirrungen führte und teilweise erklärt, warum eine erstaunliche Unwissenheit über die Geschichte und Kultur der serbischen Bevölkerung in der Schweiz vorherrscht. Erika Sommer, die Herausgeberin einer Broschüre über Serbinnen und Serben in der Migration, schildert, dass Zürcher Lehrerinnen und Lehrer bei einer Weiterbildungsveranstaltung folgende Stichworte mit Serbien verbanden: „‚Kopftuch‘, ‚Islam‘, ‚Moschee‘, ‚Blutrache‘“. Mit Erstaunen fragt sie: „Wie ist es möglich, dass man einerseits klar die Serben als Bösewichte verurteilt und andererseits ignorant ist betreffend ihrer Geschichte und Kultur und vor allem bezüglich ihres Daseins in der Schweiz“ (Fachstelle für interkulturelle Fragen der Stadt Zürich FiF 2001: 1).
Auch in den Statistiken des Bundes und der Kantone wird zwischen Menschen aus Serbien, Montenegro und dem Kosovo erst seit kurzem unterschieden. Bis 2010 wurden sie in der Bevölkerungsstatistik als eine Kategorie aufgeführt (vgl. BFS 2014a). Statistischen Daten kommt aber in Bezug auf das Thema dieser Arbeit noch aus einem weiteren Grund eine grosse Bedeutung zu. Laut den Statistiken verfügen Menschen mit serbischer Staatsangehörigkeit über hohe Kriminalitätsraten, ← 15 | 16 → Arbeitslosen- und Sozialhilfequoten (vgl. BFS 2013b; BFS 2013c; BFS 2014b; BFS 2014e; BSV 2014) sowie über Defizite im Bildungssystem und auf dem Arbeits- und Lehrstellenmarkt (vgl. Meyer 2009: 10).2 Diese Zahlen weisen ihnen die Rolle einer „Problemgruppe“ zu. Ziel dieser Arbeit soll es sein, hinter diese Zahlen zu blicken und diese kritisch zu betrachten.
Bisher gibt es kaum wissenschaftliche Studien, die sich schwerpunktmässig mit der gesellschaftlichen Situation der serbischen Bevölkerung in der Schweiz auseinandersetzen. In diesem Zusammenhang sind sicherlich Beno Baumbergers Aufsatz über die serbische Community in Zürich (2005) und die Artikel von Dejan Mikić (2001; 2008; 2009) und seine in Zusammenarbeit mit Erika Sommer (2003; 2001) entstandenen Bücher zu nennen. Andere Studien konzentrieren sich – wie beispielweise Nada Boškovskas Aufsatz über „‚Jugoslawen‘ in der Schweiz“ (2000) und Chantal Wyssmüllers (2005) Abschlussarbeit über Menschen ‚aus dem Balkan‘ in den Schweizer Printmedien – auf die Immigranten aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens als Gesamtheit oder beschäftigen sich mit einer anderen Ethnie, wie zum Beispiel den Kosovo-Albanern und deren Arbeits- und Asylmigration (vgl. von Aarburg/Gretler 2008).
Mit diesem Dissertationsprojekt möchte ich einerseits einen Beitrag leisten, um diese Forschungslücke zu füllen, und gleichzeitig an internationale Forschungsarbeiten zu diesem Thema anschliessen – als Beispiele sind hier Nicolas G. Procters Arbeit Serbian Australians in the shadow of the Balkan war (2000) sowie Zala Volcics Studie über Identitätsräume der letzten „Jugo-Generation“ in Serbien zu erwähnen. Andererseits soll auf einer übergeordneten Ebene an Studien (vgl. Juhasz/Mey 2003; Jonuz 2009; Rosenthal/Bogner 1995; Riegel/Geisen 2007; Spies 2010) angeknüpft werden, die sich mit Fragen der Migration, Ethnizität und Zugehörigkeit in der heutigen globalisierten Gesellschaft beschäftigen.
Diese Dissertation leistet folglich nicht nur einen Beitrag zur Migrationsgeschichte und der Aussenwahrnehmung der serbischen Bevölkerung in der Schweiz, sondern setzt sich auch mit den sozialen ← 16 | 17 → Verortungen und Zugehörigkeiten von serbischen ImmigrantInnen auseinander. Aus diesem Grund hat diese Arbeit eine transdisziplinäre Ausrichtung. Der expliziten soziologischen Fragestellung meiner Arbeit nähere ich mich auch mit historischen Bezügen und Ansätzen aus der Sozialpsychologie an.
Der Fokus meiner Arbeit liegt auf der Frage, wie Menschen mit serbischem Migrationshintergrund in ihrer Lebensgeschichte mit den vorherrschenden gesellschaftlichen Diskursen über ethnische Serbinnen und Serben umgehen.
Hierzu interessiere ich mich v. a. dafür:
1) Welchen Einfluss diese Bilder und Diskurse darauf haben, wo sich diese SerbInnen im sozialen Raum verorten, respektive zu welchen sozialen Kontexten sie Zugehörigkeiten äussern.
2) Welche Bewältigungsstrategien und Deutungsmuster wenden einzelne ethnische Serbinnen und Serben in Hinsicht auf die vorherrschenden Fremdbilder und Diskurse an.
„Die Verwobenheit von Biographie, Diskurs und Subjektivität“ (Dausien/Lutz/Rosenthal/Völter 2005: 12; vgl. Spies 2010: 93) stellt einen zentralen Aspekt dieser Arbeit dar. Letztlich soll es darum gehen, herauszufinden, welchen Einfluss vorherrschende politische und mediale Diskurse und die dadurch entstandenen Fremdzuschreibungen auf die Selbstwahrnehmung jener Menschen ausüben, über die gesprochen wird.
Bei der kritischen Auseinandersetzung mit Klischeebildern und Stereotypen war ich mir aber immer auch der Gefahr bewusst, dass diese Bilder und Stereotypen gerade durch meine Beschäftigung mit ihnen zu einem bestimmten Grad auch reproduziert werden. Ich stimme mit Spies (2010: 13) überein, die in ihrer Dissertation über Migration, Männlichkeit und Kriminalität feststellt: „Die Dekonstruktion setzt nun einmal die Konstruktion voraus; es ist nicht möglich über ‚die Anderen‘ zu sprechen und gleichzeitig auch nicht.“
Ich schliesse mich Fischer-Rosenthals (1996: 149) These an, dass „Individuum und Gesellschaft […] genau im Medium der Biographie zusammen[hängen]“. Aus diesem Grund erachtete ich einen biographischen Zugang (vgl. Kap. 7.3.1) als geeignet für die Fragestellung meiner Arbeit und wählte das narrative Interview als Erhebungsmethode ← 17 | 18 → (vgl. Kap. 7.3.3.). Für die von Fritz Schütze Ende der 1970er Jahre entwickelte Interviewtechnik habe ich mich entschieden, weil sich diese Form der qualitativen Befragung besonders für das Erforschen der individuellen Erfahrungen von Befragten bezüglich eines bestimmten für ihre Lebensgeschichte relevanten Themas anbietet. Die nicht- standardisierte und offene Form der Befragung ermöglicht den Zugang zur subjektiven Sichtweise der Befragten (vgl. Flick 2009: 115; Glinka 2009: 9).
Bei der Analyse der Interviews bezog ich mich auf Lucius- Hoenes und Deppermanns (2002) Konzept der Rekonstruktion narrativer Identität. Die beiden Autoren verstehen narrative Identität als eine sprachlich-symbolische Struktur, „die durch eine autobiographische Erzählung hergestellt und in ihr dargestellt wird“ (ebd.: 55) und dadurch situations- und kontextabhängig ist. Das Verfahren beruht auf dem Sequenzialitätsprinzip und wechselt zwischen einer grob- und einer feinstrukturellen Analyse.
Insgesamt habe ich im Zeitraum von Juli 2011 bis April 2013 zehn Interviews mit ethnischen Serbinnen und Serben aus dem Raum Basel geführt, die sich aufgrund ihres Alters, Einwanderungszeitpunkt und Herkunftsregion weitestgehend unterscheiden. Meine GesprächspartnerInnen verfügen jedoch alle über eine akademische Bildung oder eine Berufsausbildung. Zu Personen mit niedrigerem Bildungsniveau oder beruflichen Status hatte ich Schwierigkeiten den Kontakt herzustellen.3 (Vgl. Kap. 7.2.; s. Tab. 10) Fünf Gespräche verwende ich in Kapitel 8 in der Form von Einzelfallanalysen. Anhand dieser fünf Fallanalysen untersuche ich die vorgängig erwähnten Fragestellungen. Um mich diesen empirisch anzunähern, fokussiere ich auf die Selbst- und Fremdpositionierungen, die meine Gesprächspartnerinnen und -partner während der Interviews vornehmen. Positionierungen geben nicht nur Aufschluss darüber, wie sich ein Individuum präsentiert und welchen Platz es sich im sozialen Raum zuweist, sondern auch wie sich eine Person zu anderen ← 18 | 19 → Personen oder Objekten (z. B. Orten, Themen etc.) in Beziehung setzt. Lucius-Hoene und Deppermann (2002: 196) bezeichnen Positionierungen auch als Identitätszuweisungen: „Positionierung kann als eine der grundlegenden Formen beschrieben werden, Identitäten in sozialen Interaktionen zu konstruieren und auszuhandeln.“
In Bezug auf meine Ausgangsfragestellung interessiere ich mich besonders dafür, zu welchen Gruppierungen und sozialen Kontexten meine GesprächspartnerInnen Nähe respektive Distanz äussern: Von wem oder von was distanzieren sie sich? Wer sind „die Anderen“ in ihrer Erzählung, und warum? Zur Beantwortung solcher Fragen betrachte ich das Konzept der Zugehörigkeit als interessanten theoretischen Zugang. Im Speziellen nehme ich Bezug auf Paul Mecherils (2003) Konzept der natio-ethno-kulturellen (Mehrfach-)Zugehörigkeit(en) (vgl. kap. 6.3.). Mecheril (2003: 27) geht davon aus, dass Zuwanderer – in seinem Fall in Deutschland – sich aufgrund ihres anderen respektive weiteren „natio-ethno-kulturellen Kontexts, der sich in „[…] physiognomischen Zeichen und kulturellen Fertigkeiten, […] eines Habitus und einer Disponiertheit“ offenbart von „den Deutschen“ unterscheiden und somit als „anders“ wahrgenommen werden – er spricht hierzu auch von „den Anderen Deutschen“ (vgl. ebd.: 10). Der „Status Anderer Deutscher [sei] intern (teil-)exkludiert“ (ebd.: 29). Dieser Zustand resultiere in einem „prekären Zugehörigkeitsstatus“, der sie als „‚ausländerhabituelle‘ Andere“ auszeichne und ihnen regelrecht „auf den Leib“ (ebd.: 29) rücke.
Es soll Gegenstand dieser Arbeit sein, zu untersuchen, ob die interviewten Personen, die teilweise schon mehrere Jahrzehnte in der Schweiz leben, über Anzeichen von prekären natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeiten verfügen und, wenn ja, auf welchen Faktoren diese beruhen. Es stellt sich die Frage, welche Bedeutung den vorherrschenden Diskursen über ethnische Serbinnen und Serben, aber auch den transnationalen Bezügen und Verbindungen der Befragten dabei zukommt.
Die vorliegende Arbeit ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil setzt mit den Implikationen und Gefahren ein, die bei der Arbeit mit einer ethnisch definierten Untersuchungsgruppe zu beachten sind (Kap. 2). Am Beispiel des Zerfalls von Jugoslawien möchte ich auf die Vergänglichkeit und Unbeständigkeit von nationalen und ethnischen Kategorien hinweisen (Kap. 2.1.). Für ethnische SerbInnen ist hierbei ← 19 | 20 → vor allem die Ablösung des Wir-Kontextes „Jugoslawien“ durch den Wir-Kontext „Serbien“ von Bedeutung. Dabei stellt sich die Frage, welche Identitätsmarker mit dem Wir-Kontext „Serbien“ verbunden werden und wie diese von ethnischen SerbInnen interpretiert werden.
Darauf folgt eine Zusammenfassung der Geschichte der serbischen Immigration in die Schweiz (Kap. 3), die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreicht. Dieser Einschub über die serbische Immigration in die Schweiz ist als Hintergrundinformation für die unter Kapitel 5 besprochenen Diskurse über serbische Menschen in der Schweiz und deren Herkunftsregion unentbehrlich. Ich betrachte auch „mental maps“ und Raumbilder (Kap. 4.3.), in deren Kontext über die Herkunftsregion ethnischer Serbinnen und Serben gesprochen wird. Schliesslich färbt die Weise, wie die Herkunftsregion im Aufnahmeland wahrgenommen wird, auch auf die Wahrnehmung der ZuwanderInnen selbst ab (vgl. Negele/Pfändler 1994: 438). Hierzu konzentriere ich mich vor allem auf zwei Raumbilder: Erstens den „Balkan“ als kulturelles und zweitens das sozialistische Jugoslawien als nationalstaatliches Konstrukt. An dieser Stelle schliesse ich an Maria Todorovas Konzept des „Balkanismus“ an (Kap. 4.2.1.). In Anlehnung an Edward Said versteht Todorova unter „Balkanismus“ jene pejorativen Stereotypisierungen und Klischeebilder, die in westlichen Diskursen über den „Balkan“ angewandt werden. Im Vorfeld gehe ich auf der theoretischen Ebene auf Kategorisierungs- und Stereotypisierungsprozesse ein (Kap. 4.1.) und schliesse an Stuart Hall (1997; 2004) an, der Stereotypisierungen als Form kultureller Repräsentation und Praxis der Signifikation betrachtet, die symbolische Macht ausüben (Kap. 4.2).
Details
- Seiten
- 421
- Erscheinungsjahr
- 2015
- ISBN (PDF)
- 9783035108330
- ISBN (MOBI)
- 9783035194357
- ISBN (ePUB)
- 9783035194364
- ISBN (Paperback)
- 9783034316125
- DOI
- 10.3726/978-3-0351-0833-0
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2015 (April)
- Schlagworte
- Migration Serbien gesellschaftliche Diskurse Deutschschweiz
- Erschienen
- Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien, 2015. 421 S.
- Produktsicherheit
- Peter Lang Group AG