Geschichte, Politik und Poetik im Werk Rudolf Alexander Schröders
Kontinuität und Variation
Summary
Excerpt
Table Of Contents
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Danksagung
- Inhalt
- 1. Einleitung
- 1.1 Rezeptions- und Forschungsgeschichte
- 1.2 Forschungsthesen und Aufbau der Arbeit
- 2. Zentrale Kontexte und Leitbegriffe
- 2.1 Historismus, Relativismus und literarische Reaktionen
- 2.2 Geschichtsmetaphern im frühen 20. Jahrhundert
- 2.3 Formen und Funktionen wiederholenden Schreibens
- 2.3.1 Nachahmungsverfahren: Imitatio und Übersetzung
- 2.3.2 Epigonalität oder Traditionswahrung?
- 2.3.3 Intertextualität als poetologisches Konzept
- 3. Schröders Poetik
- 3.1 „Grundgesetze des Lebens“: Problemgeschichtliche Anleihen und gesellschaftspolitische Verortung der Dichtung
- 3.2 Dichter als Fackelträger: Zur Verkettung der Literaturgeschichte
- 3.3 „Dienst am andern“ und der Geschichtssinn des Dichters
- 3.4 Übersetzungstheorie und ihre Einordnung in Schröders Poetik
- 4. Die Übersetzungen: nachahmende Verfahren im Dienste des Originals
- 4.1 Der lange Weg zur Homer-Übersetzung
- 4.1.1 Überlegung zum deutschen Hexameter
- 4.1.1.1 Hexametertheorien seit Klopstock
- 4.1.1.2 Schröders Hexameter
- 4.1.2 Das Konzept der sprachlichen ‚Repristination‘
- 4.2 Das Übersetzungsprogramm
- 4.2.1 Übersetzung kanonischer Werke: Der deutsche Shakespeare
- 4.2.2 Übersetzung zeitgenössischer Werke
- 4.2.2.1 Die Übersetzungen der Insel-Jahre: Aubrey Beardsley und Henry van de Velde
- 4.2.2.2 Die Dramenübersetzungen der Nachkriegszeit: Thomas Stearns Eliot und Ronald Duncan
- 5. Das lyrische Werk: Variation vorhandener Elemente
- 5.1 Formen der Kulturkritik in den Jahren nach 1900
- 5.1.1 Das deutsche Volk als normativer Bezugspunkt in den Deutschen Oden (1910–13)
- 5.1.2 Apokalyptische Motivik in den Kriegsgedichten von 1914
- 5.2 Ausdrucksformen der ‚Inneren Emigration‘
- 5.2.1 Schröders Haltung im NS-Regime
- 5.2.2 „Wieder der gleiche Gesang?“ Schröders Römische Elegien (1913/40)
- 6. Immer wieder Goethe – Goethe als zentrales Vorbild?
- 6.1 Frühe Goethe-Verehrung
- 6.2 Goethes Bedeutung im Programm der ‚Konservativen Revolution‘
- 6.3 Goethe-Zitation in den Essays
- 7. Schlussbemerkung
- 8. Literaturverzeichnis
- 8.1 Ungedruckte Quellen und Archivalien
- 8.2 Gedruckte Quellen Schröders (chronologisch geordnet)
- 8.3 Gedruckte Briefwechsel
- 8.4 Forschung und Quellen anderer Autoren
- 9. Namens- und Werkregister
Einzelne Äusserungen, an denen es bei mir nicht gefehlt hat, werden totgeschwiegen oder lächelnd ad acta genommen. Man kann gegen einen Sumpf nicht corps à corps kämpfen sondern nur von den Rändern her, indem man ihn trocken legt. – [Ich denke] nun an die Mühe, die auf meinem Felde Leute wie Hofmannsthal, Borchardt und andere an einen solchen Versuch gewandt […]. [W]ir mögen vielleicht nur noch eine ganz ungewisse Zukunft zu verteidigen haben, aber wir haben bis zum letzten Atemzug und zum letzten Tag eine Vergangenheit zu verteidigen, für die wir niemand anderm verantwortlich sind als dem, der uns dies Erbe zu teuern Händen überantwortet hat.1
Mit diesen Worten beklagt sich der 77-jährige Rudolf Alexander Schröder am 11. Oktober 1955 in einem Antwortschreiben an den damaligen Präsidenten der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, Emil Preetorius (1883–1973), über die Wirkungslosigkeit seiner Reden und Schriften. Er resümiert seine lebenslangen Bemühungen metaphorisch als Verteidigungskampf. Stets habe er die Entwicklungen des „allgemeinen Unheils und Verfalls“2 – als Beispiele nennt er den „Atombomben-Wahnsinn“ und die „Hitlerei“ – vorausgeahnt und stets mit großem Einsatz dagegen gestritten. Verstärkung sucht er sich durch die Nennung lange verstorbener Mitstreiter wie Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) und Rudolf Borchardt (1877–1945). Mit ihnen erinnert Schröder an eine Gruppe, deren aktiver Höhepunkt vor der Zeit des Nationalsozialismus gelegen hat; gemeinsam strebte man die ‚Rettung‘ eines historisch gewachsenen und religiös verbürgten Wertekosmos an. Während der Übersetzer, Dichter und Essayist Schröder damit rückblickend seinem Werk eine gesellschaftliche, wenn nicht politische Zielrichtung zuschreibt und noch im selbigen Brief „eine Art geistige UNO“3 fordert, belegen seine Mitgliedschaften in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste seit 1948, der Deutschen Akademie für Dichtung und Sprache seit 1949, der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur seit 1950 sowie seine Wahl in den Orden Pour le Mérite 1952 seinen ungebrochenen Willen, sich aktiv an gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen.4 Dieses Engagement ← 11 | 12 → bildet in Schröders Selbstsicht eine deutliche Konstante, die über die Umbrüche von 1933 und 1945 hinweg Kontinuität zu verbürgen scheint und ihm offenkundig deswegen auch Preetorius gegenüber als erinnerungswürdig gilt.
Wertungs- und Argumentationsmuster dieser Art, die im Zeichen eines kulturkritischen Fortschrittspessimismus in der literarisch-kulturellen Überlieferung sinnstiftende Elemente für eine wertbezogene Kompensation aktueller Krisenphänomene und für eine Restitution der gefährdeten Integrität suchen, sind im frühen 20. Jahrhundert weit verbreitet und werden in der neueren Forschung als „Ästhetischer Konservatismus“ oder – mit Rückgriff auf Rudolf Borchardts in den 1920er-Jahren verwendeten Begriff – als „Schöpferische Restauration“ beschrieben.5 Prominente Beispiele sind die schon von Schröder erwähnten Autoren Hofmannsthal und Borchardt, aber auch Stefan George (1868–1933), Julius Langbehn (1851–1907) oder Thomas Mann (1875–1955). Was ihre Texte auszeichnet, ist, dass sie vor dem Hintergrund eines problematisch gewordenen Historismus sich nicht einem zweckbefreiten Ästhetizismus überantworten, sondern die Verfügbarkeit des ästhetischen Repertoires nutzen, um die Künste wiederum auf eine kulturelle Funktion zu verpflichten. In ihren Texten werden Stilformen, Motive und Stoffe tradiert und wiederbelebt, um mit ihnen eine gegen den zeitgenössischen Verfall gerichtete positive Orientierung zu schaffen. Der Rückgriff auf ältere Form- und Werttraditionen stellt dabei den Versuch dar, in reflektierter, aber bewusst konservierender Weise an der Gestaltung der Gegenwart und damit auch an der Gestaltung ‚der Moderne‘ teilzuhaben.6
Für einige Protagonisten hat die Forschung Formen und Funktionen dieses ästhetischen Konservativismus detailliert nachgezeichnet. Neben der kanonisch gewordenen Höhenkammliteratur eines Hofmannsthal, George oder ← 12 | 13 → Thomas Mann und den forschungsgeschichtlich hervorstechenden Figuren wie Borchardt und Langbehn spannt sich in den 1910er- und 1920er-Jahren aber ein weites Netz an ähnlich gesinnten Künstlern und Intellektuellen, die bislang nur am Rande wissenschaftliche Beachtung gefunden haben. Kunstsammler wie Harry Graf Kessler (1868–1937) oder Eberhard von Bodenhausen (1868–1918), die Leiter bibliophiler Verlage und Pressen wie der Cranach-Presse (1913–1931), der Bremer Presse (1911–1934), des Diederichs Verlags oder des Insel Verlags, Herausgeber von Literaturzeitschriften wie dem Pan (1895–1900), der Insel (1899–1902), der Tat (1909–1938) und der Neuen deutschen Beiträge (1922–1927) sowie Literaturkritiker wie Josef Hofmiller (1872–1933) oder Max Rychner (1897–1965) verweisen auf die viel weiter gehende Ausdehnung eines traditionsoriertierten Kulturbewusstseins, das auf eine „Kritik der zivilisatorischen […] Moderne“7 zielt. Auch Rudolf Alexander Schröder steht mit seinen literarisch-kulturellen Bemühungen symptomatisch für diesen ästhetischen Konservativismus ein und ist – und dies macht ihn für die Forschung besonders interessant – mit vielen Protagonisten und ihren Kreisen bestens vernetzt.
Der symptomatische Wert seiner Stellung wird schon durch einen kurzen Blick auf seine Biographie und die widersprüchliche Rezeption seines Oeuvres augenfällig. Als Mitbegründer der Zeitschrift Die Insel im Jahr 1899 bekundete Schröder bereits früh sein gestalterisches Interesse.8 Es folgen noch in den Jahren ← 13 | 14 → vor dem Ersten Weltkrieg ein umfangreiches Übersetzungsprogramm, das sich vorrangig an kanonischen Autoren orientiert; bei diesen Aktivitäten vertieft Schröder seine Freundschaften zu Borchardt, Hofmannsthal und Harry Graf Kessler. Er engagiert sich zudem für ein programmatisches Jahrbuch mit dem Titel Hesperus (1909) und verfasst klassizistische und völkische Lyrik, die um 1910 zum Großteil in den Süddeutschen Monatsheften erscheint. Nachdem er sich im und nach dem Ersten Weltkrieg zurückgezogen und primär seinem Brotberuf als Innenarchitekt gewidmet hat, tritt Schröder erst Ende der 1920er-Jahre wieder vermehrt auf die literarischen Bühne. Der inzwischen als völkischer Dichter bekannte Autor hält nun Reden und Essays über kanonische Autoren und Texte sowie über allgemeine, die Literatur betreffende Fragen, er schreibt christliche Lyrik und Heimatlyrik und setzt sein Übersetzungsprogramm fort. Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten erlebt er erst mit vorsichtigem Interesse und einer zurückhaltenden Bereitschaft zur Mitwirkung, die sich relativ verliert. Schröder changiert in den Folgejahren zwischen Rückzug und punktuellen Aktivitäten, die auf Erbauung und Trost zielen.9 Seine Rolle als ‚Innerer Emigrant‘ ist bis heute umstritten. Obgleich Schröder in der Nachkriegszeit dann zu jenen Autoren gehört, die sich durch die Mitgliedschaft in Dichterakademien sofort an einem kulturellen Wiederaufbau beteiligen, in Anthologien der ‚Inneren Emigration‘ Orientierung stiften und sich mit autobiographischen Schriften der allgemeinen Schuldfrage nicht entziehen wollen,10 war er als ein während des NS-Regimes in Deutschland gebliebener und durchgehend publizierender Autor problematisch geworden. Seine heimatlichen und völkischen Texte waren verdächtig geworden und wurden deshalb wie die Texte vieler anderer Autoren auf ← 14 | 15 → ihren genuin ‚ästhetischen‘ Wert hin befragt. Dabei ging die junge Literaturkritik kritisch mit Schröder um11 oder ignorierte ihn gar.12
Eine signifikante Wende zeichnet sich etwa in der zugleich ideologiekritischen wie ästhetischen Neubeleuchtung von Schröders Gedichtanthologien des Lyrikers und Literaturkritikers Hans Egon Holthusen (1913–1997) zu Beginn der 1950er-Jahre ab.13 Holthusen hatte Schröder 1936 in München gesehen und im Anschluss daran den Kontakt zu ihm aufgebaut. Im Bestreben, seine eigene Lyrik vom älteren Dichter bewertet zu wissen, schrieb er 1939 und 1941 zwei Rezensionen zu den ersten drei Bänden von Schröders beim S. Fischer Verlag erschienenen Werkausgaben.14 Im Gegensatz zu diesen würdigenden Besprechungen der Kriegsjahre schlägt Holthusen im Jahr 1952 in seinem Aufsatz Tradition und Ausdruckskrise einen ganz anderen Ton an.15 Dass er dabei mit den Achtzig Gedichten (1951) und den Hundert geistlichen Gedichten (1951) einen teilweise mit dem ← 15 | 16 → Band Die weltlichen Gedichte aus dem Jahre 1940 überlappenden Textbestand beschreibt, lässt vermuten, dass der Wandel des Urteils auch auf der opportunistisch angepassten Haltung des Literaturkritikers nach 1945 fußt.16 Wo Holthusen 1941 noch betont, dass Schröder nicht als „Nachahmer“17 missverstanden werden dürfe oder dessen „edle und vielseitige Kultur des Wortschatzes […] in Gestalt von urwüchsigen, volkstümlich-kräftigen Wendungen und Redensarten“18 betont, entdeckt er 1952 in „diese[n] sprachlichen Gebräuche[n] […] eine deutsch-konservative, nicht selten geradezu deutschtümelnde Gesinnung“19, die er vor allem in der christlichen Lyrik nur mehr als „bloße[] Nachahmung“20 diffamiert. Er bewertet nun die Anbindung an die Überlieferung bei den geistlichen Gedichten als rückwärtsgewandtes „Kunsthandwerk“21 und macht Schröder zum Vorwurf, dass dieser „gewisse Bewußtseinskrisen, die sich in der neueren Geistesgeschichte des Abendlandes ereignet haben, nicht so ernst nehme[], wie sie ← 16 | 17 → es verdienen“22. Damit bringt Holthusen den auch in den Folgejahren entscheidenden Epigonenvorwurf gegen Schröder auf: Das Traditionsbewusstsein, das zum Selbstzweck werde, entfremde das Subjekt von seiner eigenen Gegenwart; Originalität und Kreativität blieben dabei auf der Strecke und führten zu einer ästhetisch wertlosen Dichtung.
Wertungen dieser Art hatten nicht nur in der Reorientierungsphase der Nachkriegszeit ein starkes Echo. Wenn Rudolf Alexander Schröder heute überhaupt noch in Literaturgeschichten auftaucht – und das geschieht nur selten –, dann wird er meist mit dem Etikett des Klassizismus und Traditionalismus versehen, dessen Leistung vor dem Hintergrund des Vorwurfs eines zu spät gekommenen Epigonen keiner konkreten literaturwissenschaftlichen Untersuchung mehr bedarf. Das große Werk an Übersetzungen wird ebenso wenig wahrgenommen wie die in großem Umfang produzierte Lyrik oder die Aufsätze und Reden zu poetischen Fragen und literarischen Vorbildern. Dieser Befund steht allerdings in eklatantem Widerspruch zur zeitgenössischen Rezeption und zum Selbstbild des Dichters. Mit Blick auf die erhebliche Anzahl an Würdigungsschriften wird geradezu der Eindruck erweckt, Schröders literarische Ausdrucksweise unterläge einem Geschmack, der in der Nachkriegszeit sukzessive aus der Mode kam und seine retrospektive Entwertung begünstigte. Denn während seine Texte bis in die 1950er-Jahre hinein fast durchgehend positiv als Ausdruck bildungsbürgerlicher Gelehrsamkeit gelesen werden und Schröder selbst zum Bewahrer und Förderer der Überlieferung ernannt wird, charakterisiert ihn vor allem die jüngere Nachkriegsgeneration zunehmend als rückwärtsgewandten, reaktionären Schriftsteller, der sich den zeitgenössischen Entwicklungen verschließe.
Die vorliegende Studie nimmt nun sowohl die ideologiekritischen Distanzierungsversuche als auch die weltanschaulich begründeten Instrumentalisierungen Schröders zum Anlass einer erneuten, literaturwissenschaftlich adäquateren Auseinandersetzung mit einem bestimmten Ausschnitt aus seinem literarischen Oeuvre. Dabei soll hier nicht der Versuch unternommen werden, Schröders schriftstellerische Leistung zu rehabilitieren und ihn einem neuen Leserkreis zugänglich zu machen. Die Dissonanz der Bewertung seiner schriftstellerischen Verfahren lädt allerdings zur genaueren Analyse und einer damit verknüpften Revision der Literaturgeschichtsschreibung des frühen 20. Jahrhunderts ein. Ausgehend von der Feststellung, dass Schröder schon früh einen gewissen Gestaltungswillen sowohl ästhetischer als auch politischer Art gezeigt hat und dass er von zeitgenössischen Schriftstellern, Herausgebern und zum Teil auch von ← 17 | 18 → Wissenschaftlern in seinem Tun für bedeutsam erachtet wurde, wird in dieser Arbeit die Frage nach der Verortung seiner Texte im Kontext einer widersprüchlichen und vielgestaltigen Moderne neu gestellt. Den Angelpunkt dazu bildet eine Analyse von Schröders sich selbst erteiltem gesellschaftlichen Auftrag und der damit verbundenen Poetik: Schröders lebenslanger Leitspruch war es, als Schriftsteller „Dienst an andern“23 zu tun. Unter diesem Dienst subsumiert er neben wirkungsästhetischen Kategorien im Sinne des Horazischen prodesse et delectare vor allem gesellschaftspolitische Absichten, die sich in einer sinnstiftenden, wertorientierten Dichtung abzeichnen sollten. Dass sich aus diesem Doppelanspruch auch Probleme ergaben, liegt auf der Hand und resultiert nicht zuletzt aus der Frage, auf welche der in einem solchen Konzept antizipierten „andern“ Schröder mit seiner poetischen Praxis wirken wollte. Sein Wille zu einer wertkonservierenden Wirkung der eigenen Texte steht allerdings außer Frage.
Viele seiner Gedichte zeigen dabei ein Verfahren, das sich in das Nachahmungskonzept der imitatio einordnen lässt.24 Im Jahr 1940 schreibt Schröder hierzu im Nachwort zum Band Die weltlichen Gedichte programmatisch:
Das Gefühl des Eingegliedertseins in einen jahrtausendealten Zusammenhang hat auch im übrigen die Ausgangspunkte meiner dichterischen Arbeit bestimmt. Namentlich in der Richtung, daß ich mich niemals als ein Neubeginner, Neutöner oder Verhänger neuer Tafeln, sondern als Fortsetzer, mitunter sogar – und zwar mit Vergnügen – als Wiederholer empfunden habe. Frühes Bewußtsein und spätere Erkenntnis der Kontinuität alles echten Geschehens hat mich dahin belehrt, daß die Gattungen und die Themen der Poesie seit ihrem ersten Hervortreten die gleichen geblieben sind. Wie ihr Ursprung, hinter Menschengedenken zurückreichend, kaum minder geheimnisvoll ist als der Ursprung der Sprache selbst, so ist ihre Zahl konstant. Sie läßt sich nicht beliebig vermehren. Was innerhalb dieser Konstanz an Neubildung, an Entwicklung, an Weiterbezeugung vor sich geht, geschieht auf dem Wege der Variation und Permutation.25
In der euphorischen Bejahung nachahmender Verfahren liegt das spezifisch Besondere Rudolf Alexander Schröders. Nicht „Neutöner“ möchte er sein, sondern sich als Teil eines „jahrtausendealten Zusammenhang[s]“ der Literatur sehen. Die Selbstbezeichnung als „Fortsetzer“ und „Wiederholer“ demonstriert die ← 18 | 19 → dem imitatio-Konzept inhärente „Geltung der Tradition“26 und geht bei Schröder einher mit der in seinen Texten weit verbreiteten Glorifizierung der Vorgänger. Wo imitatio in der römischen Antike sich konkret auf die „sprachlich-stilistische bzw. gattungs- und stoffbezogene Nachahmung normativer rhetorischer oder literarischer exempla“27 bezog, finden sich in Schröders Schriften allerdings zwei scheinbar paradoxe Konzepte wiederholenden Schreibens. Einerseits verarbeitet er die kanonischen Autoren der Weltliteratur, indem er einen umfangreichen Korpus neu übersetzt und seine eigene Lyrik an ganz konkreten exempla ausrichtet. Durch offensichtliche Markierungsverfahren werden die lyrischen Texte dann als Nachahmungen herausgestellt. Andererseits hebt er hervor, „daß die Gattungen und die Themen seit ihrem ersten Hervortreten die gleichen geblieben sind“, demontiert damit geradezu die Emporsetzung von Klassikern und betont das in seinen Essays durchweg verwendete Theorem einer problemgeschichtlichen Literaturgeschichtsschreibung. Sowohl Nachgeahmte als auch Nachahmende werden damit einem transhistorischen Prozess untergeordnet, in welchem die kanonischen Texte nicht mehr singuläre, unvergleichliche Höhepunkte, sondern nur noch als besonders exemplarische Werke einer bestimmten Konstante zur Geltung kommen.
Die Vorangstellung gesellschaftlicher Pflichten vor persönlichem Besitz oder Individualität bespricht Schröder auch in einem Brief an Peter Suhrkamp von 1942, der später als Brief vom Buchhalter in den Gesammelten Werken abdruckt wird. Hier fragt er:
Wo ich mit tiefster Erschütterung das „mea culpa, mea maxima culpa“ ausrufen, wo ich mit höchstem Stolz und bestem Gewissen ein Verdienst mein eigen nennen möchte, erhebt sich nicht jedesmal da, gerade da die Frage, ja kaum die Frage, sondern der nur allzuberechtigte Zweifel, ob denn das, was ich noch eben ohne Zögern als meine Schuld oder als mein Eigentum angesprochen, in wahrer, voller Wirklichkeit meines sei? Ist es mein? So mein, wie ich selber mein zu sein vermeine, oder ist es nicht vielmehr – könnte es, muß es nicht mit Notwendigkeit das Produkt unauszählbarer, unüberblickbarer Wirkungen und Ursachen sein, deren innerste Wurzeln, deren erster Anfang ich auf keinen Fall als mir allein zugehörig in Rechnung zu stellen vermöchte?
Was ist denn an dem ganzen Kerl
Originell zu nennen? ← 19 | 20 →
Goethe hat mit dieser lächelnden Wendung das Problem gestreift, von dem er recht wohl wußte, daß jeder, der sich mit ihm einlasse, sich in eine Zone ernstester Gefährdung begebe.28
Mit dem leicht abgewandelten Zitat des späten Goethe29 überführt Schröder die allgemeine Aufgabe der „Welt-Buchhaltung“30 in den Bereich der Literatur und bricht mithilfe seines berühmtesten Zeugens mit dem Originalitätsdiskurs. Es kommt Schröder weniger auf die Eigenleistung als vielmehr auf eine Beteiligung an wesentlichen gesellschaftlichen Prozessen an. Deshalb betont er in seinen theoretischen Ansätzen, während er in der schriftstellerischen Praxis stets ausgewählte Vorgängertexte bearbeitet, eine Form von objektivierter bzw. entpersonalisierter Literaturgeschichte, die eine „Kontinuität alles echten Geschehens“31 bezeuge.
Hier zeichnet sich hinter dem Konzept der Nachahmungspoetik ein konservatives Geschichtsverständnis ab, das zwar von einer fortschreitenden Geschichte ausgeht, welche aber nicht fortschrittsoptimistisch stets in der Neuerung zugleich die Besserung sieht. Stattdessen müsse gesellschaftlicher und kultureller Fortschritt mit viel Aufwand erarbeitet werden. Obgleich das in diesem wie in anderen Texten meist nur implizit angedeutete Geschichtsbild kaum expliziert wird, lassen sich Konsequenzen ableiten: Wenn man eine Konstanz des wesentlichen historischen Repertoires annimmt, kann man sich bei einer angemessenen Aufbereitung und Perspektivierung an der Geschichte orientieren oder sogar aus ihr für die Gegenwart lernen. Schröder verliert sich deshalb auch nicht in einem rückwärtsgewandten Traditionalismus, vielmehr konzeptualisiert er historistische Positionen, indem er die historischen Anleihen nicht einfach epigonal wiederholt, sondern variierend fortsetzt. Zieht man in Betracht, dass ← 20 | 21 → das Verständnis von Kreativität bis ins 18. Jahrhundert mit Konzeptionen zur „Erhaltung kultureller Traditionen“32 korrelierte, ist dies eine dem Selbstbild der Moderne zwar nicht entsprechende, aber dennoch in sich stimmige Position. Die vorliegende Arbeit versucht in diesem Sinne auch, die Spannung zwischen Historismus und einem auf die Gegenwart und Zukunft bezogenen gesellschaftlichen ‚Dichteramt‘, in welchem beispielsweise auch die Notwendigkeit neuer Übersetzungen älterer Texte eingeordnet werden können, auszuloten. Mit solchen Vorstellungen setzt Schröder der in der Gegenwart situierten, ‚modernen‘ Dichtung den „Januskopf“33 auf, der sich in beide Richtungen zu drehen vermag. Indem er sich schließlich selbst in einer historisch gewachsenen Kultur verortet und sich als „Spätgeborenen“34 herausstellt – ein im 19. Jahrhundert paradigmatisch verwendeter Begriff für epigonales Schreiben –, behauptet er sowohl die eigene Abhängigkeit von der Überlieferung als auch die Möglichkeit einer durch sie erst gestifteten Bereicherung. Die als Erbe oder Besitz deklarierten Vorgängertexte werden auf diese Weise in einen sinn- und identitätsstiftenden funktionalen Zusammenhang gebracht. Keiner der nachfolgenden Autoren kann sich der Kontinuität entziehen, sondern schreibt sich nolens volens in die Tradition ein. Dies mag der Grund sein, weshalb Schröder vorläufig keinen axiologischen Unterschied zwischen imitare, dem Wiederholen, und aemulari, dem Fortsetzen, macht.35 ← 21 | 22 →
Solche Gedankenspiele provozieren in Schröders literarischen Ausdrucks- und Darstellungsformen eine große Anzahl an intertextuellen Anspielungen oder offensichtlichen Einflüssen, die seine literarische und sprachliche Gelehrsamkeit belegen. Zudem finden sich kontinuierlich markierte Verweise auf literarische Traditionen; er beschwört überlieferte Formen herauf, die einen Hinweis darauf geben, dass sich Schröder poetologisch gegen Vorstellungen vom Originalgenie abgrenzt und sich bewusst an Konzepten wie der antiken imitatio orientiert. Einen ähnlichen Eindruck erhält man bei der Betrachtung der großen Anzahl und der Breite seines übersetzerischen Werks, das ihm ebenfalls einen besonderen Traditionsbezug aufzubauen erlaubt. Unterstützt wird das Ganze durch eine Vielzahl an Geschichtsreflexionen und Hinweisen auf historische Konstanten in den Essays und Reden. So wird etwa auf Sprachwandel hingewiesen, andererseits aber stets der Versuch unternommen, auf den etymologischen Sinngehalt eines Wortes zurückzugreifen.
Wieso aber baut ein Schriftsteller zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine Texte nahezu ausschließlich auf der Überlieferung auf? Man kann Schröders Texte als epigonale Literatur lesen oder ausgehend von Wertungsfragen als unästhetisch abtun. Oder aber man bemüht sich um eine Rekonstruktion der Funktionen dieses scheinbar rein rückwärtsgewandten Vorgehens und kontextualisiert es ideengeschichtlich als Antwort auf die Krise des Historismus, die Pluralität von Weltanschauungen und das Angebot anders gearteter Geschichtsbilder im frühen 20. Jahrhundert. Erst vor diesem Hintergrund lässt sich das Spektrum der von Schröder evozierten Geschichtsbilder und sein Selbstverständnis als Schriftsteller mit einem gesellschaftspolitischen Auftrag angemessen darstellen und ins Verhältnis zu seinen poetologischen Konzepten setzen. Es wird sich zeigen, dass sich Geschichte, Politik und Poetik geradezu gegenseitig bedingen. Um zu verdeutlichen, dass sich der Künstler Schröder als homo politicus verstanden hat, hat man sich aber auf die im Zitat aus Schröders Nachwort des Bands Die weltlichen Gedichte sichtbar werdende Programmatik genauer einzulassen und Schröders poetische Auseinandersetzung mit Politik und Geschichte, seine poetologischen und gesellschaftlichen Selbstverortungen und das produktionsästhetische Konzept seiner Nachahmungspoetik im Detail nachzuzeichnen. Auch der Vorwurf beziehungsweise die Akzeptanz epigonalen Schreibens ist in diesem Umfeld neu zu evaluieren; für eine hermeneutisch sinnvolle Untersuchung müssen eben diese Schreibverfahren und Methoden am Kontext der Zeitdiskurse gespiegelt werden.
Die Abwertung Schröders zum epigonalen Schriftsteller – und damit einher geht die Abwertung aller schriftstellerischen Leistung im Allgemeinen – dürfte ← 22 | 23 → einer der Gründe sein, weshalb sich die Forschung bisher sehr zurückhaltend mit ihm und seinem Werk beschäftigt hat. Dabei legt gerade die intensive Auseinandersetzung mit seinem poetologischen Konzept und seinem methodischen Vorgehen einen neuen Blick auf den literaturgeschichtlichen Prozess der Moderne frei. Die Literatur des frühen 20. Jahrhunderts lässt sich nicht in avantgardistische Moderne und rückwärtsgewandten Konservatismus aufspalten. Die scheinbare Dichotomie von Moderne und Konservatismus gilt es vielmehr aufzubrechen – und hierzu will die vorliegende Studie einen Beitrag leisten. Dazu aber müssen auch die heute nicht mehr kanonischen Autoren befragt werden. Die Relektüre von Schröders Texten vor dem Hintergrund seiner Poetik kann, so soll im Folgenden deutlich werden, unser Verständnis der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts entscheidend vertiefen.
1.1 Rezeptions- und Forschungsgeschichte
Galt Schröder zu Lebzeiten als bedeutender Autor der deutschen Literaturszene, was er sich vor allem durch seine Vermittlungstätigkeit und seine Mitarbeit an Zeitschriftenprojekten erarbeitet hatte, so wurde er von der Literaturwissenschaft der Bundesrepublik nach seinem Tod 1962 kaum noch zur Kenntnis genommen. Das umfangreiche Renommee seiner Person zu Lebzeiten spiegelt sich in den zahlreichen Fest- und Würdigungsschriften, die zu seinen Geburtstagsjubiläen erschienen, oft eine Zusammenschau seines Werks darstellen und nur ansatzweise eine interpretatorische Leistung vollbringen.36 Seit Ende der ← 23 | 24 → 1930er-Jahre werden affirmierende Forschungsaufsätze zu Schröder publiziert, die vor allem in Schröders Sinne die Anbindung an die Überlieferung in formaler und sprachlicher Hinsicht und sein damit verbundenes poetologisches Konzept wissenschaftlich zu konfirmieren versuchen. Solche Auseinandersetzungen liefern sowohl Autoren wie Carl Friedrich Wilhelm Behl37, Manfred Hausmann38 und Reinhold Schneider39, Literaturkritiker wie Herbert Ahl40, Hans Egon Holthusen41, Karl Korn42 und Max Rychner43, Wissenschaftler anderer Disziplinen wie der Theologe Johannes Pfeiffer44 oder der Politikwissenschaftler ← 24 | 25 → Dolf Sternberger45 als auch Literaturwissenschaftler wie Walther Brecht46, Max von Brück47, Wilhelm Grenzmann48, Werner Milch49 und Walter Naumann50. Besonders hervorheben muss man die Arbeit von Kurt Berger, die erstmals eine Gesamtinterpretation des lyrischen Werks bietet und darin vor allem die Hölderlin-Bezüge herausstellt.51 Zur gleichen Zeit bemüht sich Rudolf Adolph um die Aufarbeitung der Biographie Schröders.52 Er ist auch der Herausgeber ← 25 | 26 → der einzigen umfassenden Schröder-Bibliographie, die aus dem Jahr 1953 stammend freilich nicht vollständig ist.53
Parallel dazu tauchen vermehrt ab 1950 kritische Stimmen auf. Immer noch auf das lyrische Werk bezogen werden nun die altertümliche Sprache, der hohe pathetische Ton und die Formentreue problematisiert. Neben Hans Egon Holthusen äußert sich auch Emil Staiger, beide seit den 1930er-Jahren mit Schröder bekannt, mehr oder weniger verhalten kritisch über Schröders Lyrik.54 War Schröder in der direkten Nachkriegszeit vorerst vollkommen unproblematisch der ‚Inneren Emigration‘ zugeordnet worden,55 erinnert man sich jetzt auch wieder an die völkische Lyrik der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Dies kulminiert in der Erinnerung Günter Grass’ an dessen „Ungedicht“56, zu welchem er Schröders Gedicht Deutscher Schwur bestimmt. Zwar entstammt das Gedicht der Kriegseuphorie von 1914, durch die Instrumentalisierung der Nationalsozialisten war es für den 1927 geborenen Repräsentanten einer jungen Schriftstellergeneration aber zum Markenzeichen einer völkisch ausgerichteten älteren Generation und Beweis für eine direkte Verbindungslinie von „Krone, Weimar und Führerstaat“57 geworden. Damit war Schröders Lyrik vorerst eine Generalabsage erteilt, die in der Forschung der 1960er- und 1970er-Jahre zu Desinteresse gegenüber seiner nicht-christlichen Lyrik und seiner essayistischen Schriften führte.
Hiervon getrennt konnte eine christliche Rezeptionslinie weiter bestehen. Obgleich Schröder wegen seiner christlichen Gedichtbände, seinem Einsatz für ← 26 | 27 → das deutsche Kirchenlied und seiner Beteiligung in christlichen Gruppierungen vereinzelt schon seit den 1930er-Jahren als christlicher Dichter wahrgenommen wird,58 nimmt die Auseinandersetzung mit ihm in diesem Forschungssektor in den 1960er-Jahren noch zu.59 Unter diesem Blickwinkel werden dann auch die Gedichtzyklen, die Schröder selbst der weltlichen Dichtung zugeordnet hat, mit christlicher Brille gelesen.60 Hans Jürgen Baden geht dabei so weit, der dezidiert geistlichen Lyrik Schröders eine Absage zu erteilen, um dann die weltlichen Gedichtzyklen Die Ballade vom Wandersmann (1937), Das Buch vom Widerhall (1938) und Alten Mannes Sommer (1944) als genuin christliche Lyrik auszulegen.61 Auch in neuerer Zeit wird diese Rezeption fortgeführt, vor allem Marion Heide-Münnich und Ingeborg Scholz werden zu Ausdeutern christlicher Werte in Schröders Lyrik,62 sie verkürzen das Oeuvre dadurch jedoch um wesentliche Aspekte.63
Die Rezeption der größtenteils in gebundener Rede vorliegenden Übersetzungen verläuft lange Zeit parallel zu der des lyrischen Werks. Schon in Andreas Heuslers Versanalysen erhält Schröder mit der Odyssee-Übersetzung ebenso viele Lobesehren wie für seine eigenen Odendichtungen.64 Im Zusammenhang ← 27 | 28 → einer werkorientierten Übersetzungstheorie gilt er unter Zeitgenossen als „Nachdichter“ und wird entsprechend positiv besprochen.65 Und obgleich schon gegen Ende der 1930er-Jahre von den Theaterbühnen kommend erste kritische Stimmen zu Schröders Sprachgestaltung auftauchen,66 wird bis heute der formale Restitutionswille und die sprachliche Ausgestaltung der Übersetzungen meist positiv bewertet. Dies betrifft sowohl die Shakespeare-Übersetzungen67 als auch die Übersetzungen der französischen Klassiker68, der flämischen Literatur69 oder die Übertragungen antiker Texte70. Erst die neuere Forschung zieht vor dem Hintergrund einer sich gewandelten Übersetzungstheorie das Gelingen ← 28 | 29 → der Übersetzungen in Zweifel, wobei der Fokus allerdings auf dem verwendeten Sprachmaterial bleibt und weder die Textauswahl noch die poetologische Funktion der Übersetzungsmethode hinterfragt wird.71 Im Gegensatz hierzu liefert Christian Klotz eine im Kontext der ‚Inneren Emigration‘ stehende Besprechung der Woestijne-Übersetzungen von 1938, in welcher er sie historisch kontextualisiert und als Widerstandsliteratur gegen das NS-Regime entlarvt.72
Neben den christlichen Deutungen und den Fragen nach der formalen sowie sprachlichen Ausgestaltung der Lyrik beziehungsweise der Übersetzungen reiht sich Klotz hier in eine dritte Rezeptionslinie ein, die Schröder selbst angeregt hatte: die Frage nach der politischen Dimension seines Schaffens. Angestoßen wurde die Diskussion Ende der 1970er-Jahre unter anderem von David D. Stewart, der in einer Werküberschau Schröders „zu wenig systematisch gewürdigte politische Lyrik“73 neu interpretiert und dabei Kontinuitäten von den frühen Gedichtzyklen bis zur Lyrik der NS-Zeit herausarbeitet. Auch Karl Korn hatte 1968 Die Ballade vom Wandersmann (1937) auf ihre verdeckte Schreibweise hin gelesen.74 Solche Untersuchungen konzentrieren sich erst auf den zweiten Blick auf das literarische Werk. Ausgehend von einer postulierten ‚Stunde Null‘ nach 1945 stehen eher soziologische Fragen im Fokus, wie sie etwa Friedrich Denk allgemein gestellt hat: ← 29 | 30 →
50 Jahre danach [nach Thomas Manns Verurteilung der Literatur der ‚Inneren Emigration‘, YZ] sind die damals gedruckten Bücher zwar nicht eingestampft, aber weitgehend vergessen. Viele haben es in der Tat verdient, weil ihnen der „Geruch von Blut und Schande“ anhaftete. Ob auch alle anderen zu Recht vergessen wurden[?]75
Nun wird auch Schröder politisch rehabilitiert, sowohl in Bezug auf seine Tätigkeiten im Ersten Weltkrieg als auch vor allem im Kontext des Nationalsozialismus.76 Tatsächlich geht es in solchen Neubetrachtungen vor allem um den Autor Schröder und weniger um die Analyse und Interpretation seiner Texte. Vor dem Hintergrund eines solchen literatursoziologischen Interesses wurde in letzter Zeit vermehrt auch Schröders Verflechtung in gesellschaftlichen und literarischen Kreisen untersucht, so etwa in den künstlerischen Gruppenbildungen um und nach 1900, vor allem die Positionierungsversuche mit Rudolf Borchardt gegen den George-Kreis,77 Schröders Haltung zum Nationalsozialismus und die ← 30 | 31 → Einbindungen in die christlichen Kreise um den Eckart-Verlag78 oder Schröders konfliktreiche Selbstverortung im literarischen Feld der 1950er-Jahre79. In diesen Untersuchungen zeigt sich immer wieder, welche zentrale Rolle Schröder in vielen Bereichen gespielt hat.
Zu Schröders 50. Todestag im Jahr 2012 haben zwei Tagungen sich der Person Schröders erneut genähert. Die in Schröders Heimatstadt Bremen ausgerichtete Tagung „Rudolf Alexander Schröder: ein großer Europäer aus Bremen“ gab einen Überblick über das Leben und Werk des heute nahezu unbekannten Schriftstellers, indem sie sowohl auf die Breite von Schröders schriftstellerischem Schaffen, sprich seiner Übersetzungen und seiner Lyrik, verweist, als auch den Innenarchitekten, Architekten und Direktor der Bremer Kunsthalle (1946–1950) in den Blick nimmt sowie nach seiner Vernetzung mit Schriftstellerkollegen und seiner Positionierung auf dem literarischen Markt der Nachkriegszeit fragt.80 Damit verweist der daraus entstandene Sammelband zwar auf den Facettenreichtum von Schröders künstlerischen Tätigkeiten, geht aber kaum auf die Poetik Schröders und seine Textverfahren ein. Hervorzuheben ist allerdings der Aufsatz von Thomas Althaus, der die tautologischen Bezüge in Schröders Lyrik herausarbeitet und sie im Kontext der Spannung von Moderne und Traditionalismus bespricht.81 Die zweite Tagung, die im Deutschen Literaturarchiv in Marbach ausgerichtet wurde, stand unter dem Motto „Politik eines Unpolitischen?“. Sie ist eine Fortsetzung der Diskussionen um eine politische Verortung Schröders der ← 31 | 32 → letzten Jahrzehnte, wobei sowohl durch Netzwerkforschung als auch durch eine gezielt politische Interpretation seiner Lyrik Schröder gesellschaftspolitisch verortet werden sollte.82 Dienlich bei einem solchen Vorhaben ist, dass die auf eine intensive Vernetzung hinweisenden Korrespondenzen, ebenso wie die Manuskripte, weitestgehend erhalten sind und – wenn nicht schon veröffentlicht83 – im Deutschen Literaturarchiv Marbach eingesehen werden können.84 Da Schröder mit seinem späten Verleger Peter Suhrkamp 1953 seine Gesammelten Werke herausgab, in welchen von den Übersetzungen und essayistischen Schriften der größere Teil, von der Lyrik – mit vollständigem Ausschluss der frühen Lyrik vor 1905 und einigen Lücken in den späteren Zyklen – größtenteils abgedruckt ist, ist sein Werk gut zugänglich.85 Die Archivalien sind aber erst in Ansätzen für die Schröder-Forschung nutzbar gemacht worden. ← 32 | 33 →
1.2 Forschungsthesen und Aufbau der Arbeit
Durch die weitgehende Ignoranz, mit der man Schröder lange Zeit begegnet ist, ist die Forschung zu ihm noch immer stark defizitär. Die biographischen Rekonstruktionen im historischen Kontext und innerhalb bestimmter Netzwerke haben allerdings gezeigt, dass sich Schröder zeitlebens als wichtigen Bestandteil der Gesellschaft verstanden hat und von vielen Zeitgenossen auch so wahrgenommen wurde. In seinen publizistischen Schriften kommt dies, wie eingangs geschildert, unter dem Schlagwort des ‚Dienst am andern‘ zum Ausdruck. Obgleich die Forschung bisher die Positionierungsversuche Schröders anhand der Aufnahme seiner Person in verschiedenen Netzwerken und Gruppen freigelegt und damit seine gesellschaftliche Bedeutung verifiziert hat, wurde versäumt, die eigentlich poetologische Dimension dieser Aussage zu analysieren. Diesem Desiderat versucht diese Arbeit zu begegnen, indem sie Schröders Texte vor dem Hintergrund seiner geschichtsphilosophischen Poetik untersucht. Zu bedenken ist dabei, dass die poetologischen Selbstkommentare in den Essays vorrangig ab den späten 1920er-Jahren auftauchen, Schröder aber schon seit der Jahrhundertwende Übersetzungen und Gedichte schreibt. Dem kann allerdings mit der Annahme einer intendierten Werkeinheit begegnet werden. Während sich die großen Übersetzungsprojekte geradezu über Jahrzehnte hinziehen und damit jegliche Schlussfolgerungen auf Brüche im Werk zunichtemachen, wird hier vor dem Hintergrund dessen, dass Schröder 1940, 1949 und erneut 1952 gesammelte Gedichtbände herausgibt und damit die Bandbreite seines lyrischen Schaffens in einen gemeinsamen Werkkontext stellt, auch ein Werkganzes im Bereich der Gedichte vorausgesetzt.86
Mit der Untersuchung der spezifisch Schröder’schen Poetik und seiner Geschichtsbilder begegnet die Arbeit der Diskrepanz zwischen dem Selbstverständnis Schröders und der Fremdwahrnehmung: Anstatt ihn als defizitären Epigonen und Traditionalisten zu denunzieren, wird die Signifikanz seiner Poetik für die Modernedebatte der Literaturgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts sichtbar. Hierfür werden folgende zentrale Annahmen gemacht: ← 33 | 34 →
Details
- Pages
- 351
- Publication Year
- 2016
- ISBN (ePUB)
- 9783631692615
- ISBN (MOBI)
- 9783631692622
- ISBN (PDF)
- 9783653069525
- ISBN (Hardcover)
- 9783631675366
- DOI
- 10.3726/978-3-653-06952-5
- Language
- German
- Publication date
- 2016 (August)
- Keywords
- ästhetischer Konservatismus Hofmannsthal George Geschichtsverständnis politischer Mitgestaltungswille Poetik Übersetzungstheorie Kulturkritik
- Published
- Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 351 S.