«La nostalgia del sacro» – Die Poetik von Pier Paolo Pasolini im Spannungsfeld von Heiligem und Profanem
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Table Of Contents
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Danksagung
- Inhaltsverzeichnis
- I. Einleitung
- 1.1 Forschungsstand
- 1.2 Ziel und Aufbau der Arbeit
- II. Der Begriff der Intermedialität und seine praktische Anwendung
- 2.1 Intermedialität
- 2.1.1 Text- und Intermedialität
- 2.1.2 Trans- und Intermedialität
- 2.2 Begriffsoperationalisierung
- III. Eine Verortung oder die Suche nach dem Heiligen
- 3.1 Die säkulare Gesellschaft
- 3.1.1 Der Prozess der Homogenisierung
- 3.1.2 Der Raum
- 3.2 Die Kirche
- 3.3 Der Körper
- 3.3.1 „Die Erfahrung des Heiligen“
- 3.3.2 Die Hypothese: Teorema
- 3.4 Das Kino
- 3.4.1 Die „Theologie des filmischen Bildes“
- 3.4.2 Das Potenzial des Kinos
- 3.5 Figurationen des Heiligen
- IV. Analysen
- 4.1 Musik als Ausdruck des Unsagbaren
- 4.1.1 Ein „ästhetisch politischer Standpunkt“ – Accattone
- Der Schmerzensmann
- Die Abwärtsbewegung
- Die Vorhersehung
- 4.1.2 Verschränkung von Stadtbild und Stille – Mamma Roma
- Das Stationendrama
- 4.1.3 Musikalische Prinzipien
- 4.1.4 Im Angesicht – La ricotta
- Der Passionsort
- Der Einsatz
- 4.1.5 Umkehrung des Verfahrens – Il Vangelo secondo Matteo
- Die Verbindung
- Die Befreiung
- Das Handeln
- 4.2 Malerei und filmisches Bild
- 4.2.1 Masaccio als Sichtfeld oder die pikturale Transposition – Accattone
- Das Gesicht
- Bilderfahrung
- Die Lichtverhältnisse
- 4.2.2 Die „figurative Erleuchtung“ – Mamma Roma
- Der Verrat
- Das figurative Modell
- 4.2.3 Modifikation und Manifestation des Verfahrens – La ricotta
- Der Verurteilte
- Kreatürliche Darstellung und Überformung
- Die Konfrontation
- 4.2.4 Pikturale Pluralität – Il Vangelo secondo Matteo
- Zweitausendjährige Bildtradition
- Der „göttliche Blick“
- Die Vergegenwärtigung
- 4.3 Das Dantesche Referenzsystem
- 4.3.1 Die Raumsymbolik
- Der Abstieg
- Rom – Ein städtisches Inferno
- 4.3.2 Paradigmatische Höllenmetaphorik
- 4.3.3 Die Elenden
- 4.3.4 Der Einlass in die Unterwelt – Accattone
- Ein Höllengleichnis
- Stella
- 4.3.5 Der Höllengraben – Mamma Roma
- Die Frage der Schuld
- Der dreimalige Schluss
- Ästhetische Situierung des sterbenden Körpers
- 4.3.6 Eine Zwischenbilanz
- 4.3.7 Die menschengemachte Hölle
- Die Zerstörung
- Accattones Tod
- Die „Gewalt des Blicks“
- Schlussbetrachtungen
- Bibliographie
- Interviews
- Filmographie
- Allgemeines Literaturverzeichnis
- Reihenübersicht
„Religiöse und weltliche Passions- und Leidensgeschichten sind nicht nur Vorlagen für die bildende Kunst und das Theater, sondern sogar für den realitätsorientierten Film.“1
Seit Erfindung des Kinematographen werden religiöse Inhalte im Film realisiert.2 Zunächst sind dies Filme, die sich an der medialen Wiedergabe der Passion ausrichten. Sie begründen ein weites Spektrum von Passionsverfilmungen, deren Bearbeitung bis in die jüngste Zeit reicht.3 Neben die Darstellung christlicher Leidensgeschichte tritt eine Vielzahl von Filmen, die sich teils implizit, teils explizit mit religiösen Motiven, Symbolsystemen und Denkfiguren auseinandersetzt. In diesem Zusammenhang ist insbesondere das italienische wie französische Nachkriegskino zu nennen, das eine Variationsbreite von religiös motivierten Fragestellungen, christlich konnotierten Symbolsystemen und Narrationsmustern in einen säkularen Bezugsrahmen einschreibt.4 Wurde in letzter Zeit vor allem auch das populäre Kino hinsichtlich seiner religiösen Valenzen und »Sakralisierungsstrategien«5 untersucht, so ist die filmästhetische Analyse dieser Diskurse im romanischen Autorenkino in der – vor allem deutschsprachigen – Forschung bislang noch wenig repräsentiert.6 ← 11 | 12 →
Es finden sich zwar vereinzelte Ansätze,7 dennoch erscheint die systematische Analyse von säkularen und christlichen Diskursen im Kontext der Romania als Forschungsdesiderat. Dies ist erstaunlich, sind „Spuren des Religiösen im Film“8 doch merklich vertreten. Die Auseinandersetzungen um religiöse Inhalte – vorrangig im populären Kino – münden nicht selten in Fragestellungen, die die „religiöse[n] Funktionen“ der Filme selbst untersuchen.9 Am Nachweis möglicher didaktischer Funktionen des Films als vermittelnde Instanz religiösen Glaubens ist der vorliegenden Arbeit nicht gelegen. Auch ist die Ausrichtung der Untersuchung nicht durch eine theologische Perspektive bestimmt. Vielmehr sucht die Analyse dem genannten Desiderat nachzukommen und einen wichtigen Baustein für weitergehende kulturgeschichtliche und ästhetische Diskussionen zu liefern.10
„Der Moderne ist“, wie Inge Baxmann schreibt, „die Loslösung vom Religiösen letztlich nicht gelungen: religiöse Elemente und Formen sickern in alle Bereiche einer vermeintlich säkularisierten Gesellschaft […].“11 Dieses »Durchsickern« ← 12 | 13 → zeigt sich daraufhin nicht nur im Theater oder der bildenden Kunst verwirklicht, sondern speziell im romanischen Nachkriegskino.12 Religiös motivierte Inszenierungen, Sinnangebote und ein Fundus an symbolischem Bildvokabular zeugen von der Präsenz dieser »Spuren«. Die Einbindung religiöser Themen und Ikonographien, wie sie sich in den filmischen Beispielen von Roberto Rossellini, Federico Fellini, Pier Paolo Pasolini, Jean-Luc Godard,13 Robert Bresson und Luis Buñel herausbilden, bezeugen eine spannungsvolle Simultanität. Diese Dynamik, von religiösen Zeichen in realitätsorientierten Filmen, wirft die Frage nach Darstellungsverfahren und Artikulationen auf. Dieser soll anhand eines paradigmatischen Œuvre nachgekommen werden:
In faszinierender Weise veranschaulicht das Werk des italienischen Lyrikers, Schriftstellers, Filmemachers, Kritikers, Dramatikers und Essayisten Pier Paolo Pasolini das Verhältnis von säkular motivierter Narration und christlicher Überformung. Getragen von einem intermedialen Verweisungssystem eröffnen primär die frühen Filme, aber auch die Romane der fünfziger Jahre eine Komplementarität, die sich aus der Heiligung des Profanen und der Profanation des Heiligen bildet. Die angedeutete Simultanität generiert über den Einsatz von Musik, Malerei und Literatur neuartige Raum- und Körperinszenierungen, die zentrale Untersuchungsschwerpunkte darstellen. Damit steht die ästhetische Umsetzung im Vordergrund, die Narrationsmuster, Formen und Strukturen befragt, um Dimensionen einer spezifischen Praxis sichtbar machen zu können.
Von Beginn an zeigen sich hierbei politisches Denken und ästhetische Arbeit verschränkt. Über den Corpus der vorliegenden Untersuchung hinaus, der sich primär an den Romanen und Filmen der fünfziger und frühen sechziger Jahren orientiert, zeigt sich ein Fortentwickeln der ästhetischen (Ausdrucks-)Formen und gesellschaftspolitischen Reflexionen. In der Betonung einer sich entwickelnden Poetik setzt sich die Arbeit von der weitläufigen Forschungstendenz ab, die ← 13 | 14 → zur Periodisierung des Werkes Pasolinis neigt. Die sich beständig formulierende Poetik wird als eine kontinuierliche Entfaltung begriffen, die sich in unterschiedlichen Ausprägungen und Verfahren zeigt. In dieser Herangehensweise knüpft die Untersuchung an einen von Hermann H. Wetzel vorgelegten Aufsatz14 sowie an die Studie von Bernhard Groß an.15 Sie erweitert den Gedanken jedoch, indem die intermedialen Strukturen in den Vordergrund gerückt werden. Dass der Aspekt des Heiligen als ein zentrales Moment im Werk Pier Paolo Pasolinis anzusehen ist, darauf hat Helga Finter bereits in den achtziger Jahren verwiesen.16 Doch trotz der signifikanten Stellung religiöser Rekurse ist die Reorganisation christlicher Muster im Kontext eines vermeintlich Säkularen nur in Ansätzen untersucht worden. Die Wiederaufnahme – so die These – geht mit spezifischen Verfahren des Einsatzes von Musik, Malerei und Literatur einher. Erst durch die Verweisstruktur der musikalischen, pikturalen und literarische Referenzen lässt sich das Verhältnis von realitätsorientierter Narration und christlicher Überformung und von Profanation des Heiligen erschließen. Dargelegt werden wird, wie die einzelnen Referenzsysteme im Zusammenhang mit der Entfaltung eines spezifischen Verfahrens zu lesen sind. Die unterschiedlichen Ebenen der säkularen Ausrichtung und der christlich-mythologischen Bezugnahme werden so in ihrer Dynamik umfassend erschlossen.
Ausgangspunkt von Pasolinis theoretischem wie ästhetischem Denken ist ein beständiges Befragen, Analysieren und Auseinandersetzen.17 Ein Auseinandersetzen, das nicht zuletzt in einer kritischen Gegenwartsdiagnose mündet. Diese benennt in der Analyse die uniformierende Transformation der Gesellschaft unter dem Zeichen des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Niederschlag findet dieser Homogenisierungsprozess nach Pasolini zuvorderst in der Sprache selbst. Durch Normierung und Standardisierung hat diese an Expressivität verloren ← 14 | 15 → und damit einhergehend – so weiterhin Pasolini – einen immanenten Kontakt zur Realität. Aus diesem Theorem gestaltet sich von Beginn an eine Suche nach »Ursprünglichem«, archaischen, präindustriellen Sprach- und Lebensformen, die dem „vorherrschende[m] Nützlichkeitsprinzip“18 der neuen Ordnung entgegenstehen. Die initiale Projektionsfläche dieser Suche bildet die agrarische Landschaft Friauls, später dann – ab Mitte der fünfziger Jahre – die Peripherie Roms, um sich letztlich dem Universum Indiens, Afrikas und dem arabischer Länder zuzuwenden. Grenzen, Schwellen, Ränder des Topographischen und Sozialen stehen im Zentrum dieser zunächst säkular ausgerichteten Beschreibungen und Bilder, wie sie Romane und Filme hervorrufen. Gleichzeitig sind diese aber angereichert. Die Darstellung des Peripheren weist in den Romanen und Filmen der fünfziger und sechziger Jahre Valenzen von christlich-mythologischen Symbolsystemen auf. Die Werke geben damit eine spezifische Ästhetik zu erkennen: Die Inkorporierung christlich-mythologischen Vokabulars in die durch Elend und Misere gekennzeichnete römische Vorstadt.
Im politischen Engagement Pasolinis, im massiven Protest gegen ein konformes und bürgerliches System, dessen zentralisierende Mechanismen kulturelle Diversität nivelliert, wird die Moderne zum Sinnbild der kontinuierlichen Entfremdung und führt nach Pasolini zum Verlust des Differenten. Demgegenüber ist der Entwurf der sozialen wie topographischen Utopie gestaltet, die zunächst auf die ländlichen Gebiete des italienischen Nordostens und später die Randgebiete Roms projiziert wird. In diesem Kontext entsteht das emblematische Bild des per se »Anderen«: Ein »Anderes«, das als Antagonismus zur Konsumgesellschaft fungiert und als Gegenbild entworfen ist.19 Dieses »Andere«, wie es an der bäuerlichen Gemeinschaft, später an den subproletarischen Figuren, den ← 15 | 16 → gesellschaftlich Ausgeschlossenen herausstellt wird, entlarvt den wirtschaftlichen Aufbruch und die Ordnung aus der Sicht des Unbeteiligten.20 Zunächst in ihrer Andersartigkeit akzentuiert, ist die Figur des »Anderen« zugleich der Gefahr der Angleichung ausgesetzt: Die sukzessive bürgerliche Wertübernahme führt zur Zerstörung der eigenen, der anderen Seinsweise. Eine Gefahr, die sich für Pasolini letztlich als erwiesen zeigt und sich in der kulturellen Selbstaufgabe artikuliert. Diesem kontinuierlichen Prozess steht zunächst eine spezifische Ästhetik gegenüber, die sich auf die Suche nach Zeichen des Differenten, Andersartigen, Heiligen macht.21
Es ist unmissverständlich, dass sich eine solche Ästhetik nicht aus der Negation von Gewalt und Elend entfaltet, sondern als Gegenwehr gegen eine Welt der normierten Machtstrukturen gedacht ist. Sie verleiht dem von der Gesellschaft entgrenztem Körper einen eigenen Status, bindet diesen mythisch ein und überhöht ihn mittels markanter musikalischer und ikonographischer Systeme. In der Generierung des »Anderen«, im Entwurf einer alternativen Gemeinschaft,22 entsteht innerhalb des Werkes die spezifische Form der Darstellung, eine Ästhetik, die auf Heterogenität fußt.23 Die Figuren Pasolinis erscheinen so einerseits im Fokus des ästhetischen Arrangements mittels musikalischer, literarischer und pikturaler Rekurse, andererseits innerhalb ihrer Position der marginalisierten Existenz. Die Gestaltung des Figurenarsenals erfolgt demnach im beständigen Wechsel von stilisierter Integration und elender Randexistenz, von Heiligem und Profanem, von Hohem und Niedrigem.24 Ist die Zuschreibung auf den ← 16 | 17 → »Anderen«, die Addition auf den bäuerlichen und subproletarischen Körper zunächst Perspektive, so offenbart sich gleichzeitig die Aporie dieses Gesellschaftsentwurfes. Im Zuge des epochalen Umbruchs erscheint der initialen Vision zu Beginn der siebziger Jahre jedwede Grundlage entzogen. Eine andere Körperinszenierung und Darstellungsform wird realisiert: Der Körper ist nicht mehr Ort von sozialer Utopie, sondern Indikator verinnerlichter ökonomischer Werte: Eine Internalisierung, die so weit vorangeschritten ist, dass der Körper den Charakter einer Ware annimmt. Er wird zu einem ins Schweigen verfallenem Gegenstand degradiert. Dadurch ist zugleich ein Fluchtpunkt der Ästhetik formuliert, deren Anfänge zunächst über den geheiligten Körper führen, um ihn daraufhin im Kontext einer allumfassenden kulturellen Standardisierung zu beschreiben.
Movens des Verfahrens, – dies soll nochmals betont werden –, ist vielerorts die Konstatierung eines Transformations- und Homogenisierungsprozesses, der kulturelle Vielfalt nivelliert, indem Soziokulturelles mehr und mehr angeglichen wird. Aus der Ablehnung derartiger Zustände heraus, einer normierten und konformen Realität, entwickelt sich Pasolinis Œuvre, das nach Zeichen und Referenzen des Heterogenem sucht und damit das Bild des »Anderen« forciert.
In Literatur und Film werden so spezifische Bildräume konstruiert,25 Figurentypen erschaffen und Topographien betont, die zunächst außerhalb dieses Zugriffs zu liegen scheinen. Das Potenzial neuer, anderer Ausdrucksformen wird dabei aufs eindrücklichste ausgelotet, um sich auf die Suche nach neuen Möglichkeiten der Darstellung, der Formgebung und des Sagbaren zu machen.26 Wie sich zeigt, operiert die Ästhetik Pasolinis mit unterschiedlichen medialen Formen, die einen einzigartigen Dialog entstehen lassen. Da dieses Verfahren bereits in der Literatur angelegt ist, sollen die beiden römischen Romane Ragazzi di vita (1955) und Una vita violenta (1959) einen steten Bezugspunkt bilden. Ausgehend von der Literatur wird somit ein Gestaltungsverfahren beschrieben, das mithilfe einer spezifischen künstlerischen Praxis operiert und für das Werk Pasolinis Modellcharakter erhält. ← 17 | 18 →
Die Befragung der Wirklichkeit nach Zeichen des Differenten, des Andersartigen27 manifestiert sich hierbei auf unterschiedlichen Ebenen, die einleitend kurz skizziert werden sollten, um die Strategien einer Dialektik aufzuzeigen, die gegen konkrete historische Manifestationen vorgeht, zugleich aber die Recodierung säkularer Narrationsmuster bedient. Der vorliegende Forschungsbeitrag zieht hierbei die unterschiedlichen Ebenen in Betracht und untersucht ausgehend von Pasolinis radikaler Gesellschaftskritik und Medientheorie, wie sie in gesellschaftspolitischen Kolumnen und theoretischen Schriften zum Ausdruck gebracht wurden, die intermedialen Strategien, die die Basis der Recodierung bilden.
Insgesamt betrachtet zeigt sich die Forschung stark vom jeweiligen Zeitgeist beeinflusst, so dass es in Italien wie in Deutschland zeitweilig verstärkt zur Akzentuierung der politischen Rolle Pier Paolo Pasolinis kam, des linken Intellektuellen, um sich daraufhin vermehrt den literarischen, wie literaturtheoretischen Arbeiten zu widmen.28 Den unterschiedlichen Forschungstendenzen scheint nach wie vor die Konnexion von Leben, Werk und Tod des Künstlers übergeordnet. Eine Überordnung die vielerorts, so formulieren es auch Bernhard Groß, Daniel Illger und Piero Spila, den Blick auf das Werk verstellt.29 Akzentuiert werden sollen hier hingegen die künstlerischen, politischen wie medientheoretischen Impulse, die das Werk Pasolinis offeriert.
Auf die Präsenz markierter wie unmarkierter christlicher Referenzen im Werk Pasolinis verweisen vor allem italienische Forschungsbeiträge.30 In diesem ← 18 | 19 → Zusammenhang bildet die Studie von Conti Calabrese zu Pasolini e il sacro des Jahres 1994 einen entscheidenden Forschungsbeitrag und pointiert, was Helga Finter bereits zehn Jahre zuvor konstatiert hatte: „Die Frage des Heiligen ist zentral in Pasolinis Werk.“31 Aufgrund dieser zentralen Stellung bilden beide Forschungsbeiträge einen fortwährenden Bezugspunkt, werden jedoch um die Analyse der intermedialen Strukturen ergänzt beziehungsweise erstmals systematisch mit diesem zusammengebracht. Gleiches gilt für die Forschungsbeiträge von Naomi Greene32 und insbesondere Bernhard Groß, die das Spannungsverhältnis von Profanem und Heiligem, Hohem und Niedrigem in jüngster Zeit herausgestellt haben.33 Demgegenüber wird der Einsatz von Musik, Malerei und Literatur als zentrales Verfahren analysiert und bildet demnach den Schwerpunkt der Untersuchung.
Während sich die italienische Forschung um die Untersuchung der christlich-mythologischen Rückgriffe im italienischen Nachkriegskino bemüht, findet die Analyse von christlichen Symbolen, Mustern und Mythen in der deutschen Romanistik hingegen nur vereinzelt statt.34 Dieser Forschungslücke verschreibt sich die Arbeit, die die Romane und Filme Pasolinis in Bezug auf christlich-mythologische Markierungen, Darstellungsmodalitäten und Erzählmuster befragt, die sich im Zeichen eines beständigen Mediendialogs manifestieren. Ausgehend von den musikalischen, pikturalen und literarischen Referenzsystemen sollen demnach die Strategien der Überformung und Recodierung analysiert werden, die den profanen Körper in einen „kollektiven Mythos“35 einschreiben und ihn in seiner simultanen Kreatürlichkeit wie Erhabenheit zelebrieren. ← 19 | 20 →
Auf die duale Konzeption des Figurenarsenals, die spezifischen Bildraumkonstruktionen wie mythische Codierungen ist mancherorts im Kontext einzelner monomedialer Studien verwiesen worden: Es finden sich Forschungsbeiträge zur Verwendung von Musik,36 zur ikonographischen und kompositorischen Bezugnahme zwischen Malerei und Filmbild37 sowie zu Dante-Referenzen,38 die Literatur wie filmisches Werk durchziehen. Die Arbeit greift die unterschiedlichen ← 20 | 21 → Positionen und einzelnen Forschungsansätze auf, ordnet diese aber systematisch in eine umfassende Analyse ein, deren Ziel die Erfassung einer komplexen und spezifischen Poetik ist. Auf diese Weise werden die Grenzen der einzelnen Disziplinen überwunden und die vielfach monomedialen Studien vereint. Die systematische Erforschung der verschiedenen Rekurse auf Musik, Malerei und Literatur richtet sich in dieser Arbeit entsprechend gegen verbreitete Tendenzen in der romanischen Film- und Literaturwissenschaft.
Ziel und Anliegen ist demnach die Darlegung des medialen Zusammenspiels von Musik, Malerei und Literatur. Dass diese Überlagerung als spezifisch für das Werk Pasolinis anzusehen ist, wurde bereits thematisiert. Auch ist es Pasolini selbst gewesen, der die vielfachen Bezugnahmen seiner Ästhetik beständig betont und hervorgehoben hat. Eine konsequente Analyse der intermedialen Strukturen, die die musikalischen, pikturalen und literarischen Referenzen gemeinsam und systematisch untersucht und auf diese Weise das Spannungsfeld von Heiligem und Profanem erschließt, fehlt hingegen.
Ungeachtet der Tatsache, dass italienische Forschungsbeiträge seit Längerem auf die Präsenz christlicher Referenzen und Muster im Werk Pasolinis verweisen, erscheint das Œuvre Pasolinis weiterhin in der Auseinandersetzung um seinen dokumentarischen Gehalt. Kinematographische Artefakte, aber auch literarische Werke, werden so teils als Dokumentation von gesellschaftspolitischen Zuständen gelesen und interpretiert.39 Partiell geht damit eine Kategorisierung einher, die die ersten Filme Pasolinis im Kontext des Neorealismus analysiert beziehungsweise diesem eine radikale Weiterentwicklung zuschreibt.40 Dies ist insofern problematisch, als die vielfach vorgelegten Definitionen des Neorealismus nicht über die Tatsache hinwegtäuschen können, dass sich die, dem Neorealismus zugeordneten Regisseure und Filme selbst nur schwerlich unter ← 21 | 22 → einen allgemeingültigen Überbegriff gliedern lassen.41 Die Diskussion um die Bestimmung des Neorealismus soll an dieser Stelle nicht weitergeführt und entsprechend kein neuer Erklärungsansatz formuliert werden. Mit den Worten Daniel Illgers soll aber darauf hingewiesen werden, dass das
Merkwürdige [aber, Anm. F.A.] ist […], dass eben jener Neorealismus, von dem offenbar niemand so recht weiß, was er eigentlich sein soll, fortwährend zur Messlatte für das übrige italienische Nachkriegskino – vornehmlich den sogenannten neorealismo rosa und das Autorenkino der sechziger Jahre – genommen wird, zumindest aber die Folie abgibt, vor der man dieses Kino diskutiert.42
Als „eine verbindliche Orientierung“ für das Autorenkino hat Hans Richard Brittnacher die Filme von Roberto Rossellini, Vittorio De Sica, Giuseppe de Santis und Luchino Visconti bezeichnet und hervorgehoben, inwiefern eine solche Interpretation möglich ist:
In erster Linie und nicht nur vordergründig erzählt der Neorealismus Geschichten von Versprengten, von Kriegswaisen und Verlorenen, aber weil es ihm dabei nicht nur um das Schicksal einzelner Entwurzelter geht, sondern um den exemplarischen Charakter des Leidens in einer Zeit fundamentaler Desorientierung, erscheinen die Lebensläufe der Helden als Passionsgeschichten: Der Bergaufstieg Ingrid Bergmanns in Rossellinis STROMBOLI – TERRA DI DIO (I 1949), der labyrinthische Weg des Waisenjungen durch das zertrümmerte Berlin in GERMANIA ANNO ZERO sind mehr als Irrwege, es sind Initiationsabläufe, die zuletzt in einem Opfer enden. […] Vorgeblich setzen neorealistische Filme das ziellose Umherlaufen desorientierter Helden ins Bild, aber tatsächlich bedienen auch sie sich in ihrer hochcodierten Bildsprache der Formeln eines überlieferten artistischen Pathos. […] Diese auch in den wichtigsten Werken des Neorealismus fast immer präsente Dimension des Mythos verweist auf die Aporie einer ← 22 | 23 → neorealistischen Ästhetik, die vom Anfang erzählen will, aber dabei nicht auf Geschichten und Bilder von gestern verzichten kann.43
In der Betonung des Ineinandergreifens von realistischer Darstellungsweise und ästhetischer Überformung läuft die zitierte Lesart gängigen Bestimmungen des Neorealismus zuwider. Folgt man ihr, wird jedoch deutlich, in welchem Maß eine solche Ästhetik von konnotierten Bildern und mythischen Verweisen als Ausrichtung für das Autorenkino gedient haben kann. Vor dem Hintergrund einer dermaßen gestalteten und differenzierten Betrachtungsweise ist auch die Integration Pier Paolo Pasolinis möglich. Wie weiterführend die Studie von Uta Felten belegt, ist das französische wie italienische Nachkriegskinos von Suchenden und Nomaden bestimmt; von jenen Individuen, die ganz unterschiedliche Modi des Suchens repräsentieren. Felten bezeugt, wie sowohl dem Neorealismus zugeordnete Filme, als auch Filme des Autorenkinos religiöse Themen verhandeln und diese Suche am Modell der christlichen Passion ausrichten.44 Inwieweit Romane und Filme Pasolinis ein ebensolches Modell verfolgen, dies wird die Studie ebenso darlegen, wie die spezifische Strategien und Verfahren, die zu einer solchen Annahme führen.
In der Überformung von Alltäglichem und Profanem entfaltet das Werk Pasolinis damit ganz eigene und prägnante Artikulationen und Formen. Nicht ob der von der Forschung vorangetriebenen Verknüpfung von Leben und Werk Pasolinis, sondern ob dieser signifikanten Praxis kommt dem Œuvre folglich eine besondere Rolle zu, die es in der Analyse darzulegen gilt.45
Es muss deutlich sein, dass die Ausführung der von Pasolini angeprangerten Missstände nicht eine Herangehensweise bedeutet, die Romane und Filme als Abbild gesellschaftspolitischer Zuständen pointiert. Vielmehr wird ein Begreifen der Dynamik und des Spannungsverhältnisses angestrebt. Erst dadurch kann die Poetik Pasolinis in ihrer Tragweite erschlossen werden. Zugleich soll veranschaulicht werden, inwieweit die theorieästhetischen Schriften insbesondere zu Literatur und Kino eine spezifische Wahrnehmung von Wirklichkeit offerieren und Denkfiguren operationalisieren, deren Basis es zu ergründen gilt. Die ← 23 | 24 → Hinwendung zu Sichtbarem folgt einem besonders gefassten Modus der Wahrnehmung. Individuell geformte Perzeption und die intermediale Konzeption entfalten die Grundlage, auf der Heiliges im Alltäglichen wiederentdeckt werden kann. Die im kinematographischen Bild arrangierten Referenzen bedeuten Wahrnehmungsmöglichkeiten und enthüllen Wirklichkeit jenseits tradierter Dispositive des Alltäglichen. Damit steht die Beziehung von säkular motivierter Bestandsaufnahme und Überformung derselbigen im Fokus, eine Beziehung, die nur über die komplexe Verweisstruktur erschlossen werden kann.
Die Simultanität von säkularen und christlich-mythologischen Diskursen, wie sie sich in der Filmästhetik und in den Romanen zeigt, gilt es zu befragen und darzustellen. Vorrangig ergeben die Mechanismen im Film einen ambivalenten Bildstatus, bewirkt das Arrangement von musikalischen, pikturalen und literarischen Referenzen die Überformung des Körpers und die Aufladung des Bild(raum)es. Unter Einbezug von musikwissenschaftlichen, literaturwissenschaftlichen und kunsthistorischen Positionen soll diese neuartige Bildlichkeit untersucht werden, die sich aus der genannten Verschränkung ergibt. Ein solches Ineinandergreifen ist bereits in den römischen Romanen angelegt, weshalb diese einen permanenten Bezugspunkt bilden.
Details
- Pages
- 270
- Publication Year
- 2017
- ISBN (ePUB)
- 9783631700457
- ISBN (MOBI)
- 9783631700464
- ISBN (PDF)
- 9783653053364
- ISBN (Hardcover)
- 9783631660430
- DOI
- 10.3726/978-3-653-05336-4
- Language
- German
- Publication date
- 2018 (September)
- Keywords
- Werk Intermedialität Musik Malerei Commedia Dante Alighieri
- Published
- Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 270 pp.