Das Heilige als Problem der gegenwärtigen Religionswissenschaft
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Das Heilige als Problem der gegenwärtigen Religionswissenschaft
- »Wer das nicht kann, ist gebeten nicht weiter zu lesen« Otto als Paradigma einer unzeitgemäßen Methodologie?
- Der Menschenkörper und das Heilige
- Die Diskussion um das Heilige vor dem Hintergrund der Krise des Naturalismus
- Das Heilige und die Tempelstruktur
- Die heilige Transzendenz und empirische Forschung: Überlegungen und Perspektiven
- Die Bedeutung des „Heiligen“ für die Erklärung von Religion
- Das Heilige als Phänomen des Seins: Ontologie und Ideologie
- Das Numinose als Kategorie: Beobachtungen zu einem religionstheoretischen Zentralbegriff
- Die Kommunikation mit dem Heiligen: Rudolf Ottos Interpretation der Bhagavadgita
- Die Religion, das Heilige und die Kultur. Zur dialektischen Dynamik von Sakralität und Kulturalität der Existenz als genuinem Thema authentischer Religion
- Das Heilige mit vielen Namen: Nächstenliebe als Grundlage der religiösen Toleranz
- Zu den Autorinnen und den Autoren
← 6 | 7 → Einleitung: Das Heilige als Problem der gegenwärtigen Religionswissenschaft
Die Diskussion um das Heilige gehört ohne Zweifel zu den interessantesten und facettenreichsten Debatten in der Religionsforschung, die gerade in jüngster Zeit wieder an Aktualität und Brisanz gewonnen hat.1 Die Kategorie des Heiligen ist insbesondere nach dem cultural turn in der Religionswissenschaft umstritten. Allerdings sprechen die nach wie vor andauernden Versuche, diese Kategorie zu politisieren, soziologisieren, ontologisieren, psychologisieren, oder sie gar ganz aus dem religionswissenschaftlichen Diskurs zu verbannen, für die bleibende Bedeutung dieses in der Religionswissenschaft offenbar voreilig verabschiedeten Begriffs.
Diese heute in einem veränderten interkulturellen Kontext geführte Debatte ist gerade im Zeitalter nicht nur freundlicher Begegnungen der Religionen besonders wichtig, weil sie einen Beitrag zu größerer religiöser und weltanschaulicher Toleranz und zur Pluralitätsfähigkeit leisten kann, ohne sich fremden Vorverständnissen vom Heiligen und vom Menschen kritiklos zu unterwerfen. Während viele deutsche Religionswissenschaftler, vielleicht voreilig, die Diskussion um das Heilige bereits für beendet erklärt haben, ist diese Debatte, insbesondere um die Zentralgestalten Rudolf Otto und Mircea Eliade, vor allem in Südamerika, in Osteuropa, in Ostasien und in geringerem Maße auch im angelsächsischen Raum, erneut aufgebrochen.2 Es ist der im Rahmen der Religionsphänomenologie entwickelte Begriff des Heiligen, mit dessen Hilfe sich nach Perry Schmidt-Leukel das zumeist religionskritische Argument der unversöhnlichen Vielfalt der Religionen entkräften lässt.3 Im vorliegenden Sammelband wird auch der Frage nachgegangen, ob der westlich-christliche Begriff des Heiligen interkulturell und interreligiös verallgemeinerbar ist. Welche Gründe sprechen für oder gegen die Annahme eines weiten Heiligkeitsverständnisses als einer unergründlichen und unverfügbaren, nicht-profanen Tiefendimension der Wirklichkeit? Ist heute nicht neben den in der Regel religionskritischen naturalistischen Erklärungsversuchen angesichts des veränderten religionspluralistischen Kontextes auch ein religionsimmanenter Erklärungsversuch von Religion notwendig, der nicht ausschließlich an den Standpunkt einer einzigen religiösen Tradition gebunden ist und der daher an unterschiedliche religiöse Perspektiven anschlussfähig bleibt?
Es ist die religionsphänomenologische Betrachtungsweise, die nach wie vor den Forschungszugang zu einer religionsübergreifenden Innenperspektive auf der Grundlage des Begriffs des Heiligen offenhalten will. Der heutige interreligiöse Kontext, insbesondere die von Vorurteilen geprägte Islam-Diskussion, spricht für den von der Religionsphänomenologie nie aufgegebenen Versuch, im Sinne einer ← 7 | 8 → Differenzhermeneutik nicht nur die unterschiedlichen Denkformen, sondern auch die unterschiedlichen Gefühle der religiösen Menschen besser zu verstehen.4 Noch immer wissen die Menschen in den verschiedenen Kulturen viel zu wenig voneinander, weshalb immer wieder von neuem Missverständnisse entstehen. Trotz des Wissens um die bleibenden Differenzen sollte es ein vorrangiges Ziel der Religionswissenschaft sein, einen aufklärerischen Beitrag zur Überwindung von religiösen Vorurteilen über das Fremde durch die Betonung des nach Otto ehrfurchtgebietenden und faszinierenden Heiligen als eines allen Religionen gemeinsamen, toleranzermöglichenden Bezugspunktes zu leisten. Durch diese kulturübergreifende Anerkennung der Dimension des Heiligen bewahrt sich der Mensch die Ehrfurcht vor der Unergründlichkeit der Wirklichkeit. Auf diese Weise kann die Reduzierung von authentischer Religion auf eine transzendenzverschlossene, auf Eindeutigkeit und Ausschließlichkeit zielende politische Ideologie verhindert werden.
Dieser Sammelband enthält ausgewählte Beiträge, die auf dem Panel „Das Heilige als Problem in der Religionswissenschaft: Fragen und Perspektiven“ der 31. Jahrestagung der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft in Göttingen im September 2013 und auf dem Symposium „Die Diskussion um das Heilige: alte Fragen – neue Antworten“ an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main im November 2013 präsentiert und diskutiert wurden. Die in alphabetischer Reihenfolge erscheinenden Beiträge können in drei grobe Themenbereiche, die alle um die Kategorie des Heiligen kreisen, eingeteilt werden, deren erkenntnisleitende Fragestellungen folgendermaßen formuliert werden können:
Als erstes wären die speziell Rudolf Otto gewidmeten Beiträge zu nennen, die sich mit den Werken des Gründervaters der Erlebnistheorie des Heiligen auseinandersetzen, gängige Missverständnisse ausräumen und für die bleibende Relevanz seines Ansatzes argumentieren (Roderich Barth, Marianne Schröter, Vladislav Serikov).
Zweitens wird in Beiträgen einer angewandten Religionswissenschaft die Kategorie des Heiligen im Kontext konkreter kulturhistorischer, empirischer und religions-phänomenologischer Untersuchungen diskutiert (Sven Lichtenecker, Martin Mittwede, Natalia Diefenbach).
Einen dritten Themenschwerpunkt bilden schließlich die theoretischen Beiträge, die für eine notwendige Beibehaltung der phänomenologischen Kategorie des Heiligen argumentieren und die Möglichkeit einer theoretischen Weiterführung bzw. Erneuerung diskutieren oder eigene Theorien entwerfen (Wolfgang Gantke, Perry Schmidt-Leukel, William Schmidt, Edmund Weber, Hamid Reza Yousefi).
Roderich Barth (Gießen) wendet sich in seinem Beitrag ‚Wer das nicht kann, ist gebeten nicht weiter zu lesen‘ – Otto als Paradigma einer unzeitgemäßen Methodologie? direkt der Entstehung der verschiedenen Aspekte der Methodologie Rudolf Ottos zu. Es werden Einflüsse Luthers, Schleiermachers, Kants, Fries‘ und Wundts auf Ottos Werk nachgewiesen. Das berühmte obige Zitat Ottos, das viele Religionswissenschaftler heute noch irritiert, darf, wie Barth aufzuzeigen vermag, nicht davon ablenken, dass es Otto nicht um ein exklusiv für den wissenschaftlichen Zugang zu Religionen reserviertes Programm geht, sondern grundsätzlich auch um die für andere Gebiete des kulturellen Lebens, wie etwa Moral und Kunst, einschlägige Frage ← 8 | 9 → nach dem epistemologischen Status von Wertbewusstsein und der dementsprechenden Verschränkung der Innen- und Außenperspektive in der Zugangsweise zu religiösen Werten.
Natalia Diefenbach (Frankfurt am Main) befasst sich mit dem Thema Der Menschenkörper und das Heilige. Unter Bezug auf zahlreiches visuelles Material aus verschiedenen religiösen Traditionen gelingt es ihr zu zeigen, wie eng das Heilige als religiöses Phänomen mit der menschlichen Körperlichkeit im religionshistorischen Kontext verbunden ist. Wenn Körperlichkeit eine Voraussetzung für die Wahrnehmung des Heiligen in der sinnlichen Welt ist, so dokumentieren umgekehrt kultische Darstellungen des Körpers im religiösen Kontext unterschiedliche Manifestationen bzw. Aspekte des Heiligen. Diefenbach unternimmt eine religionsphänomenologische Kategorisierung dieser Manifestationen und arbeitet die Kategorien des imaginären, des natürlichen und des Übergangs- bzw. transzendierenden Körpers mit Subkategorien des sublimierten und des reduzierten Körpers heraus.
Wolfgang Gantke (Frankfurt am Main) vertritt in seinem Beitrag Das Problem des Heiligen vor dem Hintergrund der Krise des Naturalismus die These, dass es sich bei der einseitig naturalistischen Betrachtungsweise von Mensch und Natur trotz ihrer weltweiten Verbreitung um einen Europäismus handelt, der heute im interkulturellen Kontext relativiert werden muss. Die Anerkennung der bleibenden Realität einer nicht-naturalistisch interpretierbaren, unverfügbaren und unergründlichen Wirklichkeitsdimension erzwingt geradezu eine neue Offenheit für das umstrittene und vieldeutig interpretierbare Phänomen des Heiligen. Gantke plädiert für einen Methodenpluralismus in der Religionswissenschaft, der auch wieder die Berücksichtigung transzendenzoffener Betrachtungsweisen im Sinne der überwunden geglaubten religionsphänomenologischen Tradition erlaubt und die Grenzen der in die Krise geratenen humanegoistischen Anthropozentrik zu thematisieren gestattet.
Sven Lichtenecker (Frankfurt am Main) untersucht in seinem Beitrag Das Heilige und die Tempelstruktur unterschiedliche Strategien der Begegnung mit dem Heiligen bei nomadischen und sesshaften Kulturen. Menschen nehmen gewöhnlich an, dass die Form der Existenzweise des Heiligen denen der Menschen weitgehend entsprechen. In seinem kulturhistorischen Beitrag werden verschiedene kulturelle Formen der Kontaktaufnahme mit dem Heiligen in nomadischen Opferritualen und in Tempelritualen religionsvergleichend thematisiert und ausführlich diskutiert. Lichtenecker zeigt auf, wie sakrale Architektur und Rituale unterschiedlicher Religionskulturen die Strukturen des Kosmos abbilden und so eine Verbindung zum Heiligen herzustellen vermögen.
Martin Mittwede (Frankfurt am Main) geht in seinem Beitrag Die heilige Transzendenz und empirische Forschung: Überlegungen und Perspektiven auf die neueren neurophysiologischen Untersuchungen transpersonaler Bewusstseinszustände, die von den betroffenen Subjekten als religiöse Erfahrung gedeutet werden, ein. Mittwede ist der Ansicht, dass die gegenwärtige Religionswissenschaft vor der Herausforderung steht, sich mit diesen empirischen Untersuchungen befassen zu müssen. Er fragt nach erkenntnistheoretischen Modellen, die eine klare Differenzierung zwischen empirischem Befund und dessen Deutung ermöglichen sollen.
Perry Schmidt-Leukel (Münster) setzt sich in seinem Beitrag Die Bedeutung des „Heiligen“ für die Erklärung von Religion mit den auf Joachim Wach zurückgehenden zwei verschiedenen Wegen der Erklärung von Religion auseinander: (a) die naturalistische Erklärung durch Rückführung auf ausschließlich innerweltlich gegebene ← 9 | 10 → Gründe und Ursachen und (b) die religiöse Erklärung durch Rückführung auf von den Religionen selbst angenommene transzendente Gründe und Ursachen. Der religionsphänomenologische Ansatz wird als eine quasi religionsübergreifende Innenperspektive (méthexis) gedeutet, wobei der Kategorie des Heiligen als einem allen Religionen gemeinsamen Bezugspunkt eine zentrale Rolle zukommt. Schmidt-Leukel argumentiert für die bleibende Berechtigung dieses Ansatzes und befasst sich sodann mit einigen zeitgenössischen Weiterentwicklungen der religiösen kulturübergreifenden Erklärung von Religion.
William Schmidt (Moskau) verbindet in seinem religionsphilosophischen Beitrag Das Heilige als Phänomen des Seins: Ontologie und Ideologie epistemologische und ontologische Fragestellungen. Er sieht das Heilige als Kernwert eines jeden „Weltbildes“, das durch den Menschen als ein dialektisch organisiertes Komplex normativ reproduziert wird, und setzt sich in dieser Perspektive mit dem aktuell viel diskutierten Thema der Beziehung zwischen dem Religiösen und dem Säkularen im postsäkularen Zeitalter auseinander. Seiner Auslegung zufolge handelt es sich bei der Gegenüberstellung von Religiösem und Säkularem um spezifisch neuzeitliche Simulacra der ursprünglich christlich-theologischen Ausdifferenzierung des Heiligen aus dem Profanen bzw. der Kirche aus der Welt. Schmidt thematisiert das Heilige („das Sakrale“) als Wert, der sich historisch auf verschiedene Weise manifestiert bzw. konstituiert und gibt einen Einblick in den gegenwärtigen religionswissenschaftlichen Fachdiskurs in Russland, wo Religionsphilosophie als Teildisziplin der Religionswissenschaft gilt neben Religionsgeschichte, Religionssoziologie, Religionspsychologie und Religionsethnologie.
In ihrem Beitrag Das Numinose als Kategorie: Beobachtungen zu einem religionstheoretischen Zentralbegriff thematisiert Marianne Schröter (Halle-Wittenberg) das Numinose als den spezifischen Kern des Heiligen bei Rudolf Otto. Sie analysiert den Konstitutionsvorgang eines numinosen Objekts und arbeitet dabei die „Transrationalität“ der Kategorie des Numinosen heraus. Nach ihrer hermeneutisch fundierten Auslegung Ottos ist ein Objekt nicht numinos „an sich“, sondern wenn es als solches durch das Grundgefühl des Numinosen gedeutet wird. Schröter ist der Ansicht, dass die verbreitete substantialistische Lesart des Konstitutionsprinzips des Religiösen ein Missverständnis ist und den Intentionen Rudolf Ottos nicht entspricht.
Vladislav Serikov (Frankfurt am Main) argumentiert in seinem Beitrag Kommunikation mit dem Heiligen: Rudolf Ottos Interpretation der Bhagavadgita für die bleibende religionswissenschaftliche Relevanz von Ottos Interpretation der Bhagavadgita. Er geht auf Ottos literarische Kritik der Bhagavadgita ein und zeigt auf, dass die gegen Otto häufig erhobenen Vorwürfe des Ahistorismus einer Korrektur bedürfen. Serikov diskutiert die Auffassung der Ur-Bhagavad-Gītā als einer numinosen Erfahrung vor dem Hintergrund von Ottos Religionstheorie des Numinosen und moderner Emotionstheorien.
Edmund Weber (Frankfurt am Main) skizziert in seinem Beitrag Die Religion, das Heilige und die Kultur. Zur dialektischen Dynamik von Sakralität und Kulturalität der Existenz als genuinem Thema authentischer Religion eine dialektische Religionstheorie, für die die Unterscheidung von unbestimmbarem Existenzgrund (traditionell das Heilige genannt) und bestimmbarer Existenzgestaltung (traditionell Kultur genannt) ausschlaggebend ist. Die wahre Identität des Geistes liegt somit in der Transzendierung der Gestaltungen seiner selbst. Authentische Religion wird von Weber als der innere Prozeß der Wahrnehmung der dialektischen Beziehung von Grund und ← 10 | 11 → Gestaltung der Existenz verstanden, der sich als Religionskultur kontemporär und kontextuell vergegenständlicht.
Details
- Seiten
- 143
- Erscheinungsjahr
- 2015
- ISBN (PDF)
- 9783653044294
- ISBN (MOBI)
- 9783653982114
- ISBN (ePUB)
- 9783653982121
- ISBN (Paperback)
- 9783631654002
- DOI
- 10.3726/978-3-653-04429-4
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Mai)
- Schlagworte
- Religionsphänomenologie Hermeneutik Heilige Rudolf Ottos Methodologie
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 143 S.