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Die Eickstedt-Sammlung aus Südindien

Differenzierte Wahrnehmungen kolonialer Fotografien und Objekte

von Katja Müller (Autor:in)
©2015 Dissertation 307 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch nimmt die Eickstedt-Sammlung aus Südindien zum Ausgangspunkt und verbindet ethnologische Forschung im Museum mit postkolonialer Kritik an der Aneignung von Objekten und Fotografien. Dabei vermittelt die Sammlung als ethnohistorische Quellen ein Bild der Gesellschaft Südindiens in den 1920er-Jahren. Gleichzeitig stellt sich die Frage nach «anderen» Wahrnehmungen: Wer stand mit welcher Intension hinter der Kamera? Und wie interpretiert man die Fotografien und Objekte im heutigen Südindien? Katja Müller stellt verschiedene Narrative aus Indien und Deutschland nebeneinander und macht damit deutlich, welche theoretischen Zusammenhänge und praktischen Machtstrukturen zwischen Objekten, Fotografien und menschlichen Akteuren damals wie heute bestehen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • Einleitung
  • Warum die Arbeit an ethnografischen Objekten?
  • Fragestellung
  • Das Fallbeispiel und die Verortung der Forschung
  • Methode und Sampling
  • 1. Die Welt der Dinge
  • Das Erkennen der Dinge - Philosophische Ansätze Die Wertung, Ordnung und Handhabung der
  • Dinge - soziologische Perspektiven
  • Die Dinge als Zeichen für - Semiotische Ansätze
  • Dinge in der Ethnologie
  • Ausgangspunkte, zusammengefasst
  • 2. Ein Bild von der Realität
  • Historisch-technische Entwicklung der Fotografie
  • Was ist Fotografie?
  • Ethnologisch-anthropologische Fotografie
  • Wirkung von Fotografien
  • Fotografien in Archiven
  • Fotografische Ausgangspunkte, zusammengefasst
  • 3. Eickstedt und die Sammlung
  • Egon von Eickstedt
  • Die Indien-Expedition Eickstedts
  • Eckdaten der Objekt- und Fotografiesammlung
  • Eickstedt in Südindien
  • 4. Objektanalyse
  • Kurze Geschichte Malabars - Zur indischen Verortung der Objekt- und Fotografiesammlung
  • Die Anlage der Objekt-Sammlung in Nordmalabar
  • Die Tiyya als Toddytapper
  • Kleidung, Schuhe und Kopfbedeckung
  • Haushaltsgüter
  • Schutz gegen den Bösen Blick
  • Hinduistische Figuren
  • teyyam/teyyattam
  • Zusammenfassende Überlegungen
  • Abbildungen der Objekte
  • 5. Fotografieanalyse
  • Die untersuchten Fotografien
  • Eickstedt als Fotograf in Südindien - Interesse und Bildqualität
  • Der Böse Blick in der Kamera? Eickstedts Aufnahmepraxis in Nordmalabar
  • Die anthropologischen Beispielfotografien
  • Ethnografische Fotografien
  • Zusammenfassende Überlegungen
  • Abbildungen der Fotografien
  • 6. In(ter)vention und Wiedererleben - Wahrnehmungen der Fotografien und Objekte in Nordmalabar
  • Muttappan teyyam - Ausdruck gesellschaftlicher Konstellationen in religiösem Ritual
  • Sinnliche Erfahrungen und veränderte Materialität
  • Nostalgie und Selbstwahrnehmung
  • vyali mukham - Glaubensvorstellungen der indischen Mittelklasse zwischen Tradition und Moderne
  • Valliyurkavu - Eindrücke von der Beziehung zwischen Hindus und Adivasi in Nordmalabar
  • Fotografien zum eigenen Beruf - das Toddytapping
  • Zusammenfassende Überlegungen
  • 7. Schlussfolgerungen
  • Machtfaktor Eickstedt vs. Nostalgie und Identifizierung
  • Reziproker Nutzen visueller Rückführungen?
  • Die Dynamiken zwischen Mensch, Objekt und Fotografie
  • Abbildungsverzeichnis
  • Literaturverzeichnis
  • Schriftliche Archivquellen

← 10 | 11 → Vorwort

Es gibt nur eine falsche Sicht der Dinge: der Glaube, meine Sicht sei die einzig richtige. (Nagarjuna)

Ethnologische Forschung im Museum setzt sich mit Objekten und Sammlungen auseinander. Sie stellt Fragen zur Bedeutung von Objekten, versucht ein Verstehen ihrer Herkunft, ihrer Verwendungen und ihres Zwecks. Sie stellt Beziehungen her zwischen materieller und immaterieller Kultur, vergleicht verschiedene Ausdrucksformen in Raum und Zeit. Sie nimmt Veränderungen und Gemeinsamkeiten wahr, zieht induktive Schlüsse und stellt Schemata und Lesarten vor. Forschung im Museum stellt Sinnzusammenhänge zwischen einzelnen Objekten her und begreift sie als Träger eines eingeschriebenen Wissens, als Repräsentation kultureller Vorstellungen und Techniken sowie als materialisiertes Kulturgut.

Gleichzeitig stehen ethnologische Museen und ihre Arbeit massiv in der Kritik. Als ‚Konserven des Kolonialismus‘ versinnbildlichen sie koloniale Machtmechanismen. Große Teile ihrer Sammlungen, oftmals auch ihre Gründung, stehen in einer engen Beziehung zu kolonialen Strukturen, die auf der Basis von Unterdrückung und Ausbeutung fungierten. Oft machten erst diese Strukturen in den Anfängen die Anlage der umfangreichen Objekt- und Fotografiesammlungen möglich. Die Be- und Verwahrung dieser Sammlungen bedeutet somit gleichzeitig auch die Erhaltung der Zeugen und Folgen dieser kolonialen Verhältnisse. Gleichzeitig werden mit der Neuinszenierung musealer Sammlungen zu selten öffentliche Diskurse verbunden, die diese historischen Konstellationen thematisieren und sie damit auch als historisch verorten. Somit lassen sich Parallelen zwischen einem ungleichen Machtverhältnis zu Zeiten des Erwerbs und zu Zeiten der Interpretationen erkennen, die weiterhin Sprechautortäten des globalen Nordens favorisieren. Postkoloniale Theoretiker fordern weiterhin eine kritische Auseinandersetzung mit dem Erbe der Museen, ein Hinterfragen von Autoritäten und eine Artikulation bisher ungehörter Stimmen.

Meine Arbeit an der Eickstedt-Sammlung versucht Elemente aus beiden Ansprüchen miteinander zu verbinden. Als mich das Museum - ab 2009 im Rahmen eines wissenschaftlichen Volontariats - mit der ‚Aufarbeitung der Sammlung‘ betreute, stand die Forschung zum Verwendungszusammenhang der Objekte in der Herkunftsregion im Vordergrund sowie die Erschließung des Inhalts der zugehörigen Fotografien. Beide Teilbereiche des Konvoluts geben Aufschluss über bestimmte Elemente der Gesellschaft Südindiens zur Zeit der Sammlung ← 11 | 12 → bzw. Entstehung der Bilder. In diesem Sinne sind die Fotografien und Objekte ethnohistorische Quellen. Sie sind Repräsentationsformen kultureller und gesellschaftlicher Zusammenhänge, die in Raum und Zeit klar verortbar sind. Diese Zusammenhänge herauszuarbeiten und somit zu einem besseren Verstehen der Objekte und Fotografien beizutragen, ist der eine Teil dieser Arbeit.

Der andere Teil nimmt die postkoloniale Kritik ernst, ohne in allen Punkten mit ihr überein zu stimmen. Ich stelle bewusst die Frage nach der ‚anderen Seite‘ des Anlegens der Sammlung: Wer stand mit welcher Intention hinter der Kamera? Was lässt sich über den Sammler und Fotografen sagen? Welche Machtstrukturen werden hier deutlich, und inwiefern schreiben sie sich bis heute – und somit auch in dieser hier vorliegenden Arbeit – fort? Dabei geht es nicht um eine Be- oder Verurteilung der geleisteten Arbeiten, sondern um eine Offenlegung der historischen Kontexte der Sammlung, die im konkreten Fall auf indischer genauso wie auf deutscher Seite liegen. Nur eine mehrdimensionale Bestimmung und Untersuchung der determinierenden Faktoren der Sammlung ermöglicht einen wissenschaftlichen Zugang zu den Objekten, der nach postkolonialer Kritik noch Forschung im ethnologischen Museum betreiben kann. Eine Dekonstruktion der Sammlung ist notwendig. Gleichzeitig sollen die Eigenschaften und Biografien der Objekte als Träger von Wissen nicht außer Acht gelassen werden. Die ethnologische Forschung kann dies bewerkstelligen.

Parallel zu einer mehrstimmigen Untersuchung der Entstehung der Sammlung beinhaltet die Arbeit auch eine mehrstimmige Interpretation in der Wahrnehmung. Damit trägt sie der postmodernen Betonung der Subjektivität und Relativität Rechnung. Die Narration, wie ich sie im Rahmen der ethnohistorischen Sammlungsaufarbeitung hervorgebracht habe, wird neben verschiedene Narrative gestellt, die im heutigen Südindien anhand der Fotografien und Objekte entstanden sind. Die visuelle Rückführung der Sammlung ist ein wesentlicher Bestandteil dieser Forschung, verweist sie doch nicht nur auf Unzulänglichkeiten eines singulären Blickwinkels im Kontext eines intersubjektiven Wissens, sondern auch auf die Handlungsfähigkeit der Dinge sowie die emotionalen und semantischen Verbindungen zwischen Wahrnehmenden und Wahrgenommenem.

Mit diesen beiden Vorgehensweisen wird zugleich ein Schwachpunkt der Dekonstruktion im Rahmen dieser Arbeit offensichtlich: Auf der einen Seite verweise ich auf die Individualität der Wahrnehmung, die Abhängigkeit vom Betrachter, und versuche doch gleichzeitig eine ‚stringente‘ Narrative über die Sammlung, ihre Entstehung und die Biografie ihrer Objekte zu erzeugen. Dieser (scheinbare) Widerspruch löst sich jedoch auf, wenn wir akzeptieren, dass ← 12 | 13 → es hier nicht um die Produktion „einer Wahrheit“ geht. Unser Anspruch kann nicht sein, eine unumstößliche Lesart herzustellen und die Aufarbeitung einer Sammlung abschließend zu bewerkstelligen. Es gibt keine „eine Wahrheit“, sondern nur eine Kakophonie an Stimmen, die ihre Wahrnehmung artikulieren. Im Rahmen dieser Mehrstimmigkeit hat dennoch jeder von uns das Recht, sich im postmodernen Fluss zu positionieren und etwas zu produzieren, das uns im gegenwärtigen Moment wahr und sinnvoll erscheint. Damit gehen wir über die zweifellos notwendige Dekonstruktion hinaus und bewegen uns hin zu einem konstruktiveren Umgang mit Wissenskonstellationen, der auch die Ungereimtheiten und Widersprüche menschlicher Begegnungen akzeptiert.

Mein Dank geht an alle, die diese Arbeit möglich gemacht haben: An meine Freunde und Bekannten in Kerala, an meinen Doktorvater Frank Heidemann, an alle Museumsmitarbeiter in Leipzig und Dresden, die mich unterstützt haben, an die Fazit-Stiftung und den DAAD, an alle Mitstreiter der Kolloquien und an Hanne. Ich danke besonders den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden für die Möglichkeit, mit den Fotografien, Objekten und Tagebüchern zu arbeiten und für die freundliche Genehmigung zur Reproduktion. Danke nicht zuletzt an meine Familie, meine Freunde und meinen Freund, ohne die diese Arbeit nicht zustande gekommen wäre.

← 14 | 15 → Einleitung

These artefacts will speak to you, and what they say will be shaped by what you are as well as by what they are. But that they speak to you should be a potent reminder of the humanity you share with the men and women that made them. (Kwame Anthony Appiah)

Warum die Arbeit an ethnografischen Objekten?

Spätestens seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hat sich die ethnologische Forschung von der materiellen Kultur emanzipiert und weitgehend abgewandt. Die hier vorliegende Arbeit nimmt dennoch eine museale Sammlung, bestehend aus Objekten und Fotografien, zum zentralen Punkt der wissenschaftlichen Analyse. Ein Rückschritt? Schließlich wurden die ethnologische Theoriebildung und empirische Forschung an materiellen Kulturgütern für Jahrzehnte als ein fades Relikt des neunzehnten Jahrhunderts abgetan (Fabian 2004: 47). Museen und mit ihnen die museale ethnologische Forschung sowie die Forschung am Objekt überhaupt rückten als überholt und nicht zeitgemäß in den Hintergrund. Sie hatten zwar zunächst den Ausgangspunkt sowohl für die Entstehung von Kuriositätenkammern und späteren Museen ethnologischer Art als auch für die Ethnologie als wissenschaftliche Disziplin gebildet, aber in ihren Anfängen versuchte die Ethnologie die Erschließung der Zusammenhänge zwischen Objekten aus anderen Kulturen auf dokumentarische und ‚rationale‘ Art.

Gemessen an den damaligen Maßstäben der Naturwissenschaft bedeutete das vor allem eine Systematisierung des Wissens über die Menschen der Welt. Im Laufe der Zeit hat eine Trennung eingesetzt zwischen ethnologischen Museen auf der einen Seite, in denen sich eine Überfülle von Objekten befindet – die unter konkreten politischen und gesellschaftlichen Bedingungen teils mit wissenschaftlichem Interesse, teils aus Neugier und Interesse an Kuriosem zusammengetragen wurden – und der universitären Ethnologie auf der anderen Seite, die von der Art der Auseinandersetzung mit den Objekten auf deren Ungenügsamkeit im Allgemeinen schloss und sich der Untersuchung immaterieller Kultur verschrieb. Ethnologische Forschung bedeutete spätestens seit den 1950er Jahren die Erschließung von vorrangig immateriellen gesellschaftlichen und kulturellen Phänomenen. Objekte, insbesondere museale Objekte, spielten ← 15 | 16 → über einen langen Zeitraum hinweg in der universitär geprägten ethnologischen Forschung, wenn überhaupt, eine sehr untergeordnete Rolle. (Haller 2012: 15f.)

Der Zugang zum Objekt führt deswegen heute nicht über die ausgefahrenen Schienen der ethnologischen Ansätze der 1920er Jahre, sondern muss sich auf interdisziplinären Bahnen bewegen und Überlegungen aufgreifen, die Objekte nicht ausschließlich zur Dokumentation und Systematisierung des ‚Anderen‘ begreifen. Ein Objekt wird zwar nur durch seine Wahrnehmung existent, ist aber immer „mehr als das Auge sieht“. Während sich philosophische Betrachtungen der intensiven theoretischen Diskussion der Wahrnehmung von Gegenständen widmen (vgl. Husserl (2009 [1913]) als prägend für die Phänomenologie), können Objekte darüber hinaus Träger von Wissen sein, das sich in konkreter Form manifestiert. Sie sind in gesellschaftliche Prozesse eingebunden und können verschiedene räumliche und zeitliche Zusammenhänge nachvollziehbar machen. Sie stehen in Verbindungen zueinander und in Verbindung zu Menschen. Diese Verbindungen werden vor allem in der Soziologie und den Kulturwissenschaften diskutiert (Tietmeyer et al. 2010; Frank et al. 2007; Saurma-Jeltsch und Eisenbeiß 2010). Dinge sind flexibel, sind ständig Veränderungen unterworfen und führen dazu, dass sich neben den Dingen auch die Menschen in immer neuen Konstruktionen zusammenfinden. Menschen definieren sich durch andere Menschen ebenso wie durch Gegenstände, die sie umgeben oder mit denen sie sich umgeben möchten. Diese Dinge auf der anderen Seite werden durch die Betrachtung, Interpretation und Handhabung von Menschen mit Bedeutungen aufgeladen und entstehen auf diese Art und Weise immer wieder neu. Eine solche Wechselwirkung zwischen Mensch und Ding wird in der neueren Diskussion stark betont.1 Dabei geht die Diskussion zum Teil auf Marx und dessen Überlegungen zu Marktanalysen und Kapitalkritik zurück, unterscheidet sich aber von diesen durch eine stärker präsente und umfassendere Rolle, die den Dingen bei der Konstruktion von Gesellschaft und Handeln zugeschrieben wird. Im weitesten Sinne führen die Aussagen neuerer Studien materieller Kultur zu einer Forderung nach gleichberechtigter Anerkennung von Mensch und Ding, die auf der Handlungsfähigkeit beider gleichermaßen basiert (Latour 2001, 2009).

Auch wenn diese Forderung diskutiert werden kann, scheint es in den meisten Sozialwissenschaften inzwischen Konsens zu sein, dass Objekte zumindest in Verbindung mit Menschen eine aktive Rolle spielen (Saurma-Jeltsch und Eisenbeiß 2010: 10). Objekte sind Handlungsträger insofern, als dass sie Veränderungen hervorrufen. Sie beschleunigen oder verlangsamen, sie ermöglichen ← 16 | 17 → oder verhindern, verändern und erhalten. Sie gehören zum Menschen, sie werden durch ihn wahrnehmbar, durch seine Sinne erfahrbar und ermöglichen dem Menschen durch ihre Anwesenheit die körperliche Erfahrung. Sie haben praktische Auswirkungen auf das Verständnis und das Handeln des Menschen in der Welt und sind als einzelne Objekte auch in der Lage, das Verständnis und das Handeln des Menschen in seiner ganz konkreten Umwelt zu bestimmen. Während hierbei die symbolische Wirkkraft eines Objektes ausschlaggebend sein kann, ist auch seine Materialität als Wirkmacht zu beachten. Objekte sind als elementarer Bestandteil unserer Lebenswirklichkeit in mehrfacher Hinsicht unersetzbar: Sie sind wirklichkeitskonstruierend in ihrer Materialität und besitzen eine Handlungsfähigkeit, die in der Interaktion mit dem Menschen besonders deutlich hervortritt.

Die Verbindung zwischen Mensch und Objekt wird zudem immer dann deutlich, wenn von Objektbiografien die Rede ist (vgl. Kopytoff 1986). Objekte sind gerade durch die relative Unveränderlichkeit ihrer Materialität auf der einen und der starken Veränderlichkeit ihrer Bedeutungszuschreibungen auf der anderen Seite dazu in der Lage, Biografien zu entwickeln. Die immer neuen Brüche und Interpretationen, die Einbindungen und das Herausreißen sowie das unterschiedliche Kontextualisieren lassen Abfolgen und neue Etappen im „Leben“ von Objekten entstehen, die sehr vielfältig sein können. Einer der größten möglichen Brüche ist dabei die Musealisierung von Objekten, die im Rahmen ihres Sammelns mit einer umfassenden Übersetzung in einen neuen Kontext einhergeht. Dabei wird nicht nur die bisherige Biografie durch die Versuche der künstlichen Aufrechterhaltung der Materialität verändert, sondern auch die Zuschreibung der Bedeutung maßgeblich und nachhaltig beeinflusst. Leo Frobenius drückte diese Veränderung durch die Bezeichnung „Kram“ aus, die er vor der Musealisierung für dieselben Objekte benutzte, die später die Bezeichnung „ethnographische Artefakte“ erhielten (Fabian 2004: 52). Objekte werden durch ihre Musealisierung aus dem Waren- und Wirtschaftskreislauf enthoben und gehen in den musealen Kontext ein. Die Nähe dieser Formulierung zum Kreislauf der Wiedergeburten und dem Eingang ins Nirwana ist nicht zufällig. Objekten und ihrer Bedeutungszuschreibung, insbesondere im Rahmen von sammelnden Tätigkeiten, lastet immer der Hauch einer künstlichen, von eigenen Vorstellungen und eigenem Glauben determinierten Aufladung, einer Fetischisierung an (vgl. Böhme 2006). Trotz oder gerade wegen dieses Potentials bieten sich Objekte, insbesondere solche, die mehrere Brüche in ihrer Objektbiografie aufweisen, als Quelle ethnohistorischer Forschungen an.

Ethnografische Objekte aus kolonialen Sammlungen, wie sie hier beispielhaft verhandelt werden, sind in ihrer Sonderform Objekte, die die Geschichte von ← 17 | 18 → mindestens zwei Kulturen in sich tragen. Dabei ist in den meisten Fällen die Dokumentationsdichte zum Zeitpunkt der Musealisierung am Höchsten, was die Objekte vor allem als Dokument dieses Kontextes wertvoll macht. Das Sammeln ist immer von politischen Faktoren determiniert gewesen (und ist es auch heute noch) und wirkt in seiner spezifischen Intention als vermeintlich wissenschaftliche Praxis auch determinierend auf die Erkenntnis und die Meinungsbildung mit gesellschaftlichen sowie politischen Auswirkungen. Zur vielfach beschriebenen Konstruktion des ‚Anderen‘ (Said 1981; Wiener 1990) hat das Sammeln von Objekten einen wichtigen Teil beigetragen.

Museale Objekte können Aussagen treffen über die Vorgänge des Sammelns und somit über die Kultur des Sammlers und die Dynamiken, die zwischen Objekten und Subjekten in der Ursprungsregion bestanden oder bestehen. Sie sind durch die Übersetzung und damit einhergehende De- sowie Neukontextualisierung Bestandteil beider Kulturen geworden. Museale Objekte weisen in ihren Biografien gravierende Brüche auf, wobei diese Biografien durch erneute Wahrnehmung und Bedeutungszuschreibungen immer wieder erweitert werden. Dabei spielen individuelle oder kollektive Akteure eine entscheidende Rolle, so dass die Interpretation von Objekten nie allumfassend und/oder abgeschlossen sein kann.

Die hier nur verschlagworteten aktuellen Betrachtungen von Objekten (unter den Aspekten Wahrnehmung, Objektbiografie, Handlungsfähigkeit, Objekt-Subjekt-Beziehung) machen deutlich, dass das einstige Steckenpferd der Ethnologie durchaus eine ethnologische Wiederbetrachtung verdient hat. Andere Disziplinen haben gezeigt, dass das Potential von Objekten weit über den ihnen vormals zugeschriebenen Bereich der naturwissenschaftlichen Forschung hinausgeht. Dadurch entstehen neue Herausforderungen für die ethnohistorische sowie für die theoretische ethnologische Forschung.

Details

Seiten
307
Erscheinungsjahr
2015
ISBN (PDF)
9783653059298
ISBN (MOBI)
9783653951813
ISBN (ePUB)
9783653951820
ISBN (Paperback)
9783631666197
DOI
10.3726/978-3-653-05929-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (September)
Schlagworte
Museum Völkerkunde Kolonialismus Postkolonialismus
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 307 S., 75 farb. Abb., 91 s/w Abb.
Produktsicherheit
Peter Lang Group AG

Biographische Angaben

Katja Müller (Autor:in)

Katja Müller ist Ethnologin mit mehrjähriger Museumserfahrung. Sie forscht und veröffentlicht im Bereich der visuellen Anthropologie / Fotografie und Südasien.

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Titel: Die Eickstedt-Sammlung aus Südindien