Literarische Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Regionen Mitteleuropas
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Regionale, nationale und globale Aspekte des Ersten Weltkriegs (Maria Gierlak, Małgorzata Klentak-Zabłocka, Thorsten Unger)
- I. Regionen in Mitteleuropa
- Die Stadt Thorn und der Erste Weltkrieg (Maria Adamiak)
- Ost- und westpreußische Autorinnen und Autoren und der Beginn des Ersten Weltkriegs. Kriegslyrik in der Königsberger Hartungschen Zeitung (Jens Stüben)
- Der Roman als Schauplatz der Geschichte. Józef Mackiewiczs und Arnold Zweigs Sicht auf den Ersten Weltkrieg in Ostmitteleuropa (Monika Tokarzewska)
- Schicksale der Geknechteten. Zur Gesellschaftskritik vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges in Miroslav Krležas Der kroatische Gott Mars (Katarzyna Szczerbowska-Prusevicius)
- Krieg und Nachkrieg in den Familiengeschichten zweier Autorinnen aus Magdeburg: Nomi Rubels Schwarz-braun ist die Haselnuß (1992) und Inge Meyers Stachel des Skorpions (1997) (Dagmar Ende)
- II. Zum Spannungsfeld von Region und Nation: Juden, Deutsche, Polen
- Zwei Berichte aus dem Osten – Kriegstourismus und Propaganda: Juden und Polen in den besetzten Gebieten (Iwona Kotelnicka-Grzybowska)
- Zwischen den Fronten. Der Erste Weltkrieg und die Nationalitätenfrage (Karol Sauerland)
- Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die Motivik und Poetik der jiddischen Literatur Galiziens. Deindividualisierungs- und Entregionalisierungs- bzw. Modernisierungsprozesse am Beispiel der Lemberger Autoren Abraham Mosche Fuchs’ und Uri Zvi Grinbergs (Armin Eidherr)
- Die Zerschlagung der Integrationshoffnung des jüdischen Kriegsfreiwilligen in Ernst Tollers Die Wandlung (Thorsten Unger)
- III. Narrationen zwischen allgemeinem und individuellem Kriegserlebnis
- Erzählen zwischen den Fronten – zur Ästhetik des Widerstands wider Willen in Walter Flex’ Wanderer zwischen beiden Welten (Jürgen Nelles)
- Auge in Auge mit dem Feind. Über die Nahkampfszenen in Jüngers In Stahlgewittern und Remarques Im Westen nichts Neues (Piotr Hęćka)
- Exzentrisches Zeitgefühl? Gustav Meyrinks Ansichten über den Weltkrieg (Tomasz Waszak)
- Thomas Manns Roman Der Zauberberg und der Erste Weltkrieg (Heike Steinhorst)
- Diskussionsbeitrag
- Spannungen zwischen Region und Nation in Deutschland und Österreich und ihr Niederschlag in Buchreihen des Ersten Weltkriegs (Thorsten Unger)
- Kurzinformationen über die Autorinnen und Autoren
Maria Gierlak, Małgorzata Klentak-Zabłocka, Thorsten Unger
Regionale, nationale und globale Aspekte des Ersten Weltkriegs
Die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges haben sich verständlicherweise im kollektiven Gedächtnis Polens, Deutschlands und Österreichs unterschiedlich niedergeschlagen.1 Ein Jahrhundert danach gibt es keine Zeitzeugen mehr, die sich aus eigenem Miterleben noch an die Jahre 1914 bis 1918 erinnern. 2011 verstarb der letzte männliche Veteran dieses Krieges Claude Stanley Choules, ein britischer, in Australien lebender Matrose, im Alter von 110 Jahren, 2012 im gleichen Alter Florence Green, einst Kellnerin in den Kasinos der Royal Air Force.2 Hinzu kommt, dass die kollektive Erinnerung an den Ersten Weltkrieg durch die für viele Menschen noch erheblicheren Veränderungen während und in der Folge des Zweiten Weltkriegs im gewissen Sinne verstellt ist. Auch ist er aus dem ‚kommunikativen Gedächtnis‘ weitgehend verschwunden. Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg wird heute durch staatlich sanktionierte Denkmäler und vor allem durch wissenschaftliche Forschung in Universitäten, Museen und zum Teil in Gedenkstätten professionalisiert und institutionell gesichert.3 Im Westen hat sich dabei die Rede von der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ etabliert, ← 7 | 8 → eine Wortprägung, die auf den amerikanischen Historiker George F. Kennan (1904–2005) zurückgeht:
So kam ich dazu, den Ersten Weltkrieg so zu betrachten, wie ihn viele denkende Menschen zu sehen gelernt haben: als die Ur-Katastrophe dieses Jahrhunderts, das Ereignis, in dem stärker als in irgendeinem anderen – mit Ausnahme der Entdeckung von Kernwaffen und der Entwicklung der Bevölkerungs- und Umweltkrise – Versagen und Niedergang unserer westlichen Zivilisation begründet liegen.4
An zivilisatorisches Versagen und Niedergang lässt sich in der Tat denken, wenn man beispielsweise die Verlautbarungen deutscher Hochschullehrer5 in Betracht zieht, die sich in diversen Aufrufen gegen die „Verleumdungen“ der „Feinde Deutschlands“6 wandten und von einem „Verteidigungskrieg“ sprachen7 und nicht nur zu Kriegsbeginn, sondern auch noch in fortgeschrittenen Kriegsjahren die Verluste rechtfertigten, auf einen ‚Siegfrieden‘ setzten und sich den Durchhalteparolen der Heeresleitung anschlossen.8 Ein vergleichbares zivilisatorisches Versagen lässt sich außer für die von Kennan genannten Ereignisse der Kernwaffenentwicklung und der modernen Umweltzerstörung für weite Teile der deutschen Eliten dann wieder im Umgang mit dem Nationalsozialismus, dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg sehen. Die Kontinuitäten zur Gemengelage von 1914 betonend und die Zeitspanne von 1914 bis 1945 umgreifend, werden diese Entwicklungen – und dies ist ein weiterer Fixpunkt der kulturellen Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, der sich in den letzten Jahrzehnten ausgeprägt hat – von der Geschichtswissenschaft zuweilen unter dem Begriff des „Zweiten Dreißigjährigen Krieges“ gefasst.9 ← 8 | 9 →
Zu dem, was übergreifend unter dem Begriff der „Urkatastrophe“ mit dem Ersten Weltkrieg verbunden wird, lassen sich einige Stichworte in Erinnerung rufen:10 Militärtechnisch gilt der Erste Weltkrieg als erster industrialisierter Krieg, in dem neue Waffen wie U-Boote im Seekrieg, Zeppeline und Flugzeuge im Luftkrieg, Maschinengewehre, Flammenwerfer und Panzer im Landkrieg in langen Materialschlachten zum Einsatz kamen, aber keine kriegsentscheidenden Ergebnisse brachten. Insbesondere erstarrte die Frontlinie zwischen Deutschland und den westlichen Entente-Mächten in einem nahezu unbeweglichen Stellungskrieg in Schützengräben. Der Krieg wurde als totaler Krieg11 geführt, das heißt unter Einbeziehung auch aller zivilen Ressourcen der kriegführenden Nationen und mit dem Ziel einer umfassenden Vernichtung des Gegners, so dass man auch vor dem Einsatz von – ebenfalls neuen – chemischen Waffen (Gaskrieg) nicht zurückschreckte. Der Erste Weltkrieg war außerdem ein Krieg der Bilder. Neben Printmedien wie Zeitungen, Zeitschriften, Büchern, Plakaten, Zeichnungen, Postkarten und Flugblättern, die Massen von (oft gestellten) Kriegsfotos verbreiteten, ← 9 | 10 → nutzten die Kriegsparteien auch bereits Filme für propagandistische Zwecke.12 Der Krieg forderte unter den insgesamt etwa 70 Millionen Männern, die als Soldaten am Krieg teilnahmen, rund 9 Millionen Todesopfer. Hinzu kamen etwa ebenso viele physisch und psychisch Kriegsversehrte, die zum Teil unter bis dahin nicht gekannten Verstümmelungen und Entstellungen zu leiden hatten,13 sowie beträchtliche Opferzahlen unter Zivilisten durch Krankheitsepidemien, Hungersnöte, aber auch ethnische Verfolgungen.
Zu den wichtigsten Kriegsfolgen zählen gravierende politische Umwälzungen und staatliche Neuordnungen. Hinsichtlich seiner Folgen nimmt der Erste Weltkrieg im kulturellen Gedächtnis Polens, Österreichs und Deutschlands denn auch unterschiedliche Positionen ein: Für Polen war mit dem Kriegsausgang die Zeit der 123 Jahre währenden Teilung beendet. 1918 wurde Polen nach dem Vertrag von Versailles eine souveräne und international anerkannte Republik. Insofern markiert das Ende des Krieges für Polen den Aufbruch in eine neue Zeit. Dies spiegelt sich auch in der polnischen Forschungsliteratur zum Ersten Weltkrieg wider. Es gibt in der polnischen Historiographie nur wenige Monografien, die diesen Krieg in seiner ganzen europäischen und globalen Komplexität betrachten.14 Der polnische wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskurs über den Ersten Weltkrieg konzentrierte sich lange Zeit primär auf die Aspekte des Krieges, die ihn als Auftakt zur Wiedererrichtung des polnischen Staates erscheinen ließen. In der Erinnerungskultur der Zwischenkriegszeit spielte er
nur eine untergeordnete Rolle, obwohl in ihm wesentlich mehr Polen […] gefallen waren als während des polnisch-ukrainischen oder polnisch-sowjetrussischen Krieges. Lediglich die Soldaten der Legionen und der Haller-Armee wurden in das nationale Panthéon aufgenommen, da – nach allgemeiner Auffassung – diese unmittelbar für Polen gekämpft ← 10 | 11 → hatten, während die polnischen Soldaten der russischen, deutschen und österreichischen Weltkriegsarmeen ihr Leben für fremde Interessen riskiert und gelassen hatten.15
Eine vergleichbare Situation herrschte bis 1939 in mehreren Staaten Südost- und Ostmitteleuropas, wo der Erste Weltkrieg lediglich als ein „zu langes Vorspiel zum ersten Akt der Geschichte des Nationalstaates“16 betrachtet wurde. Der Zweite Weltkrieg habe den Vergessensprozess des Ersten Weltkrieges in dieser Region nicht nur deswegen beschleunigt, weil „er [der Zweite Weltkrieg] und seine dramatischen Folgen für die meisten Länder ein noch größeres Trauma“17 bedeutet hätten, sondern auch, weil der Erste Weltkrieg in den von der Sowjetunion abhängigen Staaten nach 1945 zu einer „Episode“ degradiert worden sei, welche „die Oktoberrevolution einleitete“.18 Nach der Wende 1989 knüpften viele ostmitteleuropäische Staaten zunächst an die Tradition der Vorkriegszeit an und kehrten somit auch zu den damaligen Vorstellungen über den Ersten Weltkrieg zurück.19 Erst in der letzten Zeit versucht man in Polen den ‚Großen Krieg‘ wissenschaftlich quasi zu ‚domestizieren‘, indem man gezielt daran erinnert, dass das auch „unser Krieg“ war, wie der Titel der Monografie über den Ersten Weltkrieg von Górny und Borodziej lautet.
Für die ‚Verlierer‘ – für Österreich/Ungarn und das Deutsche Reich – ging das Kriegsende mit erheblichen Territorialverlusten und dem Zusammenbruch der Monarchien einher. Die Wahrnehmung der Chancen der Demokratie und der Aufbruch in die neue Zeit sind im kulturellen Gedächtnis dieser Länder zugleich mit dem Verlust des Alten verbunden. In den konservativen Teilen der Nachkriegsgesellschaften Deutschlands und Österreichs verhinderte das Beklagen des Verlustes geradezu die demokratische Mitgestaltung des Neuen und begünstigte revisionistische Positionen.
Bei dieser Unterschiedlichkeit der Perspektiven setzt der vorliegende Band an, in dem sich polnische, deutsche und österreichische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammengefunden haben, um die Repräsentation des Ersten Weltkriegs in zeitgenössischen und späteren literarischen Texten neu zu diskutieren. Literarische Werke, die Erfahrungen in und Reflexionen über den Ersten ← 11 | 12 → Weltkrieg thematisieren, werden dabei als ein wichtiger Teil des Erinnerungsarchivs an den Ersten Weltkrieg angesehen.20
Zu Beginn des Krieges wurde von den offiziellen Stellen der kriegführenden Staaten das nationale Anliegen propagiert. Europäisches Denken oder gar etwas wie ein global ausgerichtetes Weltbürgertum mussten hinter der Mobilisierung für die ‚national‘ genannte Aufgabe zurückstehen. Im Deutschen Reich und in Österreich-Ungarn standen aber auch die Regionen innerhalb dieser Staaten in einem Spannungsverhältnis zu einer Propaganda, welche die Nation als höchstes integratives Moment herauszustellen sich bemühte. Für Deutschland lässt sich dies gut an einer Passage aus der Rede des Kaisers im Reichstag am 4. August 1914 vorführen. Häufig wird daraus der Satz zitiert, der Kaiser kenne keine Parteien mehr, der darauf zielt, alle politischen Interessen hinter dem nationalen Interesse zurückzustellen. In der Schlusspassage seiner Rede wird Wilhelm II. aber noch genauer und fordert im Zuge der Mobilmachung auch „Konfessionsunterschiede“ und „Stammesunterschiede“ unter dem einigenden, stark symbolisch aufgeladenen Dachkonzept der deutschen Nation zu nivellieren:
Sie haben gelesen, m. H., was ich zu meinem Volke vom Balkon des Schlosses aus gesagt habe. Hier wiederhole ich: Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche! Zum Zeichen dessen, dass Sie fest entschlossen sind, ohne Parteiunterschiede, ohne ← 12 | 13 → Stammesunterschiede, ohne Konfessionsunterschiede durchzuhalten mit mir durch dick und dünn, durch Not und Tod, fordere ich die Vorstände der Parteien auf, vorzutreten und mir das in die Hand zu geloben.21
Es ist deutlich, wie dieser nationale Appell des Kaisers auf die Abgeordneten des Deutschen Reichstages ausgerichtet ist, die einerseits mit ihrer Parteizugehörigkeit gesellschafts- und wirtschaftspolitische Standes-, Schicht- und Klasseninteressen repräsentieren, andererseits aber auch Unterschiede des religiösen Bekenntnisses. Und schließlich war das Kaiserreich ein föderalistischer Staat, in dem die Abgeordneten im Reichstag auch ihre jeweilige Region vertraten. Wenn Wilhelm II. dafür die Vokabel „Stammesunterschiede“ verwendet, so greift er damit sprachlich in das Register der Nationalismen, lässt an die antike Klassifikation ‚germanischer Stämme‘ denken, aber auch an Zugehörigkeit qua Geburt. Bei den Abgeordneten erreichte die Rede ihr Ziel; die angesprochenen Vorstände der Parteien folgten und gelobten. Hinsichtlich des Föderalismus verhielt es sich in der Tat so, dass mit der Verhängung des Ausnahmezustands zu Beginn des Krieges die Oberste Heeresleitung und die Ministerialbürokratie in Deutschland faktisch die Macht übernahmen, wodurch der Bundesrat außer Kraft gesetzt wurde und einer Zentralisierung weichen musste.
Kulturpolitisch gewendet und auf den zeitgenössischen Buchmarkt bezogen, bedeutet das in der Kaiserrede geforderte Zusammenstehen der Nation, dass Literatur in jeder der drei Dimensionen – Partei, Konfession und Region – dieses allerhöchste Anliegen befördern, sich ihm gegenüber aber auch subversiv verhalten kann. So stünden etwa eine Betonung der kulturellen Eigenheiten einzelner Regionen oder eines Heimatgefühls, das sich an Landschaften oder sprachlichen Dialekten festmacht, in einem Spannungsverhältnis zum geforderten Absehen von Stammesunterschieden. Es liegt ja nicht unbedingt nahe, von den Konstrukten Region und Heimat aus das für den Krieg benötigte Konstrukt der Nation zu stützen, ebenso gut lässt es sich durch eine Hervorhebung des Regionalen unterlaufen.
Dass diese Gefahr auch in Österreich-Ungarn bestand, zeigt nach der Kriegserklärung an Serbien das Manifest des Kaisers Franz Joseph I. vom 28. Juli 1914, in dem er die Vielzahl der „Völker“ in der k.u.k. Monarchie unter dem einigenden Begriff des Vaterlandes zusammenfasste. Er appellierte betont an „Meine Völker“ und erinnerte daran, sie hätten „sich in allen Stürmen stets in Einigkeit und Treue um Meinen Thron geschart“ und wären „für Ehre, Größe und Macht des Vaterlandes ← 13 | 14 → zu schweren Opfern immer bereit“ gewesen.22 In der Vielvölkermonarchie, in der sich die nationalen Konflikte unter dem Dutzend verschiedener und regional zerstreuter Ethnien wiederholt zugespitzt hatten, war keine andere Formel für eine einigende Mobilisierung der ganzen Bevölkerung zu finden. Auch der letzte Versuch des Kaisers Karl I., die Donaumonarchie zu retten – sein Manifest vom 16. Oktober 1918 – begann mit der Anrede „An Meine getreuen österreichischen Völker“.23
Da es gerade Mitteleuropa war, wo der Krieg eine Umwälzung größten Ausmaßes bewirkte, rückt in dem vorliegenden Band die regionale Gemengelage dieses Raumes in den Vordergrund. Das Kriegsgeschehen prägte hier das Schicksal von Millionen von Menschen, nicht nur der Frontsoldaten, sondern auch der Zivilbevölkerung. Zu der spezifischen lokalen Erfahrung der hier lebenden Nationalitäten gehörte unter anderem, dass sie oft zwischen den Fronten standen oder gezwungen wurden, als Soldaten bei den fremden Truppen zu kämpfen. Zur Debatte steht, inwiefern der Erste Weltkrieg zu der Geschichte und der differenzierten Gedächtniskultur dieser Regionen gehört. Was war oder ist für eine bestimmte Region spezifisch in der Wahrnehmung des Krieges oder als Bestandteil der Erinnerungskultur? Die untersuchten Phänomene werden aber auch regionenübergreifend analysiert. Neben belletristischen Texten und Dichtung im engeren Sinne kommen dabei auch Dokumente, Erinnerungen und Artefakte der materiellen Kultur als Träger des kulturellen Gedächtnisses in den Blick.
Die Beiträge des Bandes sind in drei Abschnitte geordnet: I. Regionen in Mitteleuropa; II. Zum Spannungsfeld von Region und Nation: Juden, Deutsche, Polen; III. Narrationen zwischen allgemeinem und individuellem Kriegserlebnis.
Im ersten Teil rekonstruiert zunächst MARIA ADAMIAK den Kriegsalltag am Beispiel Thorns, einer grenznahen Festungsstadt im Osten des Deutschen Kaiserreichs, anhand der lokalen Presse, der Anordnungen der Zivil- und Militärbehörden und anhand von Erinnerungen der deutschen und polnischen Bewohner. Sie schildert Ängste, Einschränkungen und zusätzliche aus der spezifischen Lage der Stadt resultierende Probleme, denen sich die Menschen dort ausgesetzt sahen, ← 14 | 15 → sowie die sich langsam anbahnenden bilateralen Konflikte im Zusammenhang mit der Wiedererrichtung des polnischen Staates.
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs griffen Tausende von Menschen zur Feder und suchten ihre Erlebnisse, Empfindungen und Gedanken in lyrische Form zu bringen. JENS STÜBEN zeigt am Beispiel Ostpreußens und hier speziell an den von August bis November 1914 in der Königsberger Hartungschen Zeitung veröffentlichten Gedichten, dass darin neben den gängigen national zugespitzten Motiven – genannt seien die Opferbereitschaft für Kaiser und Vaterland, die Versicherung göttlichen Beistands und die Anknüpfung an die Befreiungskriege gegen Napoleon – auch Aspekte regionaler Identität verhandelt werden. So werden beispielsweise besondere ostpreußische Leistungen in Kriegen der Vergangenheit evoziert, es wird der ostpreußische Landsturm erwähnt, und es wird auf aktuelle Kriegsentwicklungen in Ostpreußen Bezug genommen wie auf die Zurückschlagung der in den ersten Kriegsmonaten erfolgreichen russischen Truppen in der Schlacht bei Tannenberg. Von Autorinnen und Autoren, die heute nur im Ausnahmefall noch bekannt sind, stellt Stüben eine Auswahl solcher Gedichte vor und kommentiert sie behutsam historisch.
Eine bestimmte regionale Landschaft stellt den Hintergrund für die Handlung in zwei Romanen dar, die von MONIKA TOKARZEWSKA untersucht werden: Józef Mackiewiczs Der Oberst: Die Affäre Mjassojedow und Arnold Zweigs Einsetzung eines Königs. Ihr Schauplatz ist „im Gebiet des heutigen Litauens und in Teilen Nord-Ost-Polens“ gelegen. Doch trotz einer solchen einengend-regionalen Fokussierung präsentieren die Autoren Mackiewicz und Zweig nicht etwa auf einen individuellen Maßstab reduzierte Bilder des Krieges. Vielmehr gewinnen die beiden Darstellungen dank einer große Zeiträume übergreifenden Perspektive an einer den Geschichtsromanen eignenden Universalität. Die Komplexität der ästhetisch-literarischen Aspekte, auf die Tokarzewska eingeht, ergibt sich nicht zuletzt aus dem langen Entstehungsprozess der Werke. In beiden Fällen handelt es sich um Texte, die lange nach den historischen Gegebenheiten, die sie thematisieren, zu Papier gebracht wurden. Deshalb sind sie von einer Spannung gekennzeichnet, die zwischen dem „Wissenshorizont des Rezipienten besteht, der in den späten 1930er beziehungsweise in den frühen 1960er Jahren über ein größeres historisches Wissen bezüglich des weiteren Geschehens verfügt als die Romangestalten“, und dem Wissensstand innerhalb der imaginierten – aber auch geschichtlich nachvollziehbaren – Romanwelt.
Spezifische Aspekte der südslawischen und speziell kroatischen Geschichte kommen bei KATARZYNA SZCZERBOWSKA-PRUSEVICIUS in ihrer Analyse des den „Schicksalen der Geknechteten“ gewidmeten Schaffens von Miroslav Krleža zur ← 15 | 16 → Sprache. In Krležas Texten werden auf der einen Seite politische Ansichten des Autors – seine unverhohlene Sympathie mit dem Marxismus – zum Ausdruck gebracht, auf der anderen die Folgen der komplizierten Geschichte einer relativ kleinen Region und deren Einwohner: Kroatiens und der Zagorianer Bauern, die auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges zum Kanonenfutter wurden. In den eindringlichen Bilderreihen und kritischen Kommentaren des kroatischen Autors wird die brutale, makabre Kriegswirklichkeit schonungslos heraufbeschworen.
Eine regionale Dimension greift auch DAGMAR ENDE auf, indem sie Familiengeschichten der Magdeburger Autorinnen Nomi Rubel und Inge Meyer beleuchtet, die in den neunziger Jahren auf den Ersten Weltkrieg und die nachfolgenden Jahrzehnte zurückblicken und dabei eine literarisch reizvolle Verbindung von autobiographischen Schilderungen in einer fiktionalen Aufbereitung mit faktual-zeitgeschichtlichen Bezugnahmen auf national- und weltpolitische Entwicklungen in regionaler Perspektivierung präsentieren. Dabei setzen sich beide Romane auf unterschiedliche Weise mit Fragen kultureller Identität auseinander, thematisieren Alienisierungen zwischen Juden und Nichtjuden, Kriegsversehrten und Gesunden sowie in Meyers streckenweise nach Ostafrika führendem Roman auch zwischen Schwarzen und Weißen. Insgesamt zeigt Ende, wie die Autorinnen von der Literatur her Bausteine einer Alltagsgeschichte von unten liefern und hinsichtlich des jüdischen Lebens in Magdeburg vor 1933 zur Auffüllung eines bis dato blinden Flecks der Regionalhistoriographie beitragen. Indem es sich dabei für die beiden Jahrzehnte nach dem Ersten Weltkrieg um eine ‚Unheilsgeschichte‘ handelt, stützen die Romane – Ende zufolge – Wehlers These eines zweiten Dreißigjährigen Krieges.
Details
- Seiten
- 294
- Erscheinungsjahr
- 2017
- ISBN (ePUB)
- 9783631709511
- ISBN (MOBI)
- 9783631709528
- ISBN (PDF)
- 9783653060225
- ISBN (Hardcover)
- 9783631665817
- DOI
- 10.3726/978-3-653-06022-5
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2017 (Mai)
- Schlagworte
- Erinnerungskultur Deutschland Österreich Polen Juden Narration
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 294 S., 5 s/w Abb.
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